ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

2. SONNTAG NACH WEIHNACHTEN A

MUTTERHAUS DER RITASCHWESTERN, 2.1.2005

P. Cornelius Petrus Mayer OSA

Vorspann:

Ich hoffe, Sie kamen alle gut vom alten in das neue Jahre herüber und ich wünsche Ihnen und mir, dass wir im Verlauf dieses Jahres in jene Weisheit wieder ein Stück weiter eindringen, von der in unserer heutigen Lesung aus dem Alten Testament die Rede ist.

Um welche Weisheit geht es da? Nicht um jene, die wir Menschen uns über das Wissen, das wir uns im schulischen oder außerschulischen Unterricht erworben haben, auch nicht um jene, die wir über unsere Erfahrungen im Laufe eines mehr oder weniger langen Lebens gewonnen haben.

Zweifelsohne sind auch Wissen und Erfahrungen Voraussetzungen menschlicher Weisheit, sprechen wir doch zu Recht von einer Lebensweisheit.

Die Weisheit, die in unserer heutigen Liturgie gepriesen wird, ist von ganz anderer Art. Sie ist, wie wir anhand der Texte hören werden, göttlich, letztlich ist sie die Person Jesu Christi unseres Herrn.

Predigt:

Ich gebe gerne zu, dass es Christen angesichts des immensen Leides, das durch die Katastrophe des Seebebens in Südostasien über die Menschheit hereingebrochen ist, schwer fällt, an eine göttliche Weisheit zu glauben, diese gar zu preisen, diese gar zu rühmen.

Dennoch belehrt uns die Bibel dahin, dass Menschen, die angesichts solcher Katastrophen es sich versagen, Gottes Weisheit zu preisen und zu rühmen, im strikten Sinn des Wortes keine Gläubige, keine Christen sind.

«Die Tage des Menschen sind wie Gras, wie die Blume des Feldes, so blüht er. Fährt der Wind über sie, dann ist sie dahin, und ihre Stätte weiß nichts mehr von ihr», so betet der Fromme im Psalm 103,15f. Und trotzdem ermuntert der gleiche Psalmist uns im letzten Vers seines Psalms – auch angesichts schrecklicher Heimsuchungen –, nicht in eine Jeremiade auszubrechen, sondern einzustimmen in den Lobpreis, zu dem er aufruft: «Rühmt den Herrn, all seine Werke, an jeglichem Ort seiner Herrschermacht! Preise, meine Seele, den Herrn!»

Gottes Lob und Preis – immer und überall trotz verheerender Schicksalsschläge –, das ist im Sinne der Bibel echte, lautere und kernige, weil unerschütterliche Gläubigkeit!

Als am 24. August des Jahres 410 die Westgoten unter Alarich die bis dahin als ewig und zu dauerhafter Herrschaft über die ganze Welt bestimmt geltende Stadt Rom eroberten, plünderten und verwüsteten, da brachten aufgeregte Römische Politiker diese Katastrophe eilig mit dem Wechsel der Religion vom Heidentum zum Christentum in einen ursächlichen Zusammenhang.

Augustinus schrieb daraufhin seine 22 Bücher Über den Gottesstaat. Darin geht es ihm nicht zuletzt um jene Glaubenshaltung, die sich gerade in Zeiten des Schreckens, der Angst und der Tragödie im Festhalten an dem offenbarten allmächtigen, die Geschicke der Welt lenkenden Gott manifestiert.

Gleich im ersten Buch dieses seines epochalen Werkes verweist der Kirchenvater auf den biblischen Hiob und dessen Geschick. Sie kennen die Geschichte, ich brauche sie nicht zu nachzuerzählen. Eine ganze Kette von Schreckensnachrichten – wir sprechen zu Recht von Hiobsbotschaften – bricht auf den Frommen herein.

Noch redete der eine, da kam schon der andere Bote des Unglücks. Aber am Ende – und dies ist der Kern und das eigentliche Ziel dieser Erzählung, die kein geringerer als Goethe für den Gipfel der Weltliteratur hielt – heißt es: «Da erhob sich Hiob, zerriss sein Gewand, schor sein Haupt, fiel zu Erde nieder, beugte sich anbetend und sprach: ‹Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter, und nackt kehre ich dorthin zurück. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!› Bei all dem», so fügt der Erzähler hinzu, «hat Hiob nicht gesündigt und gegen Gott nichts Törichtes geäußert».

In der weiteren Erzählung dieses Buches treten Freunde Hiobs auf, die versuchen, die Ursachen für dieses namenlose Leid des davon Betroffenen zu ergründen. Indes, sie alle scheitern, denn die Tragödie des Menschseins bleibt für den Menschen undurchsichtig. Hiob jedoch – dies ist die Quintessenz des Buches – glaubt an die unergründliche Weisheit Gottes, und im tiefen Bewusstsein seiner eigenen Nichtigkeit überlässt er sich dem Allmächtigen, liefert er sich ihm aus.

«Der Anfang der Weisheit», so steht an einer anderen Stelle der Bibel, und zwar in Sirach 1,14 zu lesen, «ist die Furcht des Herrn». Diesem Buch Sirach ist unsere heutige Lesung aus dem Alten Testament entnommen.

Wie ich eingangs schon gesagt habe, ist darin nicht von der menschlichen Weisheit die Rede, sondern von der Gottes. Die Weisheit tritt in unserer Lesung in der Gestalt einer Person auf und die Liturgie will – die Wahl der Evangelienperikope aus dem Anfang des Johannesevangeliums bestätigt dies –, dass wir darunter Gottes Wort verstehen, Gottes Wort, ‹das im Anfang war und das bei Gott war›.

Die mit dem Wort Gottes identische Weisheit hat unserer Lesung zufolge einen Doppelcharakter: einen kosmischen und einen geschichtlichen.

Bleiben wir zunächst beim Kosmischen. Mit seiner Weisheit schuf Gott dieses unermessliche Universum. Denn «alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist» (Joh 1,3). Nun wissen wir heute mehr denn je, welch ungeheuere Kräfte dieses Universum immer noch gestalten.

Die Luft- und Raumfahrtbehörde der NASA veröffentlicht Tag für Tag verblüffende Bilder über das Weltall. Nicht nur die rund eine Milliarde von Sternen unserer eigenen Milchstraße und die rund eine Milliarde von Lichtstraßen, sondern das Entstehen und Vergehen, ja sogar das Kollidieren solcher Milchstraßen und das Verschwinden von Sternen, die tausendmal größer sind als unsere Sonne, sind da in prächtigen Farben zu sehen.

Sind dies Naturkatastrophen oder Bewegungen in berechenbaren Bahnen nach physikalischen Gesetzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dies alles sozusagen jenseits der Weisheit Gottes abspielt, denn ich glaube fest daran, dass Gott, wie die Bibel lehrt, die Welt in seiner Weisheit, durch sein Wort, erschaffen hat.

Gottes Weisheit manifestiert sich unserer Lesung zufolge über den Kosmos hinaus auch in der Geschichte, vorzüglich in der Geschichte seines Volkes. Denn so spricht der Schöpfer zur personifizierten Weisheit: «In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben». Und einige Verse weiter spricht diese Weisheit: «In der Stadt, die er ebenso liebt wie mich, fand ich Ruhe»; und sie fährt fort: «Jerusalem wurde mein Machtbereich. Ich fasste Wurzel bei einem ruhmreichen Volk, im Eigentum des Herrn, in seinem Erbbesitz».

Was meint Jakob? Was meint Israel? Was meint Jerusalem? Wieder ermuntert uns die Liturgie, diese alttestamentlichen Bildbegriffe im Licht unserer neutestamentlichen Evangelienperikope, die uns von der Menschwerdung des mit der Weisheit identischen Wortes Gottes kündet, zu deuten. Denn das Wort, das zugleich das Leben und das Licht der Menschen ist, dieses «wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt», sprich: kam zu Jakob, kam zu Israel, kam nach Jerusalem. Ja, er, die Mensch gewordene Weisheit, «kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf».

Auf die Frage, wie denn Gottes Weisheit über den Kosmos hinaus in der Geschichte des von ihr auserwählten Volkes wirkte, gibt es ebenfalls bedenkenswerte Antworten.

Keineswegs verlief da alles glatt. Ein ganzes Bündel von Klagen findet man in der Bibel wie z.B. im Psalm 43,10-15. «Du hast uns verworfen», klagt der Verfasser dieses Psalms, «du hast uns in Schmach gestürzt und zogst nicht mit unseren Heeren. ... Wie Schlachtschafe gabst du uns hin, zerstreutest uns unter die Völker. ... Du hast dein Volk um ein Nichts verkauft ...». Gewiss sind die Siege Israels Gottes Tat, aber auch die Niederlagen und die Schmach, die er seinem Volk zumutet, gehören der Bibel zufolge zu seinem Plan, zu seiner Vorsehung.

Ja, das Geschick Jesu, des Mensch gewordenen Wortes selbst, spricht es nicht Bände? Unser Alttestamentler Prof. Josef Ziegler vertrat die Auffassung, Jesus habe am Kreuz nicht nur den ersten Vers des Psalms 21, «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», sondern den ganzen Psalm, der die Erfahrung der Gottverlassenheit in einer geradezu beispiellos leidenschaftlichen Sprache artikuliert, gebetet: «Hunde umringen mich, eine Rotte von Frevlern umgibt mich. Sie zerreißen mir Hände und Füße. Alle meine Knochen kann ich zählen. Sie blicken her und schauen gierig auf mich» (Vers 17f.)

Gehört zur christlichen Weltanschauung und Gläubigkeit nicht auch das Kreuz? In der Zeit nach der so genannten Konstantinischen Wende, also nach 313, als das Christentum Staatsreligion im Römerreich geworden ist, gab es Theologen, die allen Ernstes meinten, nun könne die Gottesherrschaft, die Jesus ankündigte, bereits hier auf Erden verwirklicht werden.

Um diesen Irrtum zu widerlegen, schrieb Augustinus sein schon erwähntes Werk Über den Gottesstaat. Darin legt er unmissverständlich den Unterschied zwischen der ersten Ankunft Christi im Fleisch und der seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten dar.

Steht nicht im Römerbrief, fragt Augustinus, «dass die Leiden dieser Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll?» Und: «ist die Schöpfung nicht der Vergänglichkeit unterworfen?» Und: «gab er ihr nicht auch die Hoffnung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit zu werden?» Und: «seufzt die gesamte Schöpfung nicht bis zum heutigen Tag, weil sie in Geburtswehen liegt?»

Und ist im Neuen Testament nicht von einer neuen Schöpfung die Rede? Steht da im Ersten Korintherbrief, Kapitel 15 nicht in Bezug auf das Ende zu lesen: Christus, Gottes Wort, Gottes Weisheit, werde, «wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat, seine Herrschaft Gott dem Vater übergeben, ... damit Gott über alles in allem herrsche?»

Die Bibel, so sagte ich einleitend, belehre uns dahin, dass Gottes Weisheit von uns immer und überall, also auch in Zeiten und Orten der Katastrophen zu preisen ist.

Im Gloria, dem Lob- und Bittgesang in der heiligen Messe, dessen älteste Textbestände in das zweite Jahrhundert zurückgehen, werden wir nicht deshalb zum Lob und Dank angehalten, weil es uns gut geht. Nein, eine solche Gebetshaltung lag den Christen der frühen Kirche fern. Vielmehr heißt es dort schlicht und einfach: «Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an, wir rühmen dich und danken dir, ob deiner großen Herrlichkeit».

Herrlichkeit, das versteht sich im Hinblick auf den Schlusssatz unserer Evangelienperikope von selbst, bezieht sich auf Gottes Wort, auf Gottes Weisheit, auf den Christus. Deshalb endet auch das Gloria mit dem Bekenntnis: «Denn du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste: Jesus Christus, mit dem Heiligen Geist, zur Ehre Gottes des Vaters. Amen».