ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Prinzipien der Hermeneutik Augustins und daraus sich ergebende Probleme

Von Cornelius Mayer

In seinen Untersuchungen zu Hermeneutik und Strukturalismus hält es Paul Ricoeur «nicht für unwichtig daran zu erinnern, dass man sich mit dem hermeneutischen Problem zuerst im Bereich der Exegese konfrontiert sah ... Die Exegese hat ein hermeneutisches Problem aufgeworfen, ein Problem der Interpretation, weil jede Lektüre eines Textes – wie strikt sie sich auch an das ‹quid›, an das ‹woraufhin› er geschrieben war, halten will – stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, einer Tradition oder einer lebendigen Geistesströmung vollzieht, worin sich Vorurteile und Forderungen geltend machen»[1].

In der Tat kann dem um das Problem der Interpretation von Texten Wissenden bei der Lektüre der Bibel kaum entgehen, welch dominierende Rolle der Hermeneutik schon bei der Entstehung der jüdisch-biblischen Schriften und erst recht bei der jüdisch-biblisches Gedankengut übernehmenden christlichen Schriften zukam. Der Leser der neutestamentlichen Schriften stößt nicht nur gelegentlich auf hermeneutische Formulierungen wie Joh 5,4, wonach bereits Moses über Jesus geschrieben habe, es finden sich darin, und zwar schon in den früheren Schichten, Passagen, die über das Problem der Interpretation expressis verbis reflektieren. Solches Reflektieren, war durch ein neues Lesen der Bibel in einem veränderten, das Christusereignis anvisierenden Verstehenshorizont notwendig geworden. Im Rahmen dieses neuen Verstehenshorizontes wurde das Christusereignis als ein neues Bündnis gedeutet. Dieser Neue Bund setzte einerseits den nunmehr lediglich auf Zeit geltenden außer Kraft, andererseits betrachtete er sich als dessen Erfüllung. Das Verhältnis der beiden Bündnisse bzw. der beiden Testamente ist also ein solches der Identität und der Differenz. In der Dialektik von ‹Buchstaben› und ‹Geist› verdeutlichte bereits Paulus das damit gegebene hermeneutische Problem: «Der Buchstabe», die nicht auf Christus hin gelesene Schrift, «tötet, der Geist», die auf Christus hin verstandene Bibel, «schafft Leben»[2].

I. Das hermeneutische Problembewusstsein im frühen Christentum

Die dominierende Rolle der Hermeneutik beschränkt sich indes nicht allein auf die Anfänge des Christentums. Das Christusgeschehen, das zunächst über die Predigt, dann auch über schriftliche Aufzeichnung weiter tradiert wurde, musste immer wieder in ein die Verkündigung aktualisierendes, in ein Leben schaffendes, spirituelles Wort verwandelt werden, wenn es seine ihm zugedachte Funktion erfüllen sollte. Darin aber liegt der Kern des Problems, mit dem wir es nicht erst heute, sondern bereits in der Patristik zu tun haben. Denn die geforderte Aktualisierung der Botschaft vollzieht sich in Wirklichkeit, entsprechend der zitierten Sätze von Ricœur, stets als ein Interpretieren der ursprünglichen Verkündigung «innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, einer Tradition oder einer lebendigen Geistesströmung».

Dies zeigt die Dogmengeschichte, welche vor allem die mit der Hermeneutik gegebenen Probleme aufzeigt und sich um eine Klärung nicht nur der Gemeinsamkeiten, sondern auch der Unterschiede und Spannungen bei der Entfaltung der christlichen Glaubenswahrheiten bemüht. Nicht weniger haben exegetische Forschungen in den letzten Jahrzehnten das hermeneutische Problembewusstsein geschärft, indem sie bei aller Wahrung des schon durch den gemeinsamen Namen ‹Neues Testament› gegebenen Anspruchs auf eine einheitliche Hermeneutik innerhalb dieser Schriftensammlung doch auch auf die vorhandenen Unterschiede und Spannungen aufmerksam machten.

Dass diese Unterschiede und Spannungen bei der aktualisierenden Interpretation des Kerygmas in den folgenden Jahrhunderten eher zu- als abnahmen, dürfte einleuchten, zumal wenn man bedenkt, dass mit der Verbreitung des Christentums auch jene Faktoren zunehmen mussten, die auf die christliche Hermeneutik einen mehr oder weniger gewichtigen Einfluss ausübten. Zu ihnen zählte allem voran die Philosophie. Nun gilt es sogleich hinzuzufügen, dass das Wort Philosophie bei den christlichen Schriftstellern, Apologeten wie Kirchenvätern, unterschiedliche Assoziationen wachrief. Negative Konnotationen gründen zum Teil im Neuen Testament selbst, wo der Terminus ‹philosophia› in Kol 2, 8 – übrigens die einzige Stelle! – mit «leerem Trug», der nur auf «Menschenüberlieferung» beruht, zumindest verglichen, wenn auch nicht gleichgesetzt wird[3]. Und dennoch vermochten sich über ihre Offenbarungswahrheiten reflektierende christliche Intellektuelle dem Einfluss der Philosophie nicht zu entziehen.

Wieder ist es das Neue Testament selbst, das die Öffnung zur Philosophie wenigstens ansatzweise vornahm. Darauf macht Jan H. Waszink in seinem immer noch lesenswerten Vortrag Der Platonismus und die altchristliche Gedankenwelt, den er 1955 in Genf bei den III. Entretiens sur l'antiquité classique gehalten hatte, aufmerksam. Nach Waszink verlangten schon im Neuen Testament einige Aussprüche, die auf die Philosophie in irgendeiner Form reagierten, eine Deutung. «Gleich am Anfang finden wir da die ersten Worte des Johannesevangeliums, Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, die so viele Federn in Bewegung gesetzt haben ... Es lässt sich nicht leugnen, dass λόγος auch in diesem Zusammenhang ein Terminus der griechischen Philosophie ist, der im Hellenismus allgemeine Bekanntheit gewonnen hatte und der gewiss nicht von dem Verfasser des Johannesevangeliums neu eingeführt wurde; denn wie Walter Bauer zu der Stelle bemerkt: ‹Die Art, wie der Prolog den Logos einführt und dann weiterhin von ihm redet, erklärt sich nur unter der Voraussetzung, dass den Lesern nichts Neues gesagt, sondern ein Begriff gebraucht wird, der ihnen unmittelbar verständlich ist›»[4].

Gewiss geht der Evangelist von der historischen Persönlichkeit Jesu aus, dessen Identität mit dem Christus des Glaubens Kern seiner Verkündigung ist. Aber zugleich will er dem Leser klarmachen, dass dieser Christus der Logos ist, wobei er sich durch das Bekenntnis von der Menschwerdung dieses Logos sogleich wieder gegen jegliche Philosophie, die einen sichtbaren Logos nicht zu akzeptieren vermochte, abgrenzt. Waszink wirft im Kontext seiner Darstellung über die Ambivalenz der Philosophie in der frühkirchlichen Zeit die suggestive Frage auf, «ob nicht, neben der noch immer anhaltenden Geschlossenheit der christlichen Welt der antiken Kultur gegenüber, auch die Erwartung der Parusie in nächster Zeit, wie sie uns in dieser Epoche von allen Seiten entgegentritt, ein Interesse für die Lehren der Heiden nicht hat aufkommen lassen»[5].

Diese Reserve der Philosophie gegenüber wurde mit Ausnahme von Tertullian und Tatian bereits von den Apologeten abgebaut. Gewiss war deren Philosophie weithin eine ekklektische. Dennoch kam dem Platonismus, zunächst dem mittleren, später auch dem Neuplatonismus, wegen seiner Affinität zur natürlichen Theologie ein unbestreitbarer Vorrang zu. Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf Justin, Clemens und Origenes, die alle trotz ihres unterschiedlichen theologischen Anliegens dem Platonismus bei allem Wissen um die Überlegenheit der christlichen Offenbarungslehre doch positiv gegenüberstanden[6].

Das Wissen um die Überlegenheit der Offenbarungslehre äußerte sich vor allem in der kirchlichen Abwehr der Häresien[7]. Zweifelsohne vollzog sich diese Abwehr schon bei den Apologeten nicht selten gerade auch unter Hinzuziehung philosophischer Gedanken. Letzten Endes berief man sich jedoch im kirchlichen Lager ostentativ nicht auf die Philosophie, sondern auf die in der Kirche geltende ‹Glaubensregel›, auf die ‹regula fidei›[8].

Verständlicherweise war es der der Philosophie insgesamt nicht wohlgesonnene Tertullian, der sich in der Abwehr der Häresien mit Vorliebe auf die ‹regula fidei›[9] berief und sich darum auch um eine Klärung dieser wichtigen hermeneutischen Instanz bemüht hat. Seiner Auffassung zufolge bildet die ‹regula fidei› die einzig wahrhafte und authentische Form der christlichen Lehre[10]. Die Glaubensregel ist unveränderlich und mit dem ganzen Inhalt der Offenbarungslehre identisch[11]. Ihre Kennzeichen sind: l. ihr durch die rechtmäßige Tradition in der Kirche beglaubigter Ursprung, wodurch sie sich vor allen Lehren der Philosophie auszeichnet, 2. ihre Priorität gegenüber allen häretischen Traditionen und 3. ihre Totalität, wodurch sie sich wieder von der in sich widersprüchlichen Philosophie unterscheidet. Tertullian hält nämlich ein endloses philosophisches Fragen mit dem Glauben für unvereinbar. Innerhalb der Offenbarungslehre kann und soll auch geforscht werden. Es werden aber dadurch keine neuen Wahrheiten mehr entdeckt, denn «quod a deo discitur, tolum est»[12] und «aduersus regulam nihil scire. omnia scire est»[13].

Die Glaubensregel, die als oberste hermeneutische Norm den Inbegriff der heilsnotwendigen Lehre darstellt, ist nicht nur antihäretisch, sondern auch für die christliche Unterweisung maßgebend: sie bewahrt den rechten Zusammenhang des Schriftinhaltes und vermittelt sowohl wahre Gotteserkenntnis wie auch Einsicht in die Weltordnung. Ergänzend sei noch erwähnt, dass bereits Irenäus über die Glaubensregel ausführlich reflektierte, und dass auch bei ihm der Begriff ‹regula ueritatis› – er verwendet mit Vorliebe den Terminus κανὼν τῆς ἀληθείας – eigentlich nicht irgendeinen Bibeltext oder einen fixierten Lehrsatz, sondern die Wahrheit der in der göttlichen Offenbarung bezeugten Tatsachen der Verkündigung meint[14].

II. Die Rolle der Hermeneutik bei der Bekehrung Augustins

Als Augustin die theologische Szene betrat, war die Philosophie – vorzüglich in der Form des Mittleren Platonismus[15] – eine der kirchlichen Lehre kritisch assimilierte, in bestimmten Teilen auch in sie integrierte Größe. Denn, wie erwähnt, hatte die Kirche in ihren Auseinandersetzungen mit den Häresien – und nicht zuletzt mit der Philosophie, speziell dem Platonismus – Regeln der Hermeneutik entwickelt, mit denen sie ihre Eigenständigkeit inmitten fluktuierender Weltanschauungen behaupten konnte.

Was den Platonismus betrifft, so war dieser in dem Kreis, in dem Augustin in Mailand verkehrte[16], gerade in der Form des Neuplatonismus en vogue. Sein Einfluss auf die Bekehrung Augustins durch die Klärung einer ‹geistigen Substanz›[17] ist sattsam bekannt, wenngleich exakte Antworten auf einige mit der Bekehrung zusammenhängende Fragen immer noch ausstehen[18]. Augustins Frühschriften lassen über diesen Einfluss der Neuplatoniker keinen Zweifel aufkommen. Welche Faszination ihre Philosophie auf den Neubekehrten ausübte, zeigen Stellen wie De ordine l,18. Augustin vertritt dort die Meinung, diese Philosophie ließe sich als eine Lehre über die Seele und über Gott – Thema der Soliloquien – bezeichnen: «Die erste bewirkt, dass wir uns selbst, die letztere, dass wir unseren Ursprung erkennen». Dennoch wird man auch dem Bericht der Confessiones über jene Kontakte mit den ‹Platonicorum libri›, der die Rolle der kirchlichen Hermeneutik schon beim ersten Vergleich der platonischen mit der kirchlichen Lehre so betont hervorhebt, wenigstens ein Körnchen Wahrheit nicht streitig machen dürfen: «dort las ich ... dort las ich dagegen nicht ..., wohl fand ich in diesen Schriften ..., (das jedoch) enthielten diese Bücher nicht»[19]. Sicher ist dieses Sondieren platonisch-neuplatonischer Gedanken von der offenbarten Wahrheit das theologische Gutachten des Bischofs[20]. Man wird aber annehmen müssen, dass Augustin bereits im christlich-neuplatonischen Kreis auf diese fundamentalen dogmatischen Unterschiede aufmerksam gemacht wurde[21].

Die Frage, wie weit Augustin schon zur Zeit seiner Bekehrung die Normen der kirchlichen Hermeneutik beherrscht hatte, bleibe dahingestellt. Es ist bekannt, dass er in seinem ersten Enthusiasmus für die Philosophie noch manches vermengt hatte, was ihm später missfiel und was er deshalb in seinen Retractationes auch zurechtrückte[22]. Wenden wir uns nochmals kurz dem Bericht der Confessiones über den dort angestellten Vergleich der Lehre der Platoniker mit der Lehre der Kirche zu. Er ist für unser Thema insofern wichtig, als uns Augustin darin ungefähr zu der Zeit, da er an De doctrina christiana arbeitete, zuverlässige Auskunft darüber erteilt, was er an der Lehre der Platoniker nicht nur billigte, sondern mit der Lehre der Kirche gleichsetzte. Die Platoniker, sagt Augustin, würden manches zwar nicht mit den Worten des Evangelisten lehren, jedoch – und diese Feststellung scheint mir wichtig zu sein: «durchaus dasselbe – hoc idem omnino – durch viele und vielfältige Vernunftgründe glaubhaft gemacht – multis et multiplicibus suaderi rationibus».

Was Augustin an den Platonikern im Blick auf die Übereinstimmung ihrer Lehre mit der Offenbarung rühmt, ist der rationale Charakter ihrer Lehre. Er kommt darauf auch in anderen Schriften immer wieder zurück[23]. Im einzelnen erwähnt er ihre natürliche Gotteserkenntnis sowie die Methode dieser in Übereinstimmung mit Rm l,19sq. betriebenen Erschließung Gottes durch die Schau des Geschaffenen und im Zusammenhang damit ihre Fähigkeit, Veränderliches vom Unveränderlichen, Zeitliches vom Ewigen unterscheiden zu können[24]. Die Platoniker reflektierten über die geistige Natur des Logos und schienen eine Ahnung von der Trinität gehabt zu haben[25]. Vor allem aber habe Platon die Philosophie durch Hinzufügung der Dialektik, der Erkenntnislehre zur Ontologie (Naturphilosophie) und zur Ethik (Moral) zu ihrer Vollendung gebracht. Zugleich hätten die Platoniker Gott zum Prinzip all dieser drei philosophischen Disziplinen erklärt[26].

Diese Rückbindung der philosophischen Disziplinen an Gott scheint Augustin für die Bewertung der Philosophie Platons ganz besonders wichtig zu sein. Sie ist, zumal im Blick auf die Folgerungen, die Augustin daraus zieht, auch für unser Thema nicht belanglos: «Vielleicht vertreten diejenigen, die man weithin als scharfsinnigste und zuverlässigste Kenner Platons rühmt, der ja allen übrigen heidnischen Philosophen mit Recht bei weitem vorgezogen wird, die Ansicht, dass bei Gott die Ursache des Seins, der Grund des Erkennens und die Ordnung des Lebens zu finden ist, drei Aussagen, von denen sich die erste auf den natürlichen, die zweite auf den rationalen, die dritte auf den moralischen Teil der Philosophie bezieht. Wenn nämlich der Mensch so von Gott geschaffen ist, dass er mit dem, was sein Höchstes ist, das, was das Höchste von allem ist, nämlich den einen, wahren, besten Gott berührt, ohne den kein Wesen besteht, keine Lehre einleuchtet und keine Betätigung frommt, nun wohlan, so soll man ihn suchen, in welchem alles wirklich ist, auf ihn schauen, in welchem alles gewiss ist, ihn lieben, in welchem alles gut ist»[27].

III. Die hermeneutische Grundschrift: De doctrina christiana

Wenn wir uns im folgenden den Prinzipien der Hermeneutik Augustins, wie er diese im ersten Buch seines schon erwähnten Werkes De doctrina christiana dargestellt hat, zuwenden, so gilt es die soeben gehörte Folgerung aus der (im Sinne Augustins) von den Platonikern vorgenommenen Zentrierung des gesamten philosophischen Denkens im Gedächtnis zu behalten. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang sogleich auch daran, dass Augustin seine Hermeneutik laut Prolog von De doctrina christiana gegen bildungsfeindliche Kreise verfasst hatte, die sich mit ihrem Schriftverständnis allein an innere und darum auch unkontrollierbare Eingebungen klammerten. Augustin aber ging es um Erkenntnisse, die er sich im Umgang mit den Disziplinen erworben hatte, und deshalb verteidigte er sein wissenschaftliches Unternehmen mit einer philosophisch-theologischen Argumentation bereits im Prolog[28]. Der hohe theoretische Anspruch seiner Ausführungen über die zahlreichen hermeneutischen Regeln, die «praecepta tractandarum scripturarum»[29], macht allein schon verständlich, weshalb gerade diesem Werk eine epochale Bedeutung zukam. Indes, die einzelnen, sorgfältig erörterten hermeneutischen Regeln stehen nicht unverbunden nebeneinander. Ihnen sind Prinzipien übergeordnet und es versteht sich, dass Augustins Hermeneutik in seiner Lehre über diese Prinzipien kulminiert.

a) Das theoretische Gerüst der augustinischen Hermeneutik

Augustin eröffnet seine Studie mit dem Hinweis auf die Hauptgliederung: «Um die Erkenntnis zweier Dinge geht es bei jeglicher Beschäftigung mit der hl. Schrift: um die Auffindung dessen, was verstanden werden soll, sodann um die Darstellung des Verstandenen» (1,1)[30]. Nach der rhetorischen Tradition handelt der erste Teil (Bücher I-III) von der ‹inuentio›, der zweite (Buch IV) von der ‹elocutio›. Er nennt dann die beiden Gegenstände jeglicher Wissenschaft bzw. Lehre: «Jede Lehre hat entweder Sachen oder Zeichen zu ihrem Gegenstand», «die Sachen jedoch werden durch die Zeichen erlernt» (1,2). Nach Klärung der ‹res›, der Gegenstände, die in Bezug auf die Interpretation nicht zugleich auch Zeichen sind, und der ‹signa›, die dagegen immer auch Dinge, ‹res› in der Weise sind, dass sie auf anderes verweisen, folgt die wichtige, den Gang der weiteren Untersuchung bestimmende Feststellung: «Aus diesem Grunde ist jedes Zeichen zugleich irgendwie auch eine Sache..., hingegen ist nicht jede Sache zugleich auch ein Zeichen» (ebd.).

Man könnte aufgrund dieser Feststellung meinen, jenen Dingen, die sich über ihr Dingsein hinaus noch durch ihr Zeichensein auszeichnen, käme, auf welche Weise auch immer, ein Vorrang zu. Doch das ist nicht der Fall. Es heißt vielmehr: «Zuerst sei von den Sachen, sodann von den Zeichen die Rede» (ebd.), und zwar nicht nur im Blick auf die Methode. Denn, um es gleich vorwegzunehmen, die Begriffe ‹res› und ‹signum› werden in der Hermeneutik wie auch in der Erkenntnislehre Augustins zu einem Schema verbunden und wie ein Schema auch gehandhabt. Über das Verhä1tnis der beiden Glieder innerhalb des übrigens nicht der Bibel, sondern der stoischen Philosophie entnommenen Schemas hatte Augustin bereits in seiner Frühschrift De magistro ausgiebig nachgedacht. Er kam dort aufgrund seiner höchst eigenständigen und eigenartigen Erörterung über die Funktion der Zeichen im Prozess des Lehrens und Lernens zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Zeichen nichts lehrten, weil man stets schon das Bezeichnete kennen müsse, um das Zeichen verstehen zu können. Lehren wie Lernen seien innere Vorgänge, während sich die gnoseologische Funktion der Zeichen prinzipiell im Bereich des ‹foris› als ‹admonitio›, als ‹aufmerken lassen› abspiele. Augustin fasste das Ergebnis seiner Untersuchungen in dem Satz zusammen: «Eher kann man ein Zeichen durch die schon gekannte Sache erlernen als die Sache selbst durch das ihr gegebene Zeichen»[31].

Es sei noch hinzugefügt, dass er diesen Satz nicht zurücknahm und dass er infolgedessen auch das hermeneutische Programm von ‹res per signa - die Sache durch Zeichen› im Lichte der Zeichenlehre von De magistro verstanden wissen wollte. Aus diesem Grunde darf auch das Buch I von De doctrina christiana nicht bloß als Einleitung zu den übrigen betrachtet werden[32], es ist vielmehr die ‹Sachmitte› des gesamten Werkes, in der Terminologie Augustins: die ‹res› des in den übrigen Büchern behandelten Stoffes, deren Kenntnis entsprechend der dem ‹signum-res›-Schema zugrundeliegenden Erkenntnislehre dem Verstehen der Zeichen notwendigerweise vorausgehen muss[33].

Die Erörterung der ‹res› beginnt abermals mit einem bibelfremden Schema, nämlich dem ebenfalls der Philosophie, der antiken Güterlehre entnommenen Begriffspaar ‹frui-uti›[34]. Augustin definiert ‹frui› als «einer Sache um ihrer selbst willen in Liebe anhangen» und ‹uti› als «das zum Gebrauch Bestimmte auf das zu beziehen, was zu lieben erstrebenswert ist – vorausgesetzt, dass es überhaupt der Liebe wert ist» (1,4). Den so definierten Gliedern des Schemas zufolge sind die ‹res› entweder Gegenstände des ‹frui› oder des ‹uti›. Allein die um ihrer selbst willen zu erstrebenden Objekte des ‹frui› machen den Menschen glücklich. Alle anderen sind als ‹res utendae› nichts als Mittel zum Zweck.

Augustin erblickt darin nichts Diskriminierendes, denn nur als solche «fördern sie unser Streben nach Glückseligkeit und bieten uns sozusagen die Handhabe, um zu jenen zu gelangen, die uns selig machen, und um ihnen anhangen zu können» (1,3), Er unterstreicht also den rein instrumentellen Charakter der ‹res utendae›, indem er diese im Bilde einer Reise aus der Fremde ins Vaterland mit Wagen und Schiffen, d.h. mit Verkehrsmitteln vergleicht. Auf 2 Cor 5,6. «peregrinantes a domino» anspielend, geht es jedoch bei der Reise des Lebens um die Rückkehr in jenes Vaterland, in dem die Menschen allein glücklich sein können. Und für diese Reise gilt sein Rat: «Die Welt ist zu gebrauchen, nicht zu genießen, und zwar so, dass man ‹das Unsichtbare› an Gott ‹durch das Erschaffene geistig schaut›, d.h. dass wir durch den Gebrauch körperlicher und zeitlicher Sachen bleibende, geistige Güter erhalten» (1,4). Reise meint somit den Aufstieg zu Gott mittels der als ‹res utendae› zu betrachtenden Schöpfung. ‹Res utendae› sind die ‹corporalia› und die ‹temporalia›. ‹Res fruendae›, so darf man folgern, die ‹spiritalia› und die ‹aeterna›. Auf das Zitat von Rm 1,20 werden wir noch zurückkommen.

Die Erörterung wendet sich nun jenen ‹res› zu, die allein Gegenstand des‹frui› sind. Genannt wird die Trinität: «eine einzigartige, höchste Sache, die all jenen gemeinsam ist, die sie genießen – es ist allerdings eine Frage, ob der Name Sache angebracht ist. Sollte man sie nicht besser Ursache aller Sachen nennen oder schlicht Ursache überhaupt?» (1,5). Sowohl in neuplatonischer[35] wie auch in biblischer Terminologie[36] wird, durchaus im Bewusstsein der Inadäquatheit der menschlichen Sprache, der Versuch gemacht, Gottes Wesen – in einem Streit um Worte – begrifflich zu fassen. In gut platonischer Argumentation wird Gott als die ‹summa res› für jenes Wesen gehalten, das jeder des Denkens Fähige allen übrigen ‹res› vorzieht (1,7). Beim wertenden Vergleich aller übrigen ‹res› gelangt der sozusagen der neuplatonischen Stufenontologie entlang Reflektierende zur Stufe des vernünftigen, jedoch veränderlichen Lebens geistbegabter Wesen. Der Begriff ‹veränderlich› assoziiert ‹unveränderlich›. Unveränderliche Intelligenz bzw. Weisheit ist der veränderlichen vorzuziehen. Ein weiteres Schema also, nämlich das der platonischen Ontologie entstammende Begriffspaar ‹mutabile-inmutabile› macht den absoluten Vorrang der ‹res› mit dem Attribut ‹incommutabilis› vor den ‹res› mit dem Attribut ‹commutabiles› im Rahmen der vorgegebenen Metaphysik unmittelbar einsichtig.

Eine ‹regula ueritatis›, so sagt Augustin, die sich selbst durch das Stigma der Unveränderlichkeit auszeichnet, bezeugt und garantiert den ontologischen Unterschied zwischen den mit dem Schema bezeichneten beiden Seinsebenen: «Diese Wahrheitsregel, durch welche sie jene (unwandelbare Seinsebene) als die bessere kundgeben, halten sie selbst für unveränderlich. Wie könnten sie auch anders, da sie diese nirgends sonst als über ihre eigene wandelbare Natur finden» (1,8). Es überrascht nicht, wenn diese Erörterungen über das Wesen der ‹summa res› in einen Appell zur Seelenläuterung einmünden, «damit die Geistseele jenes Licht zu schauen und ihm in Liebe anzuhangen vermöge». Wer erkennt nicht die Sprache der Neuplatoniker! Die ‹purgatio› wird selbst zur ‹ambulatio› und zur ‹nauigatio ad patriam›. Das Leitmotiv der Reise, die Rückkehr ins Vaterland, beschließt den Abschnitt über die ‹res fruenda›. «Zu dem, der überall gegenwärtig ist, bewegen wir uns ja nicht durch Räume, sondern durch guten Eifer und gute Sitten» (1,10)[37].

Halten wir inne und werfen wir nochmals einen Blick auf das theoretische Gerüst der Argumentation dieser von Augustin so gezielt an die Spitze seiner Darstellung gesetzten Erörterung über den ersten und offensichtlich wichtigeren Teil der ‹res›, mit dem es seine Hermeneutik zu tun hat. Zunächst ist daran zu erinnern, dass das ‹signum-res›-Schema der gesamten Erörterung von De doctrina christiana zugrunde liegt und dass infolgedessen die ‹summa res› sich allen anderen ‹res› gegenüber dadurch auszeichnet, dass, während diese Augustins Definition zufolge auch zu ‹signa› werden können, solches für sie per definitionem unmöglich ist. Dies verdeutlichen auch die Schemata ‹uti-frui› und ‹mutabile-inmutabile›. Gewiss dürfen die Schemata nicht einfach ausgetauscht werden, da sie den verschiedenen Disziplinen der Philosophie angehören: ‹signum-res› der Erkenntnistheorie, ‹uti-frui› der Ethik und ‹mutabile-inmutabile› der Ontologie. Vergleicht man aber die Glieder dieser Schemata miteinander, so sind funktionelle Gemeinsamkeiten zwischen ‹signum› und ‹uti› und ‹mutabile› einerseits und zwischen ‹res› und ‹frui› und ‹inmutabile› andererseits zumal im Blick auf ihre gemeinsame Metaphysik bei Augustin kaum zu verkennen. Bei allen Begriffspaaren kommt dem jeweiligen zweiten Glied absoluter Vorrang gegenüber dem ersten zu. Bei allen Schemata ist das erste Glied auf das zweite zu beziehen bzw. auszurichten, das ‹signum› auf die ‹res›, ‹uti› auf ‹frui› und das ‹mutabile› auf das ‹inmutabile›. Erinnert sei sodann auch daran, dass Augustin die Platoniker deshalb rühmt, weil nach ihrer Lehre bei Gott die Ursache des Seins, der Grund des Erkennens und die Ordnung des Lebens zu finden seien, drei Aussagen, von denen sich die erste auf den natürlichen, die zweite auf den rationalen, die dritte auf den moralischen Teil der Philosophie bezieht. Bei gebührender Erwägung all dieser Faktoren wird man sich über die platonisch-philosophischen Grundlagen der Prinzipien seiner Hermeneutik nicht wundern. Hinzukommt das Zitat aus Rm l,20 von der natürlichen Gotteserkenntnis im Kontext einer rein philosophischen Argumentation. Dies alles verdeutlicht Augustins Absicht: Er wollte die Bibelhermeneutik nicht isolieren, sondern sie in einer alle Disziplinen umfassenden Fundamentalhermeneutik integriert wissen.

b) Der transitorische Charakter der Glaubenswahrheiten in der Optik der augustinischen Hermeneutik

In den Kapiteln 11-19 wendet Augustin sich den ‹res› der Heilsgeschichte zu, die er als ‹mutabiles› zu den ‹res utendae› zählt. Das Thema von der Rückkehr aufgreifend, beginnt ihre Darlegung bei der Inkarnation der unveränderlichen göttlichen Weisheit als des Inbegriffs der ‹patria›. Da wir Menschen aus eigener Kraft die Rückkehr nicht leisten können, inkarnierte sich die Weisheit. Das Ziel selbst wurde für uns Weg zum Ziel: «Da sie (die Weisheit) selbst die Heimat ist, wollte sie uns auch Weg zur Heimat werden» (1,11). Den Unterschied zwischen den beiden ‹res› veranschaulicht aufs beste das christologische Schema ‹via-patria›. Als ‹via› gehört Christus ontologisch auf die Ebene der ‹mutabilia›, der ‹res utendae›, der ‹signa›. Als ‹patria› ist er der Logos. Augustin verdeutlicht den Unterschied zwischen den beiden Seinsweisen am Geheimnis der Inkarnation selbst: «Wie also kam sie, wenn nicht dadurch, dass ‹das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat›? (Sie kam in der Weise der Sprache.) Wenn wir sprechen, bemühen wir uns, dass unsere Gedanken durch das fleischliche Ohr zum Geist des Hörers gelangen. Das Wort, das wir im Herzen tragen, wird zum Schall und heißt dann Rede. Und dennoch verwandelt sich der Gedanke nicht in den Schall. Er bleibt vielmehr unversehrt, nimmt aber, ohne auch nur einen Makel der Veränderung zu erleiden, die Form der Stimme an, um so ins Ohr eindringen zu können. So ist auch das Wort Gottes unverändert Fleisch geworden, um unter uns zu wohnen» (1,12).

Ich brauche auf die Darstellung der übrigen als ‹res utendae› zu verstehenden zentralen Glaubenswahrheiten, die Augustin wohl in Anlehnung an das Apostolikum aufführt, nicht einzugehen. Es sind das die Glaubensartikel. Sie werden, obgleich der Terminus ‹Glaubensregel› in De doctrina christiana l nicht vorkommt, sicher als Richtschnur für die im zweiten und dritten Buch behandelten niederen hermeneutischen Regeln hier schon sorgfältig dargelegt[38].

In den Kapiteln 22-34 erörtert Augustin das ‹uti-frui› Schema im Blick auf den Menschen, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Gebotes der Nächstenliebe. Wir können uns hinsichtlich der breit angelegten exegetischen Darstellung kurz fassen, weil die gestellte Frage, ob der Nächste Gegenstand des ‹uti› oder des ‹frui› ist (die Frage wird dann auch auf das eigene Ich, auf den Körper und sogar auf die Engel ausgedehnt), im Lichte der Schemata sozusagen schon von vornherein eindeutig beantwortet ist. Augustin legt deshalb auch sogleich seine Auffassung dar: «Es erhebt sich die Frage, ob der Mensch vom Menschen um seiner selbst zu lieben ist oder wegen etwas anderem. Ist er um seiner selbst willen zu lieben, so genießen wir ihn, ist er wegen etwas anderem zu lieben, so gebrauchen wir ihn. Meines Erachtens ist er wegen etwas anderem zu lieben. Denn was um seiner selbst willen zu lieben ist, darin gründet bereits das selige Leben. In dessen Besitz befinden wir uns noch nicht, wenngleich uns die Hoffnung darauf bereits in dieser Zeit tröstet». Er unterstreicht seine Argumentation mit dem Bibelwort aus Jer 17,5: «Verflucht aber ist, wer seine Hoffnung auf einen Menschen setzt» (l,20).

Das ebenfalls herangezogene Schema ‹mutabile-immutabile› unterstützt das Argument und vertieft es. «Dann ist der Mensch am allerbesten dran, wenn er mit seinem ganzen Leben das unveränderliche Leben erstrebt, wenn er sein ganzes Herz daran hängt. Liebt er sich aber um seiner selbst willen, so setzt er sich nicht zu Gott in Beziehung; er wendet sich vielmehr zu sich selbst, nicht zu etwas Unveränderlichem. Aus diesem Grunde wohnt dem Selbstgenuss bereits ein Defekt inne. Denn der Mensch ist nur dann besser, wenn er ungeteilt dem unveränderlichen Gut anhängt und daran festhält, als wenn er von dieser Bindung nachlässt, um sich wieder sich selber zuzuwenden. Darfst du also nicht einmal dich selbst um deinetwillen lieben, sondern nur um dessentwillen, in dem das bündigste Ziel deiner Liebe ruht, so soll dir auch kein anderer Mensch deswegen zürnen, wenn du ihn nur Gott wegen liebst» (1,21).

Es ist m.E. nicht unwichtig zu sehen, dass Augustin das biblische Doppelgebot der Liebe, das er bei diesen seinen philosophischen Überlegungen zweifelsohne schon anvisiert hatte, jetzt erst zur Sprache bringt: «Das ist nämlich die von Gott vorgeschriebene Regel der Liebe» (ebd.). Mt 22,37-39 bestätigt einerseits das argumentativ Gesagte. Andererseits leitet die argumentativ gewonnene Einsicht die Exegese zu Mt 22,37 und 39b. Ihr Ergebnis ist das gleiche: Keine ‹res› außer der Trinität kann – unbeschadet des Gebotes der Nächstenliebe – Gegenstand des ‹frui› sein.

Da Augustin die Liebesgebote, die ‹praecepta› von den Schemata her in den Blick nimmt, vermag er auch die Liebe auf Gott, auf die ‹summa res› zu konzentrieren. Er interpretiert in De doctrina christiana l das zweite Gebot, von dem der Matthäustext immerhin sagt, dass es dem ersten gleich ist – im zitierten Text fehlt diese neutestamentliche Verbindung –, in einer charakteristischen Ausrichtung auf das erste Gebot. Nach der Exegese Augustins beinhaltet das zweite Gebot einen für sein theozentrisches Denken aufschlussreichen Imperativ, nämlich dahin zu wirken, dass auch der Nächste Gott liebe. Erst wenn der Christ seinen Nächsten auf diese Weise wie sich selbst liebt, bezieht er seine ganze Selbst- und Nächstenliebe auf jene Gottesliebe, welche die Liebe sozusagen allein beansprucht, «die es nicht zulässt, dass von ihrem Strom auch nur ein Bächlein abgeleitet werde, wodurch sie einen Verlust erleiden könnte» (ebd.). Augustin, der also die ‹regula dilectionis› und die ‹dilectio› selbst zu ‹frui› in Verbindung setzt, scheint das Gebot der Gottesliebe im Sinne der Ausschließlichkeit zu deuten: «Da er aber sagt: ‹aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Geiste›, lässt er keinen Teil des Lebens übrig, der säumig sein könnte und sich gewissermaßen die Gelegenheit verschaffte, eine andere Sache zu genießen. Es soll vielmehr, was immer sich der Seele als Liebenswürdiges darbietet, dorthin mitgerissen werden, wohin der ganze Strom der Liebe läuft» (ebd.).

Ehe Augustin im Kapitel 35 seine Erörterungen über die ‹res› zusammenfasst, verdeutlicht er nochmals den transitorischen Charakter der Heilsgeschichte an deren Kern, der Inkarnation des Verbum. Er zieht ein ganzes Bündel einschlägiger Bibelstellen zusammen, darunter auch 2 Cor 5,16 «et si noueramus Christum secundum carnem, sed iam non nouimus», um zu zeigen, worauf es im Umgang mit den ‹res› der ‹dispensatio temporalis› inklusive dem Christus im Fleische ankommen darf. Es ist dies der Aufstieg, das ‹transire›. Die Inkarnation hatte kein anderes Ziel. «Daran wird ersichtlich, dass uns nichts auf dem Wege fesseln darf, da ja nicht einmal der Herr selbst, sofern er sich gewürdigt hat, unser Weg zu sein, verlangt, dass wir uns bei ihm aufhalten. Er wollte, dass wir an ihm vorübergehen sollen, damit wir nicht durch die zeitlichen Dinge, die er um unsers Heiles willen auf sich nahm und ausführte, schwächlich hängen blieben. Er wollte vielmehr, dass wir durch alle diese Dinge hindurcheilen, damit wir wie im Flug zu dem vorzudringen vermögen, der unsere Natur vom Zeitlichen befreit und zur Rechten des Vaters gestellt hat» (1,38).

Man würde Augustin natürlich gründlich missverstehen, wollte man annehmen, die heilsgeschichtlichen ‹res› seien sekundär im Sinne von überflüssig. Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil die biblische Hermeneutik, deren Klärung doch der eigentliche Anlass zur Abfassung von De doctrina christiana war, es zunächst mit dem rechten Verstehen dieser von der ‹auctoritas diuina› zu unserem Heil inszenierten ‹res› zu tun hat. Die in der hl. Schrift aufgezeichneten ‹res›, die zur Liebe führen und deshalb auch von der Liebe her verstanden sein wollen, sind Gegenstände der ‹fides›. Ein oberflächlicher Umgang mit ihnen in Form einer der ‹regula fidei› absichtlich widersprechenden Interpretation hätte negative Folgen für die geforderte Liebe: «Es gerät aber der Glaube ins Wanken, sobald das Ansehen der hl. Schrift wankt. Fällt aber einer vom Glauben ab, so muss er auch von der Liebe abfallen; er kann ja nicht lieben, an dessen Existenz er nicht glaubt» (1,41).

Indes, die ‹res› der ‹fides› stehen nicht allein im Dienste der Liebe, sondern auch im Dienste der Erkenntnis Gottes, der Einsicht in die letztlich mit der ‹summa res› identischen Trinität als des Inbegriffs der Wahrheit. Augustin kannte den Satz aus Platons Timaios: «Wie die Ewigkeit zum Gewordenen, so verhält sich die Wahrheit zum Glauben»[39]. Auch wenn er ihn in De doctrina christiana nicht zitiert, so liegt er doch nach allem, was wir gesehen haben, seinen Ausführungen über die Zweiteilung der ‹res› im Sinne der ‹regula ueritatis› zugrunde. Gleiches intendiert die ‹regula dilectionis›, weil diese die ‹dilectio› auf das ‹frui› hin ausrichtet. Wann immer die Bibelhermeneutik sich von der so verstandenen ‹dilectio› leiten lässt, wird sie nicht irre gehen, weil der die biblischen Texte Deutende von diesen letztlich zur Liebe angehalten wird.

Indem er aber zur Gottes- und zur Nächstenliebe in dem von Augustin dargelegten Sinn angehalten wird, wird er sich dessen gewahr, worauf die gesamte ‹dispensatio temporalis› in ihrer Zeichenhaftigkeit zusammen mit der Schöpfung zu beziehen ist. Somit lautet Augustins Zusammenfassung: «Alles, was vom Beginn dieser Abhandlung an über die Sachen gesagt worden ist, zielt in summa auf die Erkenntnis, dass ‹die Fülle› und ‹das Ziel des Gesetzes› und aller göttlichen Schriften die Liebe zu jener Sache ist, die uns zum Genuss bestimmt ist, ferner zu jener Sache, die mit uns zum Genuss eben dieser Sache befähigt ist (sc. der Mensch). Denn dass sich einer selbst liebt, dazu bedarf es keiner Vorschrift. Um dieses Ziel erkennen und erreichen zu können, ist die ganze zeitliche Anordnung (Heilsgeschichte) durch die göttliche Vorsehung zu unserem Heil getroffen worden. Wir sollen uns ihrer bedienen, nicht mit einer Liebe und einem Gefallen, die bleiben, sondern die vorübergehen. Wir sollen sie benutzen wie Wege, wie Fahrzeuge und andere Beförderungsmittel, oder was es sonst an passenderen Namen dafür gibt, damit wir das, womit wir befördert werden, allein um dessentwillen lieben, zu dem wir befördert werden» (1,39).

IV. Resümee

Wenn ich hier ein Resümee ziehe, so werde ich der Frage, ob Augustins Hermeneutik – wenigstens was deren Prinzipien betrifft –- nicht doch eher platonisch als biblisch zu nennen ist, kaum ausweichen dürfen. Ich will dabei an das eingangs im Anschluss an das Ricoeur-Zitat über die Rolle der Hermeneutik bei einer Aktualisierung der christlichen Botschaft Gesagte erinnern. Jegliche Aktualisierung vollzieht sich in einer lebendigen Geistesströmung. Dies gilt nicht nur von der Verkündigung, sondern auch – wer weiß dies nicht! – von der theoretischen Arbeit an einer Sache bzw. an einem Sachverhalt, in unserem Fall an der biblischen Offenbarung. Daher stellt sich die dogmengeschichtlich brennende Frage: Zu welchen Ergebnissen führte das jeweilige theoretische Durchdringen der Offenbarungslehre? Wurde sie vertieft, durch bestimmte Aspekte bereichert oder verzerrt und entstellt, gar verfälscht?

Im Blick auf unser Thema, die Prinzipien der Hermeneutik Augustins, ist eine solche Fragestellung schon deshalb nicht weniger brennend, weil die Hermeneutik das Denken eines Menschen weithin offen legt. So werden auch in der Hermeneutik Augustins die Wurzeln seines Denkens sichtbar. Der platonische Anteil daran kann schwerlich bestritten werden, zumal Augustin selbst sich Zeit seines Lebens zur Philosophie der Platoniker bekannt hatte, freilich zu einer dem Christentum angepassten, weshalb diese sich von der der Neuplatoniker wieder deutlich abhob, wie dies Goulven Madec in seinem Artikel "Si Plato uiueret ... .» im Anschluss an Aimé Solignac gezeigt hat. Es ist richtig: Augustin verwendet neuplatonische Begrifflichkeit lediglich als Arbeitsinstrument (comme des instruments techniques)[40], um seine eigene Metaphysik zu konstruieren. Aber, korrespondiert diese seine mit neuplatonischer Begrifflichkeit aufgebaute Metaphysik mit der biblischen Offenbarungslehre oder steht sie zu ihr, zu Teilen von ihr, nicht in Spannung? Ich nenne als Beispiel seine zweifelsohne auch von seiner Metaphysik getragene Gnadenlehre, seine nicht allen neutestamentlichen Schriften gerecht werdende Christologie von oben sowie den damit zusammenhängenden Vorrang der Trinitätslehre vor der Christologie, seine eudämonistische und metaphysisch ausgerichtete Ethik und Gesellschaftslehre.

Gewiss wäre es eine grobe Vereinfachung, wollte man den Grund aller Spannungen in der Theologie Augustins nur auf seinen Neuplatonismus zurückführen. Die Auflösung einer viele Tendenzen gleichzeitig in sich bergenden Spätzeit bedingte bei ihm vielfältige und nachhaltige Auseinandersetzungen mit zahlreichen sich widersprechenden Strömungen, durch die sich Augustin, ohne einen festen Stand von Anfang an zu besitzen, in einer ungewöhnlich reichen Entwicklung hindurchbewegt hatte. Da sie alle Spuren in seinem Werk hinterließen, ist dieses oft vieldeutig und schwer zu interpretieren. Keiner der großen Väter hat daher so viele entgegengesetzte und strittige Deutungsprobleme hinterlassen wie er. Einige davon – und wie mir scheint nicht die geringsten! – gründen in den Prinzipien seiner Hermeneutik selbst, die – das wird man gerne zugeben – gerade durch ihre Klarheit und Geschlossenheit bestechen und, aufs Ganze gesehen, nicht nur der Bibelexegese, sondern auch der von Augustin intendierten und das ganze Mittelalter hindurch weithin dominierenden Fundamentalhermeneutik unschätzbare Dienste erwiesen.

Und noch eine Schlussbemerkung: Eines wird man der in ihren Prinzipien gipfelnden Hermeneutik Augustins trotz der zu ihrer theoretischen Begründung herangezogenen bibelfremden Begrifflichkeit nicht nachsagen können: sie habe die christliche Offenbarungslehre verflacht. Das aber ist nicht nur im Blick auf die Theologiegeschichte, sondern auch – und vielleicht erst recht – im Blick auf die Gegenwart nicht wenig.

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[1] P. Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I. Aus dem Französischen (Le conflit des interpretations. Essai d’herméneutique, Paris 1969) von J. Rütsche, München 1982, S. 11.

[2] 2 Kor 3,6; dazu R. Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, Tübingen 51965, S. 260-270.

[3] Zur negativen Konnotation des Begriffe φιλοσοφία in Kol 2,8: O Michel, φιλοσοφία, in: Theol. Wörterbuch zum NT, 9, Stuttgart/Berlin/öln/Mainz 1973, S. 169-185, spez. S. 182f.

[4] Abgedruckt in: Recherches sur la tradition platonicienne, Genf 1955, S. 137-179.

[5] Art. cit. S. 143.

[6] Einzelheiten und einschlägige Stellen bei R. Arnou, Platonisme des Pères, in: Dictionaire Theol. Cath. 12 (1935) Sp. 2258-2392. Zu Justin : C. Andresen, Justin und der mittlere Platonismus, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 44 (1952/53) S. 157-197; zu Clemens: P. Camelot, Clément d’Alexandrie et l’utilitsation de la philosophie grecque, in: Recherches des sciences religieuses 21 (1931) S. 541-569; zu Origenes: Vier Bücher von den Prinzipien. Hrsg., übersetzt, mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen von H. Görgemanns und H. Karpp, Darmstadt 1976.

[7] H.E.W. Turner, The Pattern of Christian Truth. A Study in the Relations between Orthodoxy and Heresy in the Early Church, London 1954.

[8] Zum Thema Glaubensregel: D. van den Eynde, Les normes de l’enseignement chrétien, Gembloux/Paris 1933; speziell für Irenäus und Tertullian: E. Flessemann van Leer, Tradition and Scripture in the Early Chrurch, Assen 1953. In diesen Ausführungen über Tertullians Lehre von der ‹regula fidei› beziehe ich mich auf den Aufsatz von G. Hägglund, Die Bedeutung der ‹regula fidei› als Grundlage theologischer Aussagen, in : Studia Theologica 12 (1958) 1-44.

[9] Weitere bei Tertullian vorkommende Termini: ‹lex fidei›: De uirg. uel. 1,4; De spect. 4,1; ‹regula ueritatis›: De praescr. 36; ‹authentica regula›: Adu. Valent. 4.

[10] De monog. 2,3.

[11] Siehe E. Flesseman van Leer, op. cit. S. 165sqq.

[12] De anima 2,7.

[13] De praesc, 14,5.

[14] B. Hägglund, art. cit. S. 4-19; dort auch Verweise auf die Literatur.

[15] Siehe den Sammelband Les sources de Plotin, Entretiens sur l’antiquité classique, Bd. 5, Genf 1960.

[16] A. Solignac, «Le cercle milanais», in: Les Confessions, Bibliothèque augustinienne, Bd. 14, Paris 1962, S. 536.

[17] Conf. 5,19; 7,2.

[18] Siehe P. Courcelle, Recherches sur les Confessions de saint Augsutin, Paris 21968, S. 168-174.

[19] Conf. 7,13sq.

[20] P. Courcelle, op. cit. ebd.

[21] P. Courcelle, op. cit. S. 172sq.

[22] Siehe Anm. 19. Dazu beata u. 4: «lectis autem Plotini paucissimis libris ... conlataque cum eis, quantum potui, etiam illorum auctoritate qui diuina mysteria tradiderunt, sic exarsi, ut omnes illas uellem ancoras rupere, nisi me nonnullorum hominum existimatio commoueret». Augustin las also die Enneaden Plotins schon im Lichte des Evangeliums, vgl. P. Henry, Plotin et l’Occcident, Loewen 1934, S. 90.

[23] Dazu G. Madec, Si Plato uiueret ... (Augustin, De religione 3,3) in: Les cahiers de Fontenay, No 19.20.21.22. Néoplatonisme, Mélanges offerts à Jean Trouillard, Fontenay 1981, S. 231-247. Der Vf. gibt dort S. 235 die einschlägigen Werke an.

[24] Ciu. 8,6: «uiderunt ergo isti philosophi, quos ceteris non immerito fama atque gloria praelatos uidemus, nullum corpus esse deum, et ideo cuncta corpora transcenderunt quaerentes deum. uiderunt quidquid mutabile est non esse summum deum, et ideo animam omnem mutabilesque omnes spiritus transcenderunt quaerentes summum deum ...».

[25] Ib. 10,23: «praedicas patrem et eius filium, quem uocas paternum intellectum seu mentem, et horum medicum, quem putamus te dicere spiritum sanctum, et more uestro appellas tres deos».

[26] Ib. 8,4: « ... Plato utrumque iungendo philosophiam perfecisse laudatur, quam in tres partes distribuit: unam moralem quae maxime in actione uersatur, alteram naturalem quae contemplationi deputata est, tertiam rationalem quae uerum disterminatur a falso».

[27] Ib. nach der Übersetzung von W. Thimme: Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat, Bd. 1, Zürich/München 21978, S. 378. Zur überragenden Autorität Platons in Sachen Philosophie siehe auch Ciceros Wort in Tusc. 1,22: «Platonem semper excipio», das Augustins sicher kannte.

[28] Dazu C. Mayer, «res per signa». Der Grundgedanke des Prologs in Augustins Schrift ‹De doctrina christiana› und das Problem seiner Datierung, in: Revue des études augustiniennes 20 (1974) 100-112.

[29] Doctr. chr. Prooemium 1.

[30] Eine ausgezeichnete Gliederung gibt C. Steffenn, Augustins Schrift «De doctrina christiana». Untersuchungen zum Aufbau, zum Begriffsinhalt und zur Bedeutung der Beredsamkeit (unveröffentliche Dissertation), Kiel 1964. Weitere Arbeiten zur Gliederung: G. Istace, Le livre Ier du «De doctrina christiana» de saint Augustin, Organisation synthétique et méthode mise en œuvre, in: Sylloge Excerptorum e dissertationibus. Universitas C. Lov. Tomus XXVIII, Fasz. 8, 1956, S. 289-330; Y. Miyatani, Grundstruktur und Bedeutung der augustinischen Hermeneutik in «De doctrina christiana», in: Kwansei Gakuin University Annual Studies 23 (1974) 1-14; H.-J. Sieben, Die «res» der Bibel. Eine Analyse von Augustinus, «De doctrina christiana» I-IIII, in: Revue des études augustininennes 21 (1975) 72-90.

[31] Mag. 33. Siehe dazu C. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus, Würzburg 1969, S. 225-234.

[32] So H.-I. Marrou, Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris 41958, S. 343.

[33] Ch. Steffen, op. cit. S. 61 gegen G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942, S. 119.

[34] R. Lorenz, Fruitio Dei bei Augustin, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 63 (1950/51) 75-132; id., Die Herkunft des augustinischen frui deo, in: ebd. 64 (1952/53) 34-60; J. Haussleiter, Zur Herkunft der fruitio dei. Eine Ergänzung zum Aufsatz von Rudolf Lorenz in ZKG 1952-53, in: ebd. 70 (1959) 292; G. Pfligerdorffer, Zu den Grundlagen des augustinischen Begriffspaares «uti-frui», in: Wiener Studien 84 (1971) 195-224; Chadwick, Frui-uti, in: AL 3 (2004) sub prelo.

[35] Plot. 2,8,9,39 und 5,13,20: Das ‹Eine› ist Prinzip vor allem, nicht alles. Ebd. 5,3,11,18: Das ‹Eine› ist vor allem. Siehe dazu Plotins Schriften VI, Indices, bearbeitet von R. Beutler und W. Theiler unter Mitwirkung von G. O’Daly, Hamburg 1971, S. 110.

[36] Rm 11,36: «ex quo omnia, per quem omnia, in quo omnia».

[37] Siehe auch Plot. 1,6,8,40 sowie Hbr. 11,13sq.

[38] Umfassende Darstellung: C.P. Mayer, Herkunft und Normativität des Terminus regula bei Augustin, in: Collectanea Augustiniana, Mélanges T.J. van Bavel, Lovanii 1991, S. 127-154; id., Die Bedeutung des Terminus regula für die Glaubensbegründung und die Glaubensvermittlung bei Augustin, in: Revista Agustiniana 33 (1992) S. 639-675; id., Die Bedeutung des Terminus ‹regula› für das sittliche Handeln des Christen bei Augustin, in: Charisteria Augustiniana Iosepho Oroz Reta dicata, Augustinus 39 (1994) S. 345-356;

[39] 39c zitiert bei Augustinus in cons. eu. 1,53 und in trin. 4,24.

[40] Art. cit. S. 237sq.