ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Die Eucharistielehre des heiligen Augustinus von Hippo ist auch ökumenisch wegweisend

Ein Beitrag für die überregionale katholische Zeitung Die Tagespost vom 18.01.2011. Von Christof Müller

Die Eucharistie, zusammen mit der Taufe Herzstück sakramentalen christlichen Lebens, leidet im zeitgenössischen Katholizismus Europas vielerorts an sklerotischer Auszehrung. Dass dieses lebenswichtige Organ des kirchlichen Organismus gegenwärtig an Vitalität und Schubkraft verliert, liegt sicherlich zum einen in der Schwäche der „Angebotsseite“, dem flagranten Priestermangel, begründet, zum anderen jedoch ebenso im fortschreitenden Schwund der „Nachfrage“, sinnenfällig im rückläufigen Gottesdienstbesuch: Offenbar scheint dieses kirchliche „Realsymbol“ zurzeit nicht mehr diejenige Aufmerksamkeit, ja Faszination auslösen und binden zu können, die ihm über Jahrhunderte zukam, und das ausgerechnet in einer Zeit, die für alles mögliche – und unmögliche – an Symbolik mehr als aufgeschlossen ist.

Möchte Kirche ihre Symbolkompetenz im Bereich der Sakramente wiederbeleben, leistet neben der Analyse der „Zeichen der Zeit“ sicherlich auch die Rückbesinnung auf ihre Theologiegeschichte wertvolle Dienste: und hierbei nicht zuletzt auf denjenigen Kirchenvater, dessen Eucharistieverständnis aus den geistigen, geistlichen und rituellen Traditionen seiner Epoche schöpfte und seinerseits traditionsbildend wirkte – und zwar in einem Maße und in einer Vielschichtigkeit, dass selbst einander befehdende Schulen (unter anderen „katholische Realisten“ und „reformierte Symbolisten“) sich jeweils mit Versatzstücken aus seiner Sakramententheologie ausrüsteten: Augustinus von Hippo (354–430). Der Kirchenvater selbst hatte es nämlich vermocht, die unterschiedlichen Facetten seines Eucharistieverständnisses in einer spannungsreichen Synthese zu verbinden (und sich damit als eine Grundlage für den interkonfessionellen Dialog zu empfehlen), wie gerade dieses Verbindende auch in inhaltlicher Hinsicht als das Proprium seiner Lehre vom „sacramentum corporis et sanguinis Christi“ gelten kann.

Sakramente sind für Augustinus heilige Zeichen, welche die Gläubigen auf die Heilswirklichkeit verweisen und sie sogleich mit dieser verbinden. Die vom „Zeichen“ bezeichnete „Sache“ ist im Falle der Eucharistie Christus, und zwar der ganze Christus als Einheit von Haupt und Gliedern, wie der Kirchenvater insbesondere mit Bezug auf den Ersten Korintherbrief und den Epheserbrief unterstreicht. Im Vollzug der Eucharistie erfährt die Verbindung der Kirche mit ihrem verherrlichten Haupt ihre Ratifizierung, Bestätigung und Verdichtung. „Jenes Brot, das ihr auf dem Altar seht ..., ist der Leib Christi. Jener Kelch ... ist das Blut Christi. Durch beides wollte Christus, der Herr, uns seinen Leib und sein Blut, das er für uns zur Vergebung der Sünden vergossen hat, anvertrauen“ (Sermo 227). „Indem ihr von Christus das Leben erhaltet, seid ihr ein Leib mit ihm. Denn nicht so bedeutet dieses Geheimnis das Fleisch Christi, dass es euch davon trenne. Der Apostel (Paulus) erwähnt, dass dies in der Schrift vorausgesagt sei: ,Die beiden werden in einem Fleisch sein‘“ (Sermo Denis 3, 4 mit Bezug auf den Epheserbrief 5, 31f.). In und mit der Feier der Eucharistie ist Christus also in seiner Kirche real gegenwärtig und assimiliert die Gläubigen in seinen mystischen Auferstehungsleib. „Indem ihr in ihm das Leben erhaltet, seid ihr in einem Fleische mit ihm“ (Sermo Denis 3, 4).
Eucharistisches Ethos heißt nicht Werkgerechtigkeit

Die Gemeinschaft des ganzen Christus impliziert auch innige Verbindung der Glieder des Leibes untereinander, wobei die verbindende Liebe freilich durch das Haupt gestiftet und gewährleistet wird. Die Eucharistie ist der innigste Ausdruck und Vollzug dieser Liebe des ganzen Christus zu sich selbst, wie Augustinus des öfteren mit Verweis auf den ersten Korintherbrief 10, 17 ausführt: „Ein einziges Brot, ein einziger Leib sind wir, die vielen“ (Sermo 227).

Gerade in seinen Predigten stellt der mit seiner Gemeinde Eucharistie feiernde Kirchenvater die Symbolträchtigkeit von Brot und Wein im Blick auf die kirchliche Gemeinschaft heraus, verbinden sich doch die vielen Körner in dem einen Brot und die vielen Trauben in dem einen Wein. Der begnadete Rhetor gießt sein Eucharistieverständnis bisweilen in geradezu mystische Formeln: „Manducate vinculum vestrum – Esst euer Verbindungsband!“ (Sermo Denis 3, 3). Für Häretiker und Schismatiker hingegen bleibt die Eucharistie wirkungslos, insofern diese sich selbst außerhalb des Leibes Christi platzieren und willentlich aus dessen Liebeseinheit ausscheiden. Die von Augustinus unterstrichene Communio-Dimension dieses Sakraments wurde in der nachaugustinischen Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte der katholischen Kirche häufig vernachlässigt, bis sie im zwanzigsten Jahrhundert wieder in den Vordergrund rückte und im Zweiten Vatikanum sogar lehramtlich festgeschrieben wurde: So charakterisiert zum Beispiel Lumen gentium 11 die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens, insofern sie das Sakrament der Einheit des Volkes Gottes ist, die durch sie bezeichnet wie auch bewirkt wird.

Damit klingt zugleich schon die augustinische Verbindung von Eucharistie und Ethos an. „Wer das Geheimnis der Einheit empfängt und das Band des Friedens nicht aufrechterhält, der empfängt das Geheimnis nicht für sich, sondern das Zeugnis gegen sich“ (Sermo 272). Auch in diesem Sinnkontext interpretiert Augustinus das sakramentale Element allegorisch aus: Das eucharistische Brot wird „gebacken“ aus dem „Wasser der Taufe“ und aus dem „Feuer der Liebe“, der „Glut“ des Heiligen Geistes (vgl. Sermo 227). Daher gehören für ihn Liturgie und Diakonie, gehören Ritus und Ethos in der Eucharistie zusammen: „Wie sich dies Band der Einheit umwandelt in euch, wenn ihr es esst und trinkt, so wandelt ihr euch um in Christi Leib, wenn ihr fromm und folgsam wandelt“ (Sermo Denis 3, 3).

Eucharistisches Ethos heißt für den Lehrer der Gnade indes selbstredend nicht Werkgerechtigkeit, sondern gelebte Ortho-Praxis aus lebendiger Ortho-Doxie heraus: „Löst euch nicht wieder auf, esst das Band eurer Einheit; erkennt eure Würde, trinkt euren Preis“ (ebd.). „Ihr antwortet ,Amen‘ zu dem, was ihr selbst seid, und unterschreibt es durch diese Antwort. Du hörst: ,Leib Christi‘ und antwortest: ,Amen‘. Sei ein Glied am Leibe Christi, auf dass dein ,Amen‘ wahr sei“ (Sermo 272).

Gemäß der augustinischen Intention spiegelt das „Sollen“ der Christen ihr christusgeschenktes, gnadenhaftes „Sein“ als Glieder des vom „Feuer der Liebe“ zusammengeschweißten „totus Christus“. „Die Eucharistie ist somit unser tägliches Brot. Allerdings ist sie es nur, wenn wir sie auch mit dem Geist und nicht allein mit dem Magen empfangen“ (Sermo 57, 7).

Für Augustinus ist das Geschehen der Eucharistie kein bloßes, abstraktes Verweisen auf eine ganz andere Wirklichkeit, ebenso wenig aber ein material-magischer Vorgang; vielmehr werden die materiellen Elemente von Brot und Wein erst durch das Hinzutreten des geistig-geistlichen Heilswortes zu heiligen Zeichen und zum Sakrament, gleichsam einem sichtbaren Wort (in: Iohannis evangelium tractatus 80, 3; vgl. Sermo 229, 3). „Das, was du siehst, vergeht, aber das, was es bezeichnet, das Unsichtbare, das vergeht nicht, es bleibt bestehen“ (Sermo 227).
Die eigentliche Pointe der eucharistischen Realsymbolik Augustins liegt nun darin, dass er über das sakramentale Zeichen Zeichengeber, Zeichenempfänger und Bezeichnetes identifiziert: „Diese Dinge heißen Sakramente, weil in ihnen etwas anderes mit den Augen gesehen, etwas anderes mit dem Geiste verstanden wird. Wenn du den Leib Christi verstehen willst, so höre den Apostel ...: ,Ihr aber seid der Leib Christi und seine Glieder‘. Wenn ihr also der Leib Christi und seine Glieder seid, so liegt euer eigenes Mysterium auf dem Tische des Herrn. Euer eigenes Mysterium empfanget ihr ... Seid, was ihr seht, und empfanget, was ihr seid“ (Sermo 272). Die Opfergabe auf dem Altar ist „Zeichen einer Sache, die wir selbst sind“ (Sermo 227). In solcherlei (häufigen) dialektischen und dialektisch gekonnten Formulierungen bringt der Kirchenvater in paradigmatischer Deutlichkeit und Nachdrücklichkeit das Wesen der Eucharistie als Selbstvollzug der Kirche zum Ausdruck: Kirche als Einheit des ganzen Leibes des auferweckten Christus. „Empfangt es (das Sakrament) also so, dass ihr es auf euch selbst bezieht, dass ihr die Einheit im Herz habt und das Herz stets nach oben heftet“ (ebd.). Diese zugleich existenziale wie ekklesiale Interpretation von Eucharistie durch Augustinus gehört wohl zum Originellsten wie auch Wertvollsten seines sakramententheologischen Vermächtnisses.

Über den Gedanken, dass in und mit der Eucharistie der mystische Leib des ganzen Christus sich selbst vollzieht und feiert, verbinden und durchdringen sich im augustinischen Sakramentenbegriff die heilsgeschichtlichen Zeiten. Das Sakrament des Leibes und Blutes Christi wird in der christlich-kirchlichen Gegenwart gefeiert, es erinnert und vergegenwärtigt dabei aber zugleich das historisch in der Vergangenheit liegende Kreuzesopfer Jesu Christi: Durch Brot und Kelch wollte Christus uns seinen Leib und sein Blut anvertrauen, das er für uns zur Vergebung der Sünden vergossen hat (vgl. Sermo 227); „was wir in der Eucharistie empfangen, das sind wir selbst durch die Gnade, durch die wir erlöst sind“ (Sermo Guelferbytanus 7, 1). Noch weit stärker als den Vergangenheitsbezug akzentuiert der Kirchenvater indes den transzendent-eschatologischen Bezug: „Wenn Ihr nämlich Christi Glieder geworden seid, wo befindet sich dann euer Haupt? Glieder haben ein Haupt. Wäre das Haupt nicht vorangegangen, könnten die Glieder ihm nicht folgen. Wohin ging unser Haupt? ... Am dritten Tag erstand er (Christus) von den Toten, er fuhr in den Himmel, er sitzt zur Rechten des Vaters. Also befindet sich unser Haupt im Himmel ... Siehe, es wird empfangen, es wird verzehrt, es wird verspeist: Wird etwa der Leib Christi verspeist? Wird etwa die Kirche Christi verspeist? Werden etwa die Glieder Christi verspeist? Auf keinen Fall! Hier werden sie geläutert: dort gekrönt. Es wird also bleiben, was bezeichnet wird, wenngleich das, was bezeichnet, vorüberzugehen scheint. ... Eure Hoffnung richte sich nicht auf das Irdische, sondern auf das Himmlische ... Denn was ihr hier auf Erden noch nicht seht, doch glaubt, das werdet ihr dort sehen, wo ihr euch ohne Ende freuen werdet“ (Sermo 227).
Unübersehbare neuplatonische Prägung

Durch das aktuelle Mitfeiern des Sakramentes des Leibes Christi sind, bleiben und werden die Christen in die reale Gegenwart des gekommenen und wiederkommenden Christus einbezogen, der sich selbst seinen eschatologischen mystischen Leib auferbaut: „So beginnt ihr nun zu empfangen, was ihr auch zu sein begonnen habt“ (Sermo Denis 3,4).

Augustinus hat in den ersten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts eine Eucharistielehre entwickelt, verkündet und umgesetzt, die mit ihren fünf skizzierten Dimensionen auch in den ersten Jahrzehnten des dritten Jahrtausends von impulsgebender Bedeutung für die Kirche und ihr sakramentales Leben sein kann. Freilich – unterbelichtet bleiben bei ihm zum einen der heilsgeschichtsbezogene Erinnerungs-Charakter des Herrenmahls, zum anderen und damit zusammenhängend die Körperlichkeit des Sakramentes von Fleisch und Blut Jesu Christi beziehungsweise die Materialität des Sakramentes von Brot und Wein. Aufgrund seiner neuplatonisch geprägten, das Geistige gegenüber dem Körperlichen einseitig privilegierenden Seins- und Zeichenlehre neigt Augustinus zu einer – in neuzeitlichen Augen – allzu raschen Spiritualisierung des Sakramentenstifters Jesus Christus wie auch der sakramentalen Elemente, die allererst und einzig mittels Überwölbung durch das geistig-geistliche Wort ihren symbolischen Mehrwert erhalten. Neben dem Neuplatonismus dürfte übrigens auch der Manichäismus – als Negativfolie – das Eucharistieverständnis des Kirchenvaters beeinflusst haben: Auf keinen Fall wollte er dieses Sakrament in die Nähe der manichäischen Mythologeme des leidenden Jesus gerückt sehen.

Indes und trotz alledem: Grandios und wegweisend ist und bleibt Augustinus insofern, als er die Eucharistie – zugleich differenziert und konzentriert – als das christliche Realsymbol der Vermittlung und Verbindung charakterisiert: der Verbindung der Menschen untereinander sowie der Verbindung der Menschen mit Gott.

© ‹Die Tagespost - Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur› vom 18.01.2011, S. 6

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