ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

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Fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.

Confessiones 1,1

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.

Bekenntnisse 1,1

Silke Wulf: Zeit der Musik. Vom Hören der Wahrheit in Augustinus' De Musica (Reihe: Musikphilosophie, Band 5). Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2013. 199 Seiten. ISBN: 978-3-495-48576-7. EUR [D] 29,00

Wenn die Dissertation einer Schülerin des renommierten Augustinus-Interpreten Johann Kreuzer, Philosophieprofessor in Oldenburg, über das augustinische Werk ‹De musica› mit dem Karl-Alber-Preis des ‹Philosophischen Jahrbuches› ausgezeichnet wird, dann sind damit gleich mehrere gute Gründe gegeben, sich mit dieser 2013 veröffentlichten Studie eingehender zu beschäftigen. Die Autorin Silke Wulf verfolgt in ihrer Monographie mit dem Titel ‹Zeit der Musik. Vom Hören der Wahrheit in Augustinus’ ‹De Musica›› das Programm, Augustins Frühschrift mittels phänomenologisch ausgerichteter Hermeneutik zu erschließen und zu interpretieren: in ihrem musiktheoretischen Reichtum, vor allem aber in ihrer philosophischen Tiefendimension, liege doch für deren einige Jahre zuvor zu einem neuplatonisch gefärbten Christentum konvertierten Verfasser «im Wahrnehmen von Musik nicht nur die Möglichkeit, sich seiner selbst als Interpret der eigenen Erfahrungswelt bewußt zu werden», sondern für den musischen Menschen darüber hinaus das Potential, «in der kreativen Betätigung sogar zur Einsicht der höchsten Wahrheit selbst» zu finden (S. 9). Zu Recht nimmt Wulf die Schrift ‹De musica› – unvollendeter Teil eines unvollendeten Gesamtplans, sämtliche ‹disciplinae liberales› für eine philosophisch-christliche Anagogik fruchtbar zu machen – als bislang unzureichend erschlossene ‹Fundgrube› wahr, deren Ausschöpfung in den letzten Jahren besonders durch die Neuübersetzung und Neuinterpretation der philosophisch gehaltreichen Bücher 1 und 6 aus der Feder des Musikwissenschaftlers Frank Hentschel vorangetrieben wurde. Die Autorin teilt grundsätzlich Hentschels Analyse und Deutung von ‹De musica› als eine sachgerechte und subtile, aber auch geniale und innovative Wahrnehmungs- und Musiktheorie, möchte den jungen Augustinus darüber hinaus jedoch als einen Meister einer transzendentalen Kunstphilosophie zeichnen, die in ihrer konstitutiven Berücksichtigung menschlicher Subjektivität und Kreativität ‹Spuren› setze, deren Fluchtpunkt geradewegs in die Neuzeit weise.

Zur Einlösung dieses Anspruchs setzt sich Wulf, abgesehen von ‹Einleitung› und ‹Nachklang›, in fünf Schritten – oder besser: Umkreisungen und Annäherungen – mit ‹De musica› auseinander. Auf diesen ihren Wegen kommt die Autorin den Spuren Augustins einerseits beachtlich nahe – bis hin zu feinen Beobachtungen von sprachlichen und gedanklichen Details der Musikschrift –, andererseits wahrt sie hinreichend Selbständigkeit und Abständigkeit gegenüber ihrem Erkenntnisobjekt, um nicht in den Spuren Augustins stehen oder gar stecken zu bleiben, sondern diese mit ihrem eigenen philosophischen Eros weiterzuführen – und sei es auch in eine Richtung, die Augustinus selbst nicht weiterverfolgte, vielleicht auch, so die Vermutung des Rezensenten, gar nicht weiterverfolgen wollte.

Der erste Hauptschritt der Dissertation (Kap. 2: Zeit der Musik – Augustins musica im Kontext der Zeit, S. 20-55) erhellt den engen Konnex der Musiktheorie Augustins mit seinen Zeitreflexionen sowohl in ‹De musica› als auch insbesondere in den ‹Confessiones› (Buch 11) und konturiert die Sonder- und Angelstellung der Musik innerhalb Augustins Beschäftigung mit den klassischen Wissensdisziplinen. Der zweite Schritt (Kap. 3: Das Hören der Zeit – numerikal strukturierte Differenzierung des Hörvorgangs, S. 56-76) erläutert die ‹numeri – Zahlen› als wesentliches terminologisches und strukturelles Paradigma der Musiktheorie von ‹De musica›: die dialektisch verschränkte Abfolge verschiedener gnoseologischer (und zugleich ontologischer) ‹Zahlen›-Arten – von den rein sinnenhaften Schallquantitäten und Rhythmusintervallen bis hin zu den die ästhetische Urteilskraft ermöglichenden intelligiblen Zahlen-Entitäten (‹numeri iudiciales›) – vermag laut Augustinus dem musizierend philosophierenden Subjekt den Weg von ‹außen› nach ‹innen› und von ‹unten› nach ‹oben› zu weisen, ja sogar zu vermitteln. Der interpretationsfreudige dritte Schritt (Kap. 4: Innehangen der Wahrheit – bewußtseins- und erkenntnistheoretische Hintergründe, S. 77-114) expliziert und apostrophiert besonders diesen vermittelnden Charakter der Verinnerlichungs- und Transzendenzbewegung des in zeitlicher Entfaltung (‹dimensio›) Musik gestaltenden Menschen bzw. Menschengeistes: «Die Liebe der unveränderlichen Wahrheit wird in De musica als Grund der ästhetischen Urteilskraft und zugleich als Ziel der ästhetischen Untersuchungen der Musiklehre bestimmt und in der kunstvoll tätigen Ausführung wissenschaftlich reflektierter Musikwahrnehmung gefunden. ... In der zeitlich-strukturierten Gestaltung von Musik verwirklicht sich der Gehalt der ewigen Wahrheit» (S. 18). Im vierten Schritt (Kap. 5: Aufmerksamkeit, S. 115-140) wird die Vermittlungsleistung des endlichen Geistes noch einmal in ihrer bewusstseinstheoretischen Prozessualität dargestellt, zumal als Zueinander und Ineinander von ‹attentio› und ‹intentio›; vor diesem Hintergrund wird umso plausibler der Unterschied (bei aller Strukturgleichheit) zwischen dem ‹dimensio›-Konzept von ‹De musica› (der endliche Geist verwirklicht seine schöpferische Potenz in der von ihm selbst geschaffenen ‹Zeit der Musik›) und dem ‹distentio›-Konzept von ‹Confessiones› 11 verdeutlicht (der endliche Geist erstreckt sich wie ein Musizierender in die Zeiten hinein und trägt damit zu deren Konstituierung bei, vermag jedoch aufgrund seiner Endlichkeit diese Zeiten und damit auch sein eigenes Selbst, im Gegensatz zum göttlichen Schöpfer, nicht zur Einheit zusammenzubinden) – Reflexionen, die im fünften Hauptschritt (Kap. 6: Ich will ein Lied singen – tam antiqua et tam nova, S. 141-170) geistmetaphysisch gebündelt und weitergeführt werden, und zwar im Horizont einer «Analogie zwischen göttlichem und menschlichem kreativem Geist» (S. 19).

Nach der Lektüre der hier vorgestellten Dissertation hat sich das oben erwähnte Bündel guter Gründe, sich mit dieser Veröffentlichung näher zu beschäftigen, um etliche weitere gute Gründe vermehrt. Aufbau, Durchführung, Logik, Methodik und nicht zuletzt die differenzierte und ihrem Gegenstand bisweilen nachgerade kongenial gerecht werdende Sprache der Studie machen das Lesen, das Mit-Denken und das Nach-Denken des Vorgetragenen allemal zu einem geistigen Gewinn, häufig auch zu einem ästhetischen Genuss.

Jedoch wäre ein Rezensent kein Rezensent, wenn er – bei aller Sympathie für das und die Rezensierte – aus heuristischen Gründen nicht auch in die Rolle des ‹Advocatus Diaboli› schlüpfte. Aus dieser Rolle heraus sei, wenn nicht eine ‹Anklage›, so doch eine ‹Anfrage› gegenüber der Studie erhoben, und zwar im Sprachspiel derjenigen Metaphorik, die die Verfasserin selbst für ihre Augustinus-Deutung verwendet: derjenigen der ‹Spur›. ‹De musica› wäre demnach eine von Augustinus gelegte Spur, die die/der ‹De musica› Interpretierende liest und deutet. Hieraus ergibt sich freilich die Frage nach der Deutungshoheit über die Schrift bzw., um im Sprachspiel zu bleiben, die Frage, als Spur zu welchem Ziel die Spuren von ‹De musica› denn näherhin zu lesen seien.

Um es zunächst im großen und groben Maßstab zu zeichnen: In den Augen des Rezensenten werden die Spuren von ‹De musica› in der Wulf’schen Studie zu einseitig als Spuren hin zu einer (recht vage bleibenden) Transzendentalästhetik gelesen, die an die Geist- und Kunstphilosophie des Deutschen Idealismus (ausdrücklich genannt werden Kant (S. 62) und Hegel (S. 169)) und der Romantik erinnert. Gegenüber dieser Zentralperspektive wird die Notwendigkeit oder zumindest Möglichkeit, die Spuren von ‹De musica› auch von der/den voraugustinischen Tradition(en) her zu lesen, vernachlässigt (z.B. Varro, Stoa, Neuplatonismus, aber auch Manichäismus zumindest als Kontrastfolie). Sogar einige Spuren, die Augustinus selbst noch gelegt hat – sei es in ‹De musica›, sei es in späteren Schriften, sei es in den ‹Retractationes› – und die sich nicht recht in die Fluchtlinie der am Horizont der Dissertation aufscheinenden Transzendentalästhetik einfügen wollen, werden zurückgeblendet oder hermeneutisch ‹auf Kurs› gebracht.

Bleiben wir zunächst bei ‹De musica›: Die neuplatonischen Hintergründe der Denkbewegung Augustins werden vor allem in deren ‹pantheistischen› Momenten stark gemacht (der kreative Urgrund der Wirklichkeit emaniert gleichsam notwendig in die Versinnlichung/Verzeitlichung des musizierenden Menschen, umgekehrt übersteigt der endliche Geist des Musizierenden sich im Innewerden seiner zeitbezogenen Kreativität wiederum auf seinen ureigenen transzendent-ewigen Ursprung hin; siehe u.a. S. 82, 112f., 142f. und 156), in ihren diesseits- und sinnenskeptischen Momenten aber tendenziell unterbewertet (entsprechend rezipiert die Autorin die ‹De musica›-Deutung des Plotin-Spezialisten Beierwaltes nur selektiv).

Stark apostrophiert wird die aktive Rolle des endlichen Subjekts in der Wahrheitsfindung bzw. kreativen Wahrheits-Erfindung – was sicherlich das neuplatonische Primat der erkennenden Seele gegenüber der Sinnenwelt korrekt beschreibt, jedoch nur unzureichend realisiert, dass das Verhältnis des endlichen Geistes zum transzendenten Intelligiblen letztlich als passiv-rezeptiv begriffen ist, auch schon beim jungen Augustinus. Die neuplatonische und augustinische Erkenntnis des Intelligiblen mag vom Sinnenhaften angestoßen sein, doch federt sich der aufsteigende Geist von diesem Sinnenhaften wiederum ab (‹aversio›), um sich in der ‹conversio› zum Intelligiblen von diesem ergreifen bzw. erleuchten zu lassen – die von Aristoteles und Thomas von Aquin so hoch gehaltene ‹conversio ad phantasma› ist gerade kein konstitutives Merkmal platonischer Erkenntnismetaphysik. Zuzugeben ist freilich, dass Augustinus das Sich-Abfedern des Geistes am Sinnenhaft-Zeitlichen als so intensiv und konstitutiv ansetzt, dass sein Erkenntnismodell die Grenzen des neuplatonischen Paradigmas bisweilen wenn nicht sprengt, so doch dehnt und damit eine geistesgeschichtliche Innovation setzt, die für ‹De musica› von Wulf, aber auch von Hentschel zu Recht herausgehoben wird.

Demgegenüber realisiert oder rezipiert Wulf nach Meinung des Rezensenten diejenigen Spuren in ‹De musica› 6 (siehe besonders mus. 6,1 und 6,56-59) nur unzureichend, die Augustinus einer selbstbewussten Feier der Schöpfermacht des endlichen Geistes gerade entgegenhält (siehe z.B. die stark tendenziöse Übersetzung von mus. 6,1 auf S. 34 oder die philologisch unexakte Inanspruchnahme von mus. 6,1 und retr. 1,11,4 auf S. 38). Dass die Verewigung und Vergöttlichung der Menschenseele in mus. 6,51-53 unter – wenn im Verhältnis zu späteren Schriften auch nur gelindem – ‹eschatologischem Vorbehalt› steht, wird in der Übersetzung und Interpretation (siehe S. 150) übersehen bzw. eingeschliffen. Gerade in mus. 6,1 und 6,56-59 relativiert Augustinus nicht nur den Heils-, sondern auch den Wahrheitswert der in ‹De musica› gelehrten innerweltlichen Musikreflexion, und zwar nicht nur in Bezug auf die Musiktheorie der Bücher 1-5, sondern in gewissem Maße auch in Bezug auf die Musikphilosophie von Buch 6: Während der musiktreibende und ‑reflektierende Intellektuelle den mühsamen und fallenreichen Weg des Aufstiegs aus dem Sinnlichen beschreitet, fliegt der (auch und gerade musisch und philosophisch unbegabte) religiöse Mensch, gereinigt durch die ‹caritas› und getragen von den Flügeln des Glaubens, ganz unbeschwert und ungefährdet zum Ziel der Gottesschau, die er in der eschatologischen Vollendung viel intensiver und beglückender zu erfahren vermag als jeder noch so geniale ungläubige Aufstiegsexperte.

Selbst wenn diese augustinischen ‹Spuren› auf eine sekundäre Überarbeitung zurückgehen sollten (die jedoch, anders als von Wulf veranschlagt, wohl nicht aus der Entstehungszeit von ‹De trinitate›, sondern aus weit früheren Jahren datiert und um 409 lediglich wiederentdeckt wurde), sind sie dennoch integraler Bestandteil von ‹De musica› und weisen in eine Richtung, die dem pessimistischeren Menschen-, Zeit- und Musikverständnis z.B. der ‹Confessiones› gar nicht mehr so völlig fern steht. Von daher ist es nicht erstaunlich – wenngleich aus anderen Gründen, als von Wulf vermutet (siehe S. 32-34) –, dass ‹De musica› in der kritischen Rückschau der ‹Retractationes› kaum eine inhaltliche Korrektur erfährt, sondern dass die skeptischeren Äußerungen von mus. 6,1 und 6,56-59 nochmals bekräftigt werden.

Spätestens seit der Radikalisierung seiner Gnadenlehre in ‹Ad Simplicianum› (396) und der damit einhergehenden Überzeugung, dass der Mensch nach dem Sündenfall Adams und Evas mit seiner verbogenen Natur heillos in Sinnlichkeit und Sünde verstrickt ist, hält Augustinus den ‹ascensus› über die klassischen Disziplinen und über eine abseits des christlichen Glaubens betriebene Philosophie – dies dürfte auch für die Musik(philosophie) gelten – nicht für ‹falsch›, jedoch für existentiell und soteriologisch irrelevant, ja gefährlich, da zu Hybris/‹superbia›, zum Sich-Rühmen und zur Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf verleitend. Seitdem unterscheidet Augustinus auch deutlich zwischen dem kognitiven ‹verum›, das dem weltgewandten Intellektuellen eher zugänglich sein mag als dem einfachen Gläubigen, und der göttlichen ‹ipsa veritas›, deren gnadenhafte Eingießung und voluntative Wirkung als ‹caritas› nicht ohne den demütigen Glauben an den gekreuzigten Jesus Christus möglich ist, dessen Erlösungswerk gegenüber die ‹Weisheit der Welt› zur ‹Torheit› wird, wie Augustinus mit Paulus unterstreicht. Oder um Adorno augustinisch zu variieren: Im ‹falschen Leben› der postlapsarisch korrumpierten Natur des Menschen kann es abseits des Christusglaubens keine Inseln des ‹richtigen Lebens› geben – auch nicht im Kontext musikalischer Kreativität.

Nun mag ein kunstphilosophisch denkender Mensch der Gegenwart eine solche Position als theologischen Irrweg, als ‹Spur› in ein weltanschauliches Abseits empört von sich weisen, doch gibt der Rezensent zu bedenken, dass auch derlei augustinische ‹Spuren› durchaus in die philosophische Neuzeit führen können: man denke nur an Kierkegaard und seine Polemik gegenüber der Geistphilosophie des Deutschen Idealismus, an seine Kritik des ‹ästhetischen› Menschen und nicht zuletzt an seinen die Grenze zwischen Philosophie und Theologie neu auslotenden, ganz auf der Fluchtlinie Augustins liegenden Begriff der ‹Sünde›.

Damit endet das Plädoyer des ‹Advocatus Diaboli›, und damit wechselt der Rezensent in die ihm weit sympathischere Rolle eines zur Ausgewogenheit verpflichteten Richters. Als ein solcher aber kann und will der Rezensent einer/einem jeden an der Studie von Silke Wulf Interessierten nur stets aufs Neue zuraten: ‹Tolle, lege – nimm und lies!›

Christof Müller

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