ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Vortrag im Haus der Begegnung, Ulm, 13. Oktober 2003. Von Christof Müller

Gedächtnis- und Erinnerungskultur ist gegenwärtig en vogue und in aller Munde. In bezug auf das Individuum hat spätestens Freud den enorm wichtigen und therapeutisch außerordentlich wirksamen Stellenwert des Erinnerns und des Erzählens des Erinnerten heraus- und unter Beweis gestellt; in bezug auf Gemeinschaft, Gesellschaft und Geschichte ist sogar schon spätestens mit Hegel bewußt, daß soziale und kulturelle Gefüge - bei Hegel sogar der ‹Weltgeist› - nicht ohne erinnernde und vergegenwärtigende Rekonstruktion ihrer Herkunft zu einer gefestigten und wirklichkeitsgerechten Identität zu finden vermögen. Wenn die von diesen Einsichten geprägte Gegenwart die Unverzichtbarkeit von Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit auch möglicherweise schärfer wahrnimmt und tiefer ernstnimmt als Epochen vor ihr, so ist sie doch keineswegs die Entdeckerin oder Erfinderin dieser Kulturleistung. Schon weit vor der Neuzeit bestellten in der paganen Antike oder/und in der biblisch-christlichen Welt beheimatete Erfahrungen und Reflexionen das Feld, das modernes Empfinden und Denken erben, ernten und weiter kultivieren durfte.

Wo nun diese beiden Kulturlandschaften von Antike und Bibel sich überlappten, dort blühte - um das lyrische Bild noch etwas weiter zu strapazieren - der Acker des Augustinus von Hippo, der innerhalb der abendländischen Topographie der Gedächtnis- und Erinnerungskultur recht frühe und überaus üppige Geistesfrüchte hervorbrachte. Seine Samen bezog dieser Acker einerseits aus der Anamnesis-Lehre der platonischen Tradition, aber auch aus den Gedächtnistheorien von Aristoteles, Stoa und Rhetorik, andererseits aus dem reichen Fundus an Erinnerungs- und Erzähltradition und -reflexion, die das zeit- und geschichtsbezogene Glauben und Denken der biblischen Welt anzubieten hatte und nach wie vor anbietet. In der augustinischen Lehre von der ‹memoria› verbinden sich diese Samen und Fermente zu einer neuen Kreuzung, einer kraftvollen Synthese, die wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzen ist und ihre Spuren nicht nur dem Mittelalter, sondern ebenso der Neuzeit und Gegenwart eindrückt und zum Beispiel manifest in der philosophischen Schule der Phänomenologie, aber auch der Hermeneutik oder der Geschichtsphilosophie hinterläßt. Kurzum: Es erweist sich als ungemein nützlich und sinnvoll, ja als unbedingt geboten, beim Nachdenken über das Gedächtnis das Gedächtnis an Augustinus nicht außer acht zu lassen und in der Besinnung auf das Erinnern das Erinnern der augustinischen ‹memoria›-Lehre nicht zu vernachlässigen.

Dabei kann im Rahmen dieses Vortrages natürlich nicht die ganze Fülle des Fruchtstandes abgeschritten werden, die Augustins Gedächtnislehre zu bieten hat. So muß hier vor allem der gewaltige soziologische und ekklesiologische Ertrag ausgeblendet bleiben, den die stupende Erinnerungs- und Erzählleistung des Werkes ‹De ciuitate dei - Von der Gottesbürgerschaft› mit seiner theologischen Universalrekonstruktion der Menschheits- und Heilsgeschichte in sich birgt. Diese Ausblendung ist neben der notwendigen Beschränkung durch die Dauer dieses Vortrages inhaltlich vor allem dadurch zu rechtfertigen, daß in ‹De ciuitate dei› die Erinnerungsleistung vorwiegend praktisch geleistet und weniger theoretisch meta-reflektiert wird. Terminus und Theorie der ‹memoria› formieren und formulieren sich bei Augustin hingegen bevorzugt im Kontext von das einzelne Subjekt und seine individuelle Geistigkeit betreffenden Gedankengängen, so zum einen in den ‹Confessiones - Bekenntnissen› im Blick auf Augustins Selbstreflexion, so zum anderen in ‹De trinitate - Über die Dreifaltigkeit› im Blick auf Gottes Innenleben und dessen Abglanz in der Geistigkeit des ‹Abbildes Gottes›, des Menschen. Da letztere Reflexionen zum Teil recht abstrakt und spekulativ wirken, ist es für unseren eher propädeutischen Zweck angeraten, in erster Linie die ‹Confessiones› in Augenschein zu nehmen, da der Denkprozeß Augustins hier gleichsam ‹in actu› nachzuvollziehen - besser: mitzuvollziehen - ist und zudem eine unmittelbar ansprechende persönliche und existentielle Dimension aufweist.

Für die ‹memoria›-Lehre der ‹Confessiones› spielt deren zehntes Buch eine grundlegende Rolle. Führen wir uns kurz die Struktur der augustinischen ‹Bekenntnisse› vor Augen, so kommt allein schon formal dem Buch 10 eine Schlüsselposition zu: In den Büchern 1-9 erinnert und vergegenwärtigt Augustinus seine eigene Lebensgeschichte bis hin zu seiner Bekehrung und Taufe, über die Buch 9 berichtet. Die Bücher 11-13 hingegen beinhalten eine teils litterale, teils figurale Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes aus dem Buch Genesis, genauerhin des 6-Tage-Werkes der Priesterschrift. Es ist hier und jetzt weder Ort noch Zeit, über den komplexen Aufbau der ‹Confessiones› zu reflektieren und über die vielfältigen Verweise und Sinnbezüge zwischen den Büchern 1-9 bzw. 1-10 und den Büchern 11-13 zu räsonieren, jedoch wird bereits auf den ersten Blick deutlich, daß Buch 10 die Naht- und Vermittlungsstelle der zunächst sehr unterschiedlich angelegten und ausgerichteten Bücher 1-9 auf der einen und 11-13 auf der anderen Seite bildet. Vermittlungsstelle ist Buch 10 unter anderem insofern, als Augustin bzw. dessen literarisch-konfessorisches Ich hier nach Abschluß seiner Rechenschaft über die Vergangenheit nunmehr auf die Gegenwart, auf sein gegenwärtiges Selbst schaut, damit aber auch auf die Tiefendimension und transzendentale Verankerung dieses seines Selbst, dieser seiner durch vergegenwärtigte Vergangenheit Kontur und Identität gewinnenden Person und Personalität. Somit vermittelt Buch 10 nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch konkretes biographisches Faktum und universal-menschliche Geiststruktur, vermittelt Kontingent-Besonderes und Ideal-Allgemeines. Nach dieser Vermittlungsleistung von Buch 10 stellt es damit keinen inhaltlichen oder literarischen Bruch dar, wenn Augustin in den Büchern 11-13 nun auf die universale Weite des Schöpfungsgeschehens abhebt und dabei zugleich demonstriert, wie auch in bezug auf die gesamte Weltwirklichkeit Vergangenheit und Gegenwart - und Zukunft - ineinander verschränkt sind, insofern der biblische Schöpfungsbericht für das vom Glauben befähigte Sehvermögen bereits die Epochen der Heilsgeschichte und der Kirche vorherskizziert und der 7. Schöpfungstag sogar die Perspektive auf die eschatologische Vollendung am Ende aller Zeiten aufreißt.

Die genannten Vermittlungsleistungen vermag Buch 10 inhaltlich genauerhin darin zu erbringen, daß es thematisch in erster Linie von der ‹memoria› handelt: Denn genau diese ‹memoria› ist es, die sich in Augustins phänomenologischer Erhellung als dasjenige menschliche ‹Organ›, als diejenige geistige Instanz erweist, mittels derer das in seine Geschichte und damit in die Zeit gedehnte und erstreckte, endliche Individuum zu einem wirklichkeitsgerechten Bewußtsein seiner selbst kommen kann, und das dergestalt, daß die ‹memoria› diese Geschichte in Relation setzt zum transzendentalen und transzendenten göttlichen Urgrund aller Zeit und Geschichte, der ebenfalls in den ‹aulae memoriae›, den Hallen des Gedächtnisses, als letzter Sinnhorizont des endlichen Subjekts aufscheint und dank der Kraft des Eingedenkens zwar kein sicherer Besitz des Subjektes zu werden, wohl aber in diesem zu dauerhafterer Erfahrungsgegenwart zu kommen vermag.

Die Vermittlungsleistung der ‹memoria› ist dabei wirklich ‹vermittelnd› im Sinne eines gegenseitig-relationen Geschehens: Die Vergangenheit des erzählenden und bekennenden Ich kommt nur so zu Klarheit und Bewußtheit, als sie vom gegenwärtigen Ich memoriert wird; doch umgekehrt ist das gegenwärtige Ich nur so in Kenntnis und Selbsthabe seiner eigenen Identität, daß es sich seiner Vergangenheit bewußt ist und sich seine Verstrickung in Geschichte und Geschichten vor Augen führt. Analog dazu gilt, daß das Selbst nur so zur Sammlung aus der Nichtidentität und zum Standortgewinn inmitten des Zeitlich-Vergänglichen gelangt, daß es seine Geschichte auf seinen transzendentalen göttlichen Ursprung hin zusammenzieht und zusammenhält; doch umgekehrt ist dieser transzendentale göttliche Ursprung für das endliche Subjekt nur so erfahrbar, daß die ‹memoria› sich im Normalfall nicht unmittelbar zur Schau des Unendlichen aufzuschwingt, sondern erst nach dem Sich-Abarbeiten an der konkreten, nicht zuletzt von Elend und Schuld gekennzeichneten Geschichte des Individuums den Aufschein des Göttlichen, die Schönheit des Unendlichen wahrzunehmen imstande ist. Das ‹confiteri› der ‹Confessiones›, das ‹Bekennen› der ‹Bekenntnisse› meint beides: Schuldbekenntnis und Glaubensbekenntnis - und das je Eine nur in dem und durch das je Andere. So umfaßt Buch 10 der ‹Confessiones› folgerichtig auch zwei Bewegungen: Die erste in den Paragraphen 8-39 steigt, vermittelt durch die ‹memoria›, auf von ‹unten› nach ‹oben›, vom Endlichen zum Unendlichen, die zweite in den Paragraphen 39-64 begibt sich von den Höhen der Gotteserfahrung wieder hinab in die Versuchungen des endlichen Daseins, in denen diese in der ‹memoria› erinnerte Erfahrung des Unbedingten sich tagtäglich zu bewähren hat. Den Abschluß des Buches in den Paragraphen 65-70 bildet das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem wahren Mittler, der den schwachen, sinnen- und sündenverfallenen Menschen dadurch erlöst, daß er ihn von außen, von innen und von oben her befreit und in den Stand versetzt, die eigene Existenz immer neu auf die in der ‹memoria› wach, bewußt und gegenwärtig gehaltene Erfahrung Gottes und seiner Liebe auszurichten.

Führen wir uns im folgenden einige wesentliche Passagen über die ‹memoria› aus Augustins ‹Confessiones›, Buch 10, konkret vor Augen und achten dabei auch auf die rhetorisch ausgefeilte, poetische Sprache, die die von mir bisweilen herangezogene Übersetzung von Hans Urs von Balthasar im Deutschen zumindest nachzubilden versucht. Ausgangspunkt der Gedankenrhythmen Augustins ist an dieser Stelle, wie erwähnt, der Versuch der Selbstverortung und Selbstvergewisserung des seine Vergangenheit nunmehr abgeschrittenen und nach seiner Identität und darin wesentlich nach seinem Gott und seinem Gottesverhältnis fragenden Ich. So heißt es denn im Paragraphen 9, der stellenweise an den mystischen Aufstieg im Neuplatonismus erinnert und sich von der sinnenhaften Außenwelt in die geistige Innenwelt vollzieht: «Da wandte ich mich mir selbst zu und fragte mich: ‹Wer bist nun du?› Die Antwort war: ‹Mensch›. Ein Leib und eine Seele in mir stehen mir zur Verfügung, der eine außen, die andere innen. Welches von beiden hatte ich nach meinem Gott zu fragen, den ich bereits mit dem Leib von der Erde bis zum Himmel gesucht hatte, soweit ich nur meiner Augen Strahlen hatte aussenden können? Wohl besser das Innere. Ihm hatten ja alle leiblichen Boten Meldung erstattet, als dem zuständigen Richter über alle Antworten des Himmels, der Erde und all ihrer Bewohner, wenn sie sagten: ‹Nicht wir sind Gott ... sondern er hat uns gemacht›. Der innere Mensch hat dies durch den Dienst des äußeren erkannt. Ich, der Innere, habe es erkannt, ich, ich als Geist durch die Sinne meines Leibes». Die Paragraphen 10-11 sondieren sodann genauerhin diese Innerlichkeit und Geistigkeit des Menschen und unterscheiden auch hier wiederum verschiedene anthropologische und darin auch ontologische Seins- und Wertigkeitsstufen: so die lediglich vegetative Schicht der Seele, die auch Pflanzen zu eigen ist; so die Dimension des Bewußtseins, über die nur noch Tier und Mensch verfügen. Doch auch noch über diese Dimension will Augustin in seiner Frage nach seinem letzten Identitäts- und Wahrheitsgrund hinausgehen, denn diese sei ihm ja, wie er formuliert, ‹mit Pferden und Mauleseln gemein› und daher wohl unmöglich das Proprium seiner menschlichen Geistexistenz.

So stößt der aufsteigende Stufenweg Augustins als nächstes zum Gedächtnis vor; hören wir auf den Duktus von Paragraph 12 und seine lebendige, anschauliche Phänomenologie der ‹memoria›: «Auch über diesen (den vorher genannten) Teil meiner Natur will ich also hinausschreiten ... Und so gelange ich in die Gefilde und weiten Hallen des Gedächtnisses (in die ‹aulae memoriae›), wo die Schätze ungezählter Bilder sich häufen, die mir die Sinne von vielfältigen Dingen zusammentrugen. Dort lagert auch alles, was wir denken .... und auch alles sonst Geborgene und Verwahrte, das vom Vergessen noch nicht aufgezehrt und begraben ist. Wenn ich hier weile, verlange ich nur, daß mir das Gewünschte gebracht wird, und manches kommt dann sogleich zum Vorschein, anderes muß länger gesucht und gleichsam aus geheimeren Verliesen heraufgeholt werden, manches stürzt haufenweise hervor, während man etwas anderes begehrt und sucht, und drängt sich vor, als wollte es sagen: ‹Sind wir es vielleicht?› Und die Hand meines Herzens scheucht sie weg vor dem, woran ich mich erinnern will, bis das Gewollte sich endlich enthüllt und aus der Verborgenheit vor meinen Blick tritt».

In den Paragraphen 13-25 betrachtet Augustin sodann verschiedene Bereiche - besser: Seins- und Vollzugsweisen - der ‹memoria› und liefert damit etliche in der Geistesgeschichte bis dahin noch nicht dagewesene Beschreibungen und Analysen der diesbezüglichen Bewußtseinsakte. Zunächst geht er auf den Sinnenbezug der ‹memoria› und deren Verarbeitung ein, auf all das, was dem Geist durch Augen, Ohren, Nase, Tastsinn etc. zugetragen wird. Dabei weist er besonders auf das Phänomen hin, daß das Spezifische einer so oder so gearteten sinnlichen Außenweltwahrnehmung zwar als Spezifisches in Erinnerung bleibt, aber dennoch abstrahiert wird. Wer sich des Geruches eines Veilchens erinnert, der weiß diesen in seinem Gedächtnis genau von dem memorierten Hören eines Liedes zu unterscheiden; und doch ist im Gedächtnis nicht jener Geruch oder jener Klang selbst präsent, sondern dessen jeweiliges Bild, also der Abdruck, den dieser oder jener Sinneseindruck im Geist hinterlassen hat. Zitat Paragraph 14: «Im Innern vollbringe ich dies, in der riesigen Halle meines Gedächtnisses (der besagten ‹aula memoriae›). Dort sind mir Himmel und Erde und Meer gegenwärtig samt allem, was ich darin wahrnehmen konnte ... Dort begegne ich auch mir selbst und erinnere mich, was und wann und wo ich etwas tat und wie mir dabei zumute war». Schon in diesem Bereich des sinnenbezogenen Gedächtnisses staunt Augustin über das Wunderbare und Geheimnisvolle der ‹memoria› und ihrer Akte, und schon hier fasziniert ihn die innere Unendlichkeit des menschlichen Selbstverhältnisses, die unbegrenzte Selbstreflexivität des Menschen in seiner Geistigkeit. Zitat Paragraph 15: «Wahrlich groß ist die Kraft des Gedächtnisses, gewaltig, mein Gott, der weite, grenzenlose Innenraum. Wer ist ihm je auf den Grund gedrungen? ... Und da gehen die Leute hin und bestaunen die Gipfel der Berge, die gewaltigen Meereswellen, die breiten Flußläufe, den Umfang des Ozeans und die Bahnen der Sterne, aber vergessen dabei sich selbst».

Nach der Skizze der ‹Er-Innerung› und ‹Ver-Innerlichung› des Sinnenhaft-Aposteriorischen wendet sich Augustin in den Paragraphen 16-20 der Beschreibung und Analyse der Präsenz der geistig-apriorischen Objekte in der ‹memoria› zu. Dort befindet sich, wie er in Paragraph 16 formuliert, «alles, was ich von den freien Wissenschaften (den ‹disciplinae liberales›) erlernt habe; und zwar trage ich nicht nur Bilder davon in mir, sondern die Sache selbst». Wie und in welcher Gestalt nun aber kommen, so lautet die auch schon von Platon gestellte Frage Augustins, wie und in welcher Gestalt kommen diese apriorischen Gehalte in den menschlichen Geist, also zum Beispiel ideale Begriffe, mathematische Zahlen und Gesetzmäßigkeiten oder logische Evidenzen? Die platonische Vorstellung einer Präexistenz der Seele, die sich nach dem Fall in die Weltwirklichkeit der einst geschauten Ideen und Ideale wiedererinnert, vermag der Christ Augustin nicht zu übernehmen; er verwendet hingegen gelegentlich die ansatzweise im Neuplatonismus entwickelte Metaphorik des Erkenntnislichtes, der ‹Er-Leuchtung›, die besser mit seinem biblisch-christlich geprägten Menschenbild zu vereinbaren zu sein scheint: Demnach leuchten die apriorischen Geistesinhalte im Bewußtsein dank göttlicher Illumination unmittelbar auf und ein. Doch hält Augustin mit Platon daran fest, daß dieses Einleuchten des Intellegiblen gleichwohl ein “Aha-Erlebnis” ist, eine Art Wiedererkennen einer Wahrheit, die unbewußt schon immer im Geist beheimatet, von Gott in den Geist eingeschaffen ist und und nur von daher auch vom Geist als dessen eigene Wahrheit angenommen zu werden vermag. Innerhalb dieses Vorgangs kommt nun erneut der ‹memoria› eine entscheidende Bedeutung als Ort und als Rahmen der intellegiblen Bewußtseinsinhalte zu, insofern sie die im Geist verstreuten und verdunkelten Wahrheits- und Wissensmomente aufbewahrt und dem Bewußtsein zur Synthese und zur Schau darbietet. Zitat Paragraph 18: «Daraus ergibt sich also: Dinge lernen, ... durch sie selbst innerlich wahrnehmen, heißt nichts anderes, als daß wir, was das Gedächtnis verstreut und ungeordnet enthielt, denkend gleichsam zusammenlesen und durch Aufmerksamkeit dafür sorgen, daß es im gleichen Gedächtnis ... nun gleichsam zuhanden sei und mühelos der ... Einsicht des Geistes sich biete».

Die Weite und Tiefe der ‹memoria› erstreckt sich indes nicht nur auf ‹Objekte› - seien sie ursprünglich sinnenhafter oder aber intellegibler Art -, sondern auch auf Akte und Vollzüge, so zum einen auf Gefühle, wie Augustin in den Paragraphen 21-23 erhellt. Auch Gefühle können erinnert werden, doch durch diese ‹Er-Innerung› und ‹Ver-Innerlichung› erfahren sie eine gewisse Sublimierung. So kann ich mich durchaus in freudiger Stimmung meiner vergangenen Trauer erinnern oder umgekehrt in trauriger Verfassung meiner einstigen Freude. Dieses Phänomen erklärt Augustin anhand eines anschaulichen Modells in den Paragraphen 21-22: «Nun ist das Gedächtnis so etwas wie der Magen des Geistes, Freude und Trauer sind wie eine süße und eine bittere Speise; werden sie dem Gedächtnis übergeben, so wandern sie gleichsam in den Magen, wo sie zwar verwahrt werden, aber nicht mehr schmecken können. ... Vielleicht ... werden sie wie die Speise aus dem Magen zum Wiederkäuen aus dem Gedächtnis zum Erinnern heraufgeholt».

Es zeichnet Augustins Umgang mit dem Thema Gedächtnis aus, daß er genau auf die sich seiner Introspektion und Reflexion darstellenden Phänomene achtet und durchaus auch seine gelegentlichen Fragen und Ratlosigkeiten eingesteht. Diese Fragen und Ratlosigkeiten potenzieren sich dort, wo Augustinus nach der Erörterung der Erinnerung an gefühlsbezogene Akte und Vollzüge nunmehr in den Paragraphen 23-25 die Erinnerung an den rein geistigen Akt und Vollzug des Erinnerns selbst zum Gegenstand macht. Denn offensichtlich kann man sich auch des Erinnerns erinnern, ist das Gedächtnis seinerseits im Gedächtnis präsent, ist die ‹memoria› in sich selbstreflexiv-unendlich. Doch daß diese Selbsthabe der ‹memoria› nur eine bedingte und ihrerseits fragwürdige ist, demonstriert Augustin gleich darauf am Phänomen des Vergessens - Zitat Paragraph 24: «Was ... ist das Vergessen anderes als ein Ermangeln des Gedächtnisses? Wie kann es somit da sein, daß ich mich seiner erinnere, wenn ich doch, falls es vorhanden ist, mich nicht erinnern kann? ... Denn wäre das Vergessen durch sich selbst zugegen, so müßte es doch bewirken, daß wir uns nicht erinnerten, sondern eben vergäßen. Wer wird schließlich dieses Rätsel lösen, wer verstehen, wie sich das verhält?»

Die aufgezeigten Aporien dienen Augustin an dieser Stelle seiner Reflexionen dazu, erneut die Ausgangsfrage von Buch 10 der ‹Confessiones› bewußt zu machen und in den Vordergrund zurückzurücken: ‹Wer bin ich selbst eigentlich, was ist mein wahres Ich und was ist dessen tragender Grund?› Auch die ‹memoria› scheint also kein festes Fundament zu sein, auf das das Selbst seine Identität letztlich zu gründen vermag - Zitat Paragraph 25: «Ich ... plage mich damit ab und werde mir selbst zur Plage. ... Daß Dinge, die ich nicht selbst bin, mir fern und fremd sind, ist ja nicht weiter verwunderlich. Aber was ist mir denn eigentlich näher als ich mir selbst? Doch nun entgleitet mir (auch noch dies Eigene und Innere), die Kraft meines Gedächtnisses, obschon ich mich ohne dieses gar nicht ausdrücken kann». Die ‹memoria› und ihr Geheimnis wird somit zum Inbegriff der Größe und Grandiosität wie auch der Fragilität und Fraglichkeit der menschlichen, endlichen Beschaffenheit und Existenz, wie Augustin in Paragraph 26 geradezu hymnisch auf den Begriff bringt: «Groß ist die Macht des Gedächtnisses, es ist ... etwas Schaudererregendes in seiner unendlich tiefen Vielfalt. Und das ist mein Geist; das bin ich selbst! ... Ich durchwandle das alles, taumle dahin und dorthin, tauche ein, so tief ich kann, aber nirgends ein Ende! So gewaltig ist das Gedächtnis, so gewaltig die Lebenskraft des sterblich lebenden Menschen!»

Für den gläubigen Christen und Theologen Augustinus wird eine Antwort auf die Frage ‹Wer bin ich selbst eigentlich?› indes nicht möglich sein ohne die Frage nach Gott als dem Schöpfer und Erhalter, dem Urgrund und Sinnziel des Selbst und der menschlichen Existenz, wie der Durchstoß zur Gotteserfahrung umgekehrt aber auch nur im Rückgang auf und im Durchgang durch das eigene Selbst zu gewinnen ist. So fährt Augustin im selben Paragraphen fort: «Ich will auch diese meine Kraft, Gedächtnis genannt, übersteigen, um hinzustreben zu Dir, süßes Licht. ... Sieh, durch meinen Geist hindurch will ich zu Dir emporsteigen, der du über mir bleibst. ... Ich lasse das Gedächtnis hinter mir, um Dich zu finden - aber wo? Du wahrhaft Guter, Du sicherstes Glück, um Dich zu finden - aber wo? Finde ich dich außerhalb meines Gedächtnisses, dann bin ich Deiner uneingedenk. Doch wie sollte ich Dich finden, wäre ich Deiner uneingedenk?» Dies ist also offensichtlich die Aporie, die Augustinus an dieser Stelle seines Aufstiegs und seiner Reflexion empfindet und entfaltet und die er auch und gerade als Aporie seiner Überlegungen bezüglich der ‹memoria› offenlegt. Bislang nämlich hat Augustin das Gedächtnis ja grundsätzlich als Fähigkeit der geistigen ‹Ver-Gegenwärtigung› verstanden und dargestellt; Vergegenwärtigung einerseits von räumlich-zeitlichen Objekten durch die Präsenz zeit- und raumunabhängigerer geistiger ‹Bilder› dieser Objekte; Vergegenwärtigung andererseits von intellegiblen Gehalten, die als geistige Gegebenheiten im Gedächtnis als sie selbst anwesend sind und bei Bedarf in die Gegenwart, Einheit und Helle des Bewußtseins gerückt werden. Doch wie wäre nun die Vergegenwärtigung und Gegenwart Gottes im Gedächtnis und Geist des Menschen zu denken, Gottes, der weder ein Objekt der räumlich-zeitlichen Außenwelt ist noch auch ein mit anderen Geistesgehalten vergleichbares intellegibles Objekt wie etwa Begriffe oder Zahlen?

Einen Lösungsansatz sieht Augustin darin, daß er Gott als das ‹Aller-Innerlichste› begreift: Gott ist weder einfach in der Außenwelt noch einfach in der Innenwelt des endlichen Geistes, sondern er ist die innerste Innerlichkeit des endlichen Subjektes und als solche in ihm und doch nicht identisch mit ihm, sondern noch einmal subjekttranszendent. Für dieses Modell der geheimnisvollen Gegenwart Gottes im Selbst des Menschen prägte Augustin schon in Buch 3, Paragraph 11 der ‹Confessiones› die Formel: «tu autem eras interior intimo meo - Du, Gott, warst und bist mir innerlicher als mein eigenes Inneres». Dieser zunächst abstrakten Vorstellung verleiht Augustin darin eine existentielle Füllung und Verifizierung, daß er sie mit dem Begriff der ‹Glückseligkeit›, des weiteren dann auch mit dem der ‹Wahrheit› in Verbindung bringt. Gott scheint in der menschlichen Seele auf als deren letzter ersehnter Horizont von Glück und Erfüllung und als deren letzter angestrebter Horizont von Wahrheit und Übereinstimmung. Indem Gott solcherart der die Seele gründende und ausrichtende Sinnhorizont ist, ist er ihr nicht äußerlich, sondern innerlich, jedoch nicht nur innerlich, sondern in solch radikaler und potenzierter Weise innerlich, daß er noch innerlicher als ihr Inneres und somit auch wieder von ihr verschieden und ihr transzendent - eben ihr Sinnhorizont und Ihr Erkenntnislicht und ihr als solcher gegenwärtig ist. Hören wir Augustin selbst in einigen Passagen der Paragraphen 29-30: «Wie soll ich Dich also suchen, Herr? Wenn ich Dich, meinen Gott, suche, dann suche ich das selige Leben. .... Das selige Leben: Ist es nicht das, was alle möchten und was jeder anstreben will? Wo haben sie es aber kennengelernt, um es dergestalt zu begehren? ... Ja, wir besitzen es; aber wie, weiß ich nicht. ... Ich frage mich, ob das selige Leben nicht irgendwie im Gedächtnis verankert ist. Denn wir würden es nicht lieben, wenn wir es nicht irgendwie schon kennen oder erahnen würden. ... Würde man die Menschen fragen: ‹Wollt ihr selig sein?›, so würden sie zweifellos alle einstimmig antworten: ‹Wir wollen›. Das setzt voraus, daß die Sache, die hier ausgedrückt wird, in ihrem Gedächtnis haftet. Ist dieses Erinnern aber so, wie wenn einer sich an Karthago erinnert, das er gesehen hat? Nein. Das selige Leben wird ja nicht mit den Augen geschaut. ... Oder verhält es sich so, wie wenn wir uns an Zahlen erinnern? Keineswegs. Denn was man kennt, das sucht man ja nicht weiterhin zu erwerben. ... Oder ist es so, wie wir uns an eine Freude erinnern? Ja, vielleicht. Denn meiner Freude gedenke ich auch, wenn ich traurig bin, so wie des seligen Lebens, wenn ich elend bin».

In diesen Sätzen wird deutlich, welch gewaltigen Stellenwert Augustin dem Gedächtnis - selbst und gerade für die Gotteserkenntnis - zubilligt. Denn wenn auch menschlicher Geist und menschliches Gedächtnis selbst in ihrem Inneren - anders als bei Plotin und den Neuplatonikern - nicht mit Gott identisch, sondern relational auf ihn verwiesen sind, so kann und soll doch die ‹memoria› immer aufs neue das gelegentliche gnadenhafte Vorleuchten und Aufleuchten dieses Horizonts der Glückseligkeit und damit Gottes selbst erinnern und präsent halten. Da im irdisch-menschlichen Dasein Glücks- und Gotteserfahrungen allenfalls punktuell und oft nur verschleiert gegeben sind, ist es das Gedächtnis, das solche Erfahrungen in seinen Hallen aufbewahrt und klärt und immer wieder zur erinnerten Gegenwart zu bringen und mit dem Horizont dauerhaften ewigen Glücks in Verbindung zu halten vermag - Zitat Paragraph 36: «Denn Du bist der Herr und Gott des Geistes, und alle die geschaffenen Dinge ändern sich, Du aber bleibst unveränderlich über allem und hast Dich doch herabgelassen, in meinem Gedächtnis zu wohnen, seitdem ich Dich kennengelernt habe. ... Sicher ist, daß Du darin wohnst, da ich mich Deiner entsinne und ich Dich darin finde, wann immer ich Deiner eingedenk bin».

Nach diesem Höhepunkt in der Phänomenologie der ‹memoria›, nämlich im Aufweis der Fähigkeit des Gedächtnisses, nicht nur das Ich und seine Welt zu vermitteln, sondern als ein weiteres Vermittlungsmoment - ja als die ontologische Grundlage aller geistig-vergegenwärtigenden Vermittlungsleistung der ‹memoria›- der Erfahrung Gottes selbst Gestalt und Dauer zu geben, wendet sich die Denkbewegung von Buch 10 der ‹Bekenntnisse›, wie eingangs skizziert, erneut den ‹Niederungen› des irdisch-endlichen Lebensalltags mit seinen Momenten von Versuchung und Schuld, von Selbstentfremdung und Gottesverdunkelung zu. Dieser Lebensalltag kann nach dem Gehörten nun aber nicht einfach als ‹schnöde Welt› schlechthin abqualifiziert und abgeschrieben werden, sondern ist für Augustinus gerade die konkrete Situation, die konkrete ‹conditio humana›, an der die Kraft der ‹memoria› und die Höhe der Gotteserfahrung sich abzuarbeiten und zu bewähren haben: Die Alltags- und Lebenswelt des Individuums ist gerade das Material, an dem das Gedächtnis seine Formmacht zu beweisen hat, ist das Material, an dem die ‹memoria› die Vermittlung von Welt, Selbst und Gott zu vollziehen hat.

Diese Vermittlungsleistung der ‹memoria› und ihre Bewährung an der Lebenswelt des Menschen soll im folgenden noch einmal unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt exemplifiziert, profiliert und pointiert, aber auch fortgeführt und in einen weiteren anthropologischen und theologischen Horizont gestellt werden: nämlich unter dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit als einer entscheidenden Grunddimension endlicher Existenz. Es ist kein Zufall, daß sich an Buch 10 der ‹Confessiones› nahezu unmittelbar die fast schon legendäre und nicht nur theologisch, sondern auch und gerade philosophisch vielbeachtete Analyse der Zeit und der Zeitwahrnehmung anschließt, die weite Teile des 11. Buches ausmacht. In dieser Phänomenologie der Zeit und der Zeitlichkeit spielt das Gedächtnis nämlich erneut eine zentrale Rolle.

Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Paragraphen 17-41 des Buches 11. Schon gleich in Paragraph 17 wird die Leitfrage formuliert: «Quid est enim tempus - Was ist denn nun die Zeit?». Was den äußerlichen Anlaß zu dieser Frage betrifft, so hat sich Augustin, wie erwähnt, mit Buch 11 seiner ‹Bekenntnisse› der Auslegung der Schöpfungsgeschichte aus Genesis zugewandt, unter anderem, um seine eigene Vergangenheit und Gegenwart nunmehr in den Horizont der Gesamtheit der Schöpfung und deren Vergangenheit, Gegenwart wie auch Zukunft zu betten. Dabei stellte sich für ihn das gerade auch in der Auseinandersetzung mit der gnostischen Sekte der Manichäer virulent gewordene Problem der Verhältnisbestimmung von Gott und Welt, von göttlicher Ewigkeit und geschöpflicher Zeitlichkeit, zugespitzt in der polemischen Anfrage der Manichäer an den christlichen Schöpfungsglauben, was Gott denn in der Zeit vor der Erschaffung der Welt getan habe. Doch von diesem eher formalen Anlaß abgesehen, ist die Beschäftigung mit der Frage nach Zeit und Zeitlichkeit nicht minder für die inhaltliche Seite und Substanz der ‹Confessiones› maßgeblich. In ihnen setzt sich Augustinus ja - wie gehört - wesentlich mit der Thematik auseinander, wie er selbst - und darin zugleich auch allgemeiner: wie der Mensch - trotz seiner Geworfenheit und seiner Zerstreuung in die Zeitlichkeit seines endlichen Daseins zu sich selbst und zu Gott finden kann, wie er die Zersplitterung seiner Existenz in einzelne zeitliche Vollzüge hinein zur Gegenwart, Sammlung und Beständigkeit vor und in Gott zu einen vermag. Damit steht letztlich sogar Sinn oder Unsinn des Gesamtprojektes der ‹Confessiones› - nämlich des Erinnerns und Erzählens des vergangenen und gegenwärtigen Lebens vor Gott - auf dem Prüfstand, wie Augustinus schon gleich in Paragraph 1 zum Ausdruck bringt: «Wenn Dein Teil, Gott, doch die Ewigkeit ist, ignorierst Du dann möglicherweise dasjenige, was ich Dir hier (an zeitlich Erinnertem) vortrage; oder aber richtest Du Deine Aufmerksamkeit doch auf die Zeit (und achtest auf das), was in der Zeit geschieht?» Denn das ist ja die eigentliche Hoffnung Augustins: daß sich die Liebe des ewigen Gottes auf die zeitlichen Nöte des menschlichen Lebens richten und daß dasjenige, was sich in der Zeit zu verflüchtigen droht, im Horizont Gottes Halt, Rettung und zeitlose Gegenwart gewinnen möge.

Doch wie kann dies geschehen, und wie sollte sich dies dem Menschen in seiner Zeitunterworfenheit vermitteln? Denn zunächst ist die Zeit in Augustins Wahrnehmung die Kategorie des Vergehens, und die zeitliche Existenz ist - so könnte man ihn mit Kierkegaard und Heidegger paraphrasieren - ein ‹Dasein zum Tode›. Von welchem Horizont her und auf welchen Horizont hin sich indes eine heilvollere Perspektive erschließen könnte, dies war ja bereits in Buch 10 angeklungen: Indem der menschliche Geist die vergängliche Welt und die vergängliche Existenz des Menschen in seiner eigenen Innenwelt und in seinem inneren Ich zu vergegenwärtigen vermag, kann er das Schwindende ein Stück weit der Vergänglichkeit entreißen. Doch weil der menschliche Geist seinerseits nur endlich ist, bleibt diese Vergegenwärtigung und ‹Ent-Flüchtigung› des Sich-Verflüchtigenden immer nur Stückwerk, bleibt immer nur partielle und symbolische Verwirklichung derjenigen endgültigen Seinsrettung, die allein der ewige Gott als der Herr über die Zeiten zu schenken imstande ist. Doch schauen wir uns den augustinischen Reflexionsgang im einzelnen genauer an - einen Reflexionsgang, der seine Argumentationslogik nicht zuletzt aus Augustins Auffassung vom Wesen und der Kraft der ‹memoria› bezieht.

Augustins Zeitanalyse geht, wie bei ihm so oft, wiederum zunächst von einem phänomenologischen Befund aus. Zeit wird im allgemeinen wahrgenommen als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch weist Augustin sogleich auf die Problematik dieser vermeintlich so trivialen Wahrnehmung hin, denn die Vergangenheit - wie auch das Vergangene - ‹ist› ja im eigentlichen Sinne gar nicht mehr, und die Zukunft - wie auch das Zukünftige - ‹ist› ja im eigentlichen Sinn noch gar nicht. Somit könnte im Grunde und redlicherweise nur von der Gegenwart und von Gegenwärtigem ‹Sein› und ‹Dasein› im Vollsinne ausgesagt werden. Doch auch die Gegenwart, so setzt Augustin in Paragraph 20 seine ‹Dekonstruktion› weiter fort, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht-seiend, denn sie läßt sich immer weiter in gerade schon vergangene und gerade noch zukünftige Momente aufsplittern, so daß das Präsens allenfalls ein virtueller Grenzwert wäre und letztlich ebenfalls nichts zu Bestand und Dauer der Zeit und des Zeitlichen beitragen könnte. Doch lehrt uns denn nicht die lebensweltliche Alltagserfahrung und Alltagspraxis der Erinnerns und Erzählens, daß auch das Vergangene und die Vergangenheit durchaus irgendwie vorhanden sind, präsent sind, gegenwärtig sind, ebenso wie die Antizipation von und die Hoffnung auf etwas Kommendes uns nahelegt, daß auch die Zukunft und das Zukünftige eine gewisse Seinsgegenwart bei uns und für uns haben? Zur Sicherung und Bestätigung, daß diese lebensweltlichen Erfahrungen und Überzeugungen nicht nur täuschender Schein sind, greift Augustinus nun in Paragraph 26 auf die zuvor in Buch 10 bereits breit entfaltete Struktur und Funktion der ‹memoria› zurück: Die geistige Kraft des Gedächtnisses ist es nämlich, die die Vergangenheit in eine gegenwärtige Vergangenheit einzuholen und ihr somit Dasein, zumindest innere Präsenz zu verleihen vermag. Analoges gilt in Bezug auf Zukunft und auf Zukünftiges für die geistige Kraft der inneren Antizipation und ‹Ver-Gegenwärtigung› des noch Ausstehenden.

Im folgenden treibt Augustin die Phänomenologie der Zeit und des Zeitlichen sowie die Bedeutung des menschlichen Geistes - zumal der ‹memoria› - für deren Wahrnehmung und Erkennbarkeit noch weiter voran. Zeit und Zeitliches stellen sich in der Alltagserfahrung nicht nur in vergegenwärtigten Zeit-Momenten, sondern vielmehr in der Gestalt von Zeit-Längen, Zeit-Strecken, Zeit-Räumen dar, also als ausgedehnte, nicht nur punktuelle, Wirklichkeiten. Ja - die Kategorie der Zeit ist für den Umgang des Menschen mit seiner Lebenswelt gerade deshalb so bedeutend, weil man mit ihr Zeit-Dauern messen und vergleichen kann: ‹Dies dauert halb so lange wie jenes, jenes doppelt so lange wie dieses› und so fort. So scheint die Zeit also, wie Augustin in Paragraph 30 vermutet, in gewisser Weise eine Erstreckung zu sein: «Ich sehe also, daß die Zeit eine ganz bestimmte Ausdehnung - ‹distentio› - ist. Aber sehe ich dies wirklich? Oder scheine ich es nur zu sehen?» Augustinus verwendet unter anderem das Modell des Ertönens eines Liedes, um den hinter den herausgearbeiteten Phänomenen stehenden Geheimnissen von Zeit und Zeitlichem weiter auf den Grund zu gehen. Da offenbar nur dann und da die Ausdehnung und Dauer eines Liedes gemessen werden kann, wenn ‹etwas da ist›, also wenn die Töne gegenwärtig sind, die Gegenwart der Töne aber andererseits, wie zuvor aufgewiesen, eigentlich gar keine Ausdehnung und Dauer hat, müssen die je gegenwärtigen Tonmomente sich offenbar in ein Medium hineinentäußert haben, durch dessen Vermittlung und in dem sie erst eine zeitüberdauernde Präsenz, Repräsentanz und von daher auch Erstreckung finden können. Hier stößt Augustinus erneut auf die Wirkmacht des Geistes und zumal des Gedächtnisses: Die je gegenwärtigen Töne des Liedes bilden sich in den Geist hinein ab, oder besser und genauer umgekehrt: Der der Zeit zwar unterworfene, aber sie dennoch auch ein Stück weit transzendierende und überbrückende Menschengeist bildet das Vorüberziehende in sich ein und ab und verleiht ihm dadurch anteilhaft Bestand und Dauer und damit auch Erstreckung, Ausdehnung, Meßbarkeit und Erkennbarkeit.

Jetzt kann Augustinus auch die Frage von Paragraph 30 beantworten, die da lautete: «Wenn Zeit offenbar eine Ausdehnung ist, wessen Ausdehnung ist sie denn dann?» In Paragraph 33 gibt Augustinus die geistesgeschichtlich nachgerade zum Topos, zum geflügelten Wort gewordene Antwort: «cius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi - wessen Ausdehnung die Zeit ist, weiß ich nicht mit letzter Gewißheit, aber es würde mich wundern, wenn es (nach all dem Gesagten) nicht die ‹distentio animi›, die Ausdehnung der Seele, des Geistes selbst, wäre». Zeiterfahrung, ja das lebensweltliche Phänomen ‹Zeit› als Phänomen, konstituiert sich also allererst durch die Ausdehnung, durch das Sich-Hinein-Erstrecken des menschlichen Geistes in die sinnenhaft gegebene, vergängliche Wirklichkeit. Wenn wir diesen Gedanken speziell auf die Vergangenheit beziehen: Mittels der ‹memoria› bewahrt der menschliche Geist das zeitlich Vorüberziehende und Vorübergezogene vor dem spurenlosen Verschwinden, und zwar in der Weise, daß die ‹memoria› selbst sich als ihrerseits zeitbezogene in die Sphäre des Zeitlichen hineinbegibt, zugleich als der Zeit überlegene aber ihren Gedächtnisinhalt zu ‹ent-flüchtigen›, mit Sein und Gegenwart anzureichern und damit in begrenztem Maße vor der Auflösung ins Nichts zu ‹retten› vermag.

Doch diese Seinsrettung des Vergänglichen durch die ‹memoria› ist, wie gesagt, nur in begrenztem Maße möglich, insofern auch die ‹memoria› selbst nur in begrenztem Maße die Zeit und den Zeitenlauf überragt und ihrerseits nur eine Potenz des endlichen Geistes ist. Diese Endlichkeit zeigt sich zum einen darin, daß das menschliche Gedächtnis zwar die Erinnerung an das Vergangene wachhalten kann, nicht aber das Vergangene und Verstorbene in dessen ureigenem Selbstsein zu erhalten vermag - dies steht allein in der Macht Gottes, von dessen zeitüberlegener Ewigkeit der menschliche Geist nur ein mattes Abbild darstellt. Die Endlichkeit der Zeitüberlegenheit des Menschengeistes zeigt sich zum anderen darin, daß das Sich-Einlassen auf und in die Sphäre des Zeitlichen und Vergänglichen den Geist und die ‹memoria› und somit den ganzen memorierenden Menschen selbst desto massiver der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit aussetzt. In Paragraph 39 von Buch 11 der ‹Confessiones› weist Augustinus deutlich auf diese bedrohliche Seite der ‹distentio animi›, der Ausstreckung und Ausdehnung der Seele ins Zeitliche, hin, da der Geist hierbei ständig in Gefahr steht, sich selbst in die Vielheit und Vergänglichkeit hinein zu verheddern und zu zerfleddern: «ecce distentio est uita mea - sieh, mein eigenes Leben ist eine Zerdehnung». ‹Distentio - Zer-Dehnung› hat hierbei durchaus auch die Konnotation von ‹Zer-Streuung›, wie Augustinus sie tagtäglich selbst erfährt, wenn er durch seine kirchlichen und theologischen, pastoralen und amtsgeschäftlichen Verpflichtungen gehetzt wird und nicht zur Ruhe, nicht zu sich selbst und nicht zur Kontemplation Gottes kommt. Bereits in Buch 9, Paragraph 10 hat er diese existentielle Befindlichkeit und Lebensnot auf die Formel gebracht: «deuorans tempora et deuoratus temporibus - die Zeiten verschlingen und dabei zugleich von den Zeiten verschlungen werden» - eine Situation und Erfahrung, die dem heutigen Menschen der westlichen Welt wohl alles andere als fremd sein dürfte.

Ihre überzeitliche und zeitüberlegene Dimension wird die Menschenseele nun aber nach Augustins Überzeugung nur dann geltend und fruchtbar machen können, wenn sie trotz und in aller Zeitverbundenheit auch ihre Transzendenz wahrt - das heißt für den Kirchenvater: ihren Gottesbezug realisiert. Ihrer anthropologischen Stellung und Aufgabe als Vermittlungsinstanz von Welt, Selbst und Gott kann die Seele und kann zumal die ‹memoria› nur dann gerecht werden, wenn sie die ‹distentio› letztlich in der ‹intentio›, wenn sie die ‹Zerstreuung› in die Welt letztlich in der ‹Sammlung› vor Gott zusammenhält. Dabei hat der Begriff von ‹intentio› - ebenso wie zuvor der der ‹distentio› - für Augustinus einen praktisch-spirituellen Beiklang: ‹Sammlung› heißt hier auch ‹meditative, geistige und geistliche Sammlung›, vor allem im Gebet; heißt ‹Zu-sich-selbst-Kommen› in Gestalt des ‹Zu-Gott-Kommens›. Bei alledem ist die bewahrende und sammelnde Potenz des menschlichen Geistes und darin zuvörderst des Gedächtnisses freilich nur eine vorläufige, bruchstückhafte und antizipierende: Es gehört zu Augustins tiefsten Glaubensüberzeugungen, daß eine wirklich gelungene Vermittlung von Welt, Selbst und Gott dem endlichen Geistwesen Mensch erst in der eschatologischen Vollendung beschieden ist. Insofern ist für Augustinus nicht nur - um mit Goethe zu sprechen - alles Vergängliche lediglich ein Gleichnis, sondern ebenso auch das Gedächtnis in seiner begrenzten Wirkmacht nur ein Symbol, nur eine Verheißung. Zur wahren Sammlung und Ganzheit, zur wahren Integrität und Identität und zur wahren Gegenwart und Geborgenheit werden das Selbst und seine Welt erst dann gelangen, wenn Gott am Ende aller Zeiten alles in allem ist.

Versuchen wir abschließend eine Zusammenfassung der augustinischen Gedächtnislehre zu geben und eine Würdigung ihres Beitrags zur Kulturgeschichte des Abendlandes zu skizzieren: Augustinus von Hippo macht, indem er pagan-antike und biblische Traditionen aufgreift, synthetisiert und weiterführt, in seinem Denken und in seinen Werken ernst mit der Einsicht, daß die Identität von lebendigen endlichen Subjekten - seien sie Individuen oder Kollektive - geschichtlich ist. Mensch und Gesellschaft sind in Zeit, Geschichte und Geschichten eingebunden, häufig genug auch verstrickt; man wird sich ihnen nicht wirklichkeitsgerecht nähern und sie nicht wahrheitsgemäß begreifen können, wenn man nicht ihre jeweilige Vergangenheit, Herkunft und Geschichte erinnert und vergegenwärtigt. Diese Erinnerung und Vergegenwärtigung ist ureigene Aufgabe der Gedächtniskraft, der ‹memoria›, die damit in den Rang der maßgeblichen geistigen Instanz zur Erkenntnis der geschaffenen, endlichen Welt und Wirklichkeit gehoben ist. In besonders breiter und intensiver Weise entfaltet Augustinus diese Einsicht in bezug auf das individuelle Ich, dessen Selbstbild und Selbstwerdung, dessen Zu-sich-selbst-Kommen. Demnach erhellt das authentische Selbst des Menschen sich nicht in der nackten, abstrakten Innerlichkeit des bloßen ‹Cogito - ich denke bzw. es denkt in mir›, wie es beim Neuplatoniker Plotin vorgestellt wurde, sondern rekonstruiert sich im Memorieren seines teils beglückenden, teils frustrierenden, teils beängstigenden Geworfen-Seins in die Sphäre zeitlichen Handelns wie Erleidens. Auch die zeitunterworfene Lebenswelt des Individuums konstituiert und rekonstruiert sich erst dadurch zu einer einigermaßen erkennbaren und gestaltbaren Ordnung, Struktur und Ganzheit, daß das Gedächtnis die Daten aus der Außenwelt sammelt, vergegenwärtigt, synthetisiert und mittels seiner inneren zeitüberdauernden Kategorien wertet und auswertet. Auf diesem Gebiet rekrutiert Augustin - in Abweichung vom bzw. in Ergänzung des Idealismus platonischer Provenienz - Elemente aus dem Wirklichkeitsverständnis und der Erkenntnistheorie von Stoa und Rhetorik, aber auch aus dem Schöpfungsdenken der Bibel, wenn er die zeitlich-sinnenhafte Außenwelt nicht nur als Schwundstufe der intellegiblen Urbilder begreift, sondern als zwar endliche, geschaffene und abgeschattete, aber doch auch eigenständige und nicht restlos in eine rein geistige Idee aufhebbare Realität.

Die Vermittlungsleistung der ‹memoria› fungiert indes nicht nur zwischen der zeitlich-sinnenhaften Außenwelt und der intellegiblen Innenwelt des Menschen, sondern bezieht als dritte Vermittlungsebene - bzw. als die transzendentale Möglichkeitsbedingung einer jeden Vermittlung überhaupt - die Sphäre des Göttlichen ein. Dieses ‹memoria›-Modell Augustins spiegelt seine Ontologie und Anthropologie wider, wonach der Mensch sich in der Mitte des ‹ordo›, der kosmischen Weltordnung, bewegt und mit einem Teil seiner Existenz in der ‹unteren Welt› des Zeitlich-Sinnenhaften, im ‹mundus sensibilis›, wurzelt und mit dem anderen Teil seiner Existenz in die geistige Welt, den ‹mundus intellegibilis›, ragt und durch diesen hindurch in wenigen gnadenreichen Momenten sogar einen Mantelzipfel des Schöpfers und Herren dieser Welten, einen Lichtstrahl der zeitlos-ewigen Transzendenz Gottes selbst erfassen darf. Daß diese Mittelstellung des Menschen diesen gleichwohl nicht - wie bei Plotin - in einen ‹guten› und einen ‹schlechten› Teil auseinanderreißt, dafür steht nicht zuletzt die Vermittlungsleistung der ‹memoria› ein. Sie sorgt dafür, daß - wie gehört - das Zeitlich-Sinnenhafte und zumal das Vergangene im Geist gegenwärtig und auf die Intellegibilia, ja letztlich sogar auf das Licht des göttlichen Schöpfungsgrundes hin transparent werden; sie sorgt umgekehrt aber ebenso dafür, daß die Erfahrung des Geistigen und - an dessen Horizont - das punktuelle Erhaschen des einleuchtenden göttlichen Schöpfungsgrundes selbst sich immer neu am Material der zeitlich-sinnenhaften Welt und Lebenswelt abarbeitet und darin bewährt. Gerade in der gerafften Zusammenfassung der Gedankengänge Augustins dürfte daher noch einmal deutlich werden, warum und inwiefern dieses Referat das augustinische Gedächtnis, die ‹memoria›, als den entscheidenden ‹Vermittlungsort von Welt, Selbst und Gott› tituliert und charakterisiert hat.

Schließlich - wo können und müssen wir Grenzen der augustinischen Gedächtnislehre ausmachen? Denn wenn Augustins Konzept der ‹memoria› auch für seine eigene Zeit geradezu genial und für die nachfolgenden Zeiten enorm anregend und wegweisend war, so weist es doch ganz natürlicherweise bestimmte Begrenzungen und Beschränkungen auf, von denen hier exemplarisch drei angedeutet werden sollen. Erstens die idealistische Beschränkung: Augustins Gedächtnislehre bleibt trotz der gegenüber der platonischen Tradition vollzogenen Aufwertung der zeitlich-sinnenhaften Außenwelt dem Primat des Ideenhaften und dem Primat der Innerlichkeit verhaftet. Das Erinnern und Gedenken als Leistung des ‹homo interior - des inneren Menschen› vergegenwärtigt nicht nur das zeitlich Vergangene, sondern sublimiert es zugleich in eine geistigere Gestalt. Durch die Sublimierung kommt es aber auch zu einer Subsumierung des Konkreten unter das Allgemeine einer intellegiblen Form, wodurch das nunmehr im erinnernden Geist Präsente zwar eine dauerhaftere und höhere Seinsstufe besitzt, zugleich aber auch ein Stück weit die Rückbindung an das äußerlich-sinnlich-konkrete Objekt verliert, dem die Erinnerung doch eigentlich galt. Die Dinge der Außenwelt sind für Augustins Erkenntnis- und Wahrheitstheorie vornehmlich ‹signa - Zeichen›, die das erkennende - hier das erinnernde - Subjekt lediglich zum Anlaß und Anstoß nimmt, um seine Aufmerksamkeit fort vom Außen nach Innen, zum Geistigen zu wenden, weil dort die für die Selbstwerdung des Menschen entscheidenden ‹res - also Dinge, intellegible Wirklichkeiten› wohnen und dort das eigentlichere Sein und die reinere Wahrheit zuhause sind. Zwar konzediert Augustin die Notwendigkeit, ja sogar die Aufgabe, daß der Mensch während seines Erdendaseins aus der Innerlichkeit und Geistigkeit - hier konkret: aus den Hallen seines Gedächtnisses - sich immer neu der zeitlich-sinnlichen Außenwelt zuwenden muß, doch ist aufgrund der idealistischen Prägung Augustins diese Zuwendung nie so konstitutiv gedacht, geschweige denn so positiv gewertet wie zum Beispiel bei Thomas von Aquin mit seinem aristotelischen Hintergrund oder wie bei den meisten Denkern der Neuzeit und der Gegenwart.

Zweitens die theologische Beschränkung: Augustinus entwickelt seine Gedächtnislehre vorwiegend in theologischer Absicht und Ausrichtung - dies ist zwar an und für sich mitnichten ein Fehler seines Ansatzes, aber durchaus eine Begrenzung, insofern bei ihm eine dezidiert philosophische Analyse und Auslegung der ‹memoria› unterbelichtet bleibt. Die beim Umgang mit Zeitlichem und beim Erinnern vollzogene ‹distentio - Ausdehnung› der ‹anima› in die irdische Wirklichkeit hinein wird durch seine idealistisch-theologische Konzeption vorrangig als Gefahr für das Seelenheil verstanden, der es durch die möglichst umgehende Rückholung des Erinnerten in die Innerlichkeit und durch die Sammlung des Vergegenwärtigten vor dem Angesicht Gottes zu wehren gilt. Von daher vermag es nicht zu verwundern, daß die sich säkularisierende Neuzeit in weiten Teilen ihrer Gedächtniskultur von dieser Komponente der augustinischen ‹memoria›-Lehre abgewichen ist. Wiewohl es umgekehrt weiten Teilen der neuzeitlichen und modernen Gedächtniskultur sicherlich nicht schaden würde, sich ihre - wenn nicht notwendig transzendenten, so doch aber transzendentalen Voraussetzungen und Implikationen bewußter zu machen. Denn ist menschliches Eingedenken, ist das erinnernde Am-Leben-Halten des Vergangenen und Verstorbenen nicht immer auch ein Versuch der ‹Seins-Rettung› des Vergänglichen, dessen Gelingen dem menschlichen Gedenken als solchem in Vollendung gar nicht möglich ist? Ist menschliches Eingedenken somit nicht immer auch eine Verheißung, die darauf hoffen muß, daß eine viel größere und viel selbstlosere Macht als diejenige des menschlichen Gedächtnisses das Zeitunterworfene vor der endgültigen Vernichtung bewahren wird?

Drittens die individualistische Beschränkung: Augustin beschreibt und analysiert Wesen und Aufgabe der ‹memoria› in erster Linie mit individualanthropologischem Interesse und Fokus. Zwar entwirft er mit den Büchern 11-22 von ‹De ciuitate dei› - wie eingangs erwähnt - faktisch eine narrative Kollektiv-‹memoria› der Geschichte des Gottesvolkes, teilweise auch der Erdenstaaten, doch verbindet er dieses geschichtsphilosophische bzw. geschichtstheologische Anliegen und Verfahren nirgendwo mit seiner ausdrücklichen Gedächtnistheorie vor allem aus den ‹Confessiones› und aus ‹De trinitate›. Umgekehrt und komplementär dazu verleiht Augustin innerhalb seiner expliziten, individualanthropologischen ‹memoria›-Lehre der Erinnerung kaum eine soziale Komponente; die interpersonale und sprachliche Vermittlung, ja häufig sogar Konstituierung des Erinnerns bleibt auffallend ausgeblendet und tritt völlig in den Hintergrund gegenüber der Dominanz des Dialoges mit Gott. In dieser Hinsicht bleibt Augustinus nicht nur hinter vielen gedächtnistheoretischen Einsichten neuzeitlichen Denkens zurück, sondern leider ebenso hinter den elementaren Grundlagen der biblischen Erinnerungs- und Erzählkultur.

So war und ist es wohl Aufgabe der nachfolgenden Jahrhunderte, die Begrenzungen und Beschränkungen der augustinischen Gedächtnislehre zu weiten, ohne indes ihre enorme geistesgeschichtliche Bedeutung aus dem Auge zu verlieren. Denn wer die Geschichte der Erinnerungskultur des Abendlandes memoriert, der kann und darf dabei die ‹memoria›-Lehre des Augustinus von Hippo nicht vergessen!