ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

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Fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.

Confessiones 1,1

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.

Bekenntnisse 1,1

Dupont, Anthony: Gratia in Augustine’s Sermones ad Populum during the Pelagian Controversy. Do Different Contexts Furnish Different Insights? (Brill’s Series in Church History, 59). Leiden; Boston: Brill 2013. XII, 683 S. ISBN 978-90-04-23157-3

Augustins Gnadenlehre präsentierte sich in der langen Forschungsgeschichte meist als ein unbezwingbar erscheinendes und nur schwer zu kartographierendes Massiv, an dessen Unübersichtlichkeit und Schroffheit, an dessen Höhen und Abgründen so manche geisteswissenschaftliche Expedition scheiterte, die ausgezogen war, das Gesamt dieses Gebirges ein für alle Mal zu vermessen. In den letzten Jahrzehnten mehren sich indes die Erkundungen, die sich dem theologischen Urgestein mit weniger hybriden Ambitionen, dafür aber mit verfeinerter Ausrüstung nähern und damit offenbar mehr Erfolg haben, ihre – wenn auch bescheideneren – Etappenziele zu erreichen. Das Novum dieser neueren Expeditionen besteht nicht nur darin, sich lediglich ausgewählten Teilbereichen des Massivs zuzuwenden, sondern in einem tiefergreifenden Paradigmenwechsel, dem zufolge man von der augustinischen Gnadenlehre nicht mehr in der Metaphorik eines ‹Bergmassivs›, sondern vielmehr im Sprachspiel eines ‹Organismus› sprechen sollte. Ein solcherart verändertes Objektverständnis manifestiert sich vor allem in der veränderten wissenschaftlichen Methode: etliche neuere Studien widmen sich vermehrt der zeitlich erstreckten und geschichtlich entfalteten Entwicklung der Gnadenlehre des ‹doctor gratiae› (dafür wegweisend die einschlägige Monographie von V.H. Drecoll aus dem Jahr 1999) und/oder fragen nach der Funktion eines einzelnen ‹Organs› (einer bestimmten Schrift oder eines bestimmten Theologumenons) innerhalb des ‹Gesamtorganismus›, ja darüber hinaus nach dem ‹Sitz im Leben› dieser oder jener einschlägigen Aussage oder Formulierung. Es geht, wissenschaftstheoretisch gesprochen, nicht mehr nur um die ‹Hermeneutik›, sondern auch um die ‹Analytik› und vor allem um die ‹Pragmatik› der augustinischen Äußerungen zur Gnadenthematik.

Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen können wir die Monographie von Dupont als ein Paradestück der neueren Augustinus-Forschung begreifen – und im großen und ganzen auch begrüßen. Die von den Augustinus-Spezialisten Lamberigts und Partoens betreute Dissertation verrät bereits im Titel ihr Programm und dessen Spezifik: Erhebung, Auswertung und Interpretation der ‹Gnadenlehre› Augustins innerhalb des Objektbereichs der ‹sermones ad populum› zur Zeit der Auseinandersetzung des Bischofs mit dem ‹Pelagianismus›, und zwar speziell unter der Leitfrage nach dem Verhältnis von ‹Texten› und situativen ‹Kon-Texten›. Freilich erweist sich allein schon die Abgrenzung und Konstituierung des Untersuchungsmaterials als nicht ganz unproblematisch. Vermag man die Zeitspanne der ‹Pelagian controversy› noch hinreichend scharf zu bestimmen sowie den Block zumindest der überlieferten ‹sermones ad populum› noch einigermaßen sicher zu umreißen, so kommt doch eine weitere beschränkende Definition in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand nicht ganz ohne arbiträre Setzung aus: die Unterscheidung von ‹gnadentheologischen›, ‹implizit oder gemischt gnadentheologischen› und ‹nicht gnadentheologischen› Predigten der antipelagianischen Epoche (siehe S. 74-93, besonders 80). Insofern das Kriterium, ob Augustinus in den in Frage stehenden Predigten ausdrücklich die Pelagianer anspricht, sich zur Gegenstandskonstituierung als gänzlich ungeeignet erweist – eine solche explizite Nennung ist nur extrem selten der Fall –, und das Kriterium, ob der Prediger in diesem oder jenen ‹sermo› massiert den Terminus ‹gratia› verwendet, für eine solche Konstituierung zumindest nicht ausreicht, setzt Dupont letztlich einen gewissen subjektiven und normativen Begriff dessen voraus, was er für augustinische ‹Gnadenlehre› hält, um die ‹gnadentheologisch-antipelagianischen› ‹sermones ad populum› abzugrenzen und ihre Charakteristik zu erhellen: Eine gewisse Zirkularität des Verfahrens liegt dabei auf der Hand, wiewohl der methodisch hochreflektierte Verfasser sich dieser Zirkularität durchaus bewusst ist, sie jedoch in Kauf nimmt und, so muss man ihm attestieren, recht produktiv mit diesem ‹hermeneutischen Zirkel› zu arbeiten versteht.

Gleichwohl erscheint der häufige Vergleich der ‹gnadentheologisch-antipelagianischen› mit den ‹nicht gnadentheologisch-antipelagianischen› ‹sermones› aus jener Zeitspanne bisweilen allzu spekulativ, obwohl – bzw. gerade weil – der Verfasser sehr detailbezogen argumentiert, sowohl was bestimmte inhaltliche und sprachliche Beobachtungen als auch was den ‹Sitz im Leben› einer jeweiligen Predigt (wann, wo, zu welchem Anlass, nach welcher Lesung, vor welchem Publikum gehalten) betrifft. Hier wagt sich Dupont – wenngleich sehr kenntnisreich (opulente Fußnoten!), klug und virtuos – allzu tief hinein in den fallenreichen Dschungel der diesbezüglichen Datierungs- und Lokalisierungsversuche: Angesichts der Kontingenz und Unsicherheit von Entstehungshintergründen, inneren und äußeren Umständen sowie Überlieferungsbedingungen (lediglich ca. ein Zehntel ist uns erhalten) der augustinischen ‹sermones ad populum› wächst bei derlei kleinteiligen Textvergleichen die Gefahr von substanzarmen Spekulationen (man fühlt sich an die Methodik P.-M. Homberts erinnert) – nicht umsonst verwendet der Verfasser in solchen Zusammenhängen häufig die Kautelen ‹perhaps›, ‹probably›, ‹might be›, ‹would seem› etc. (siehe z.B. ‹Conclusion› S. 292-296)!

Überaus valide und hochinteressante Ergebnisse zeitigt indes der Vergleich der ‹gnadentheologisch-antipelagianischen› Predigten mit den ‹gnadentheologisch-antipelagianischen› Werken derselben Zeitspanne. Wie Dupont des öfteren selbstbewusst, aber durchaus zu recht, feststellt, vermag seine Studie erstmals in aller Breite und Klarheit nachzuweisen, dass Augustinus in seinen Ansprachen keineswegs die Grundpositionen seiner Gnadenlehre situativ zur Disposition stellt oder auch nur aufweicht, wohl aber, letztlich aus pastoralen Gründen, durchaus andere thematische, topologische, exegetische, sprachliche und sprachpragmatische Akzente setzt als in seinen systematischen Schriften.

Methodisch konkret durchgeführt werden Duponts Untersuchungen und Vergleiche anhand von vier repräsentativen gnadentheologischen Motiv-Blöcken bei Augustinus: (1) ‹fides› (Glaube); (2) ‹baptismus paruulorum› (Kindertaufe); (3) ‹oratio (dominica)› (Gebet, besonders Vater-unser); (4) Sündhaftigkeit (als Kulminationsgröße der Blöcke 1-3). Innerhalb dieser Großkapitel setzt die Studie im allgemeinen jeweils vier analoge Arbeitsschritte: (a) Forschungsstand zum jeweiligen Motiv; (b) das Motiv in ausgewählten ‹gnadentheologisch-antipelagianischen› Predigten; (c) das Motiv im Gesamt der ‹gnadentheologisch-antipelagianischen› Predigten; (d) motivbezogene Bibelzitate und deren Exegese im Vergleich der unter b) bzw. c) betrachteten Predigten. In einem umfangreichen Eingangskapitel stellt Dupont zunächst seinen methodischen Ansatz, einige wichtige inhaltliche Definitionen sowie Überblicke über den ‹status quaestionis› in den Themenfeldern ‹sermones ad populum›, ‹gratia› und ‹Pelagianismus› vor, wobei der Verfasser sich auf allen Feldern recht ordentlich bewandert zeigt; angesichts der Weite dieser Felder vermag es freilich nicht zu verwundern, dass er trotz immenser Sekundärliteraturkenntnisse gleichwohl häufig mit Lexikon- und Handbuchverweisen arbeitet und argumentiert. Ein Abschluss-Kapitel formuliert zu guter Letzt noch einmal die ‹Conclusion› der Untersuchung und dokumentiert erneut deren durchgängig hohe didaktische Qualität, die sich bereits in regelmäßigen Zwischenresümees wie auch in einigen luzide gestalteten Tabellen gezeigt hatte. Bedauerlich lediglich, dass Zeit und Geduld des Verfassers offenbar nicht mehr für detaillierte Register ausgereicht haben, die gerade angesichts der durchgängigen Belegdichte und der gelegentlichen Kleinteiligkeit der Studie äußerst hilfreich gewesen wären.

Insgesamt bestätigt die Arbeit von Dupont die Fruchtbarkeit des eingangs skizzierten Neuansatzes in der Augustinus-Forschung, speziell in der Gnadenlehre. Die Erhellung augustinischer Texte vor dem Hintergrund ihrer historischen und pragmatischen ‹Kon-Texte› erweist sich als überaus ertragreich, nicht zuletzt beim Bemühen, wirkliche oder vermeintliche Antinomien des augustinischen Bergmassivs – bzw. besser: des augustinischen Organismus – der ‹Gnadenlehre› besser zu verstehen und sich produktiver an ihnen abzuarbeiten.

Christof Müller

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Ersterscheinungsort dieser Rezension: Zeitschrift für Kirchengeschichte 126 (2015) 86-87

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