ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Prinzipien der Ästhetik Augustins

Cornelius Mayer

Festrede anlässlich der Überreichung des dem Bischof von Würzburg, Dr. Friedhelm Hofmann gewidmeten Buches Gnade – Freiheit – Rechtfertigung. Augustinische Topoi und ihre Wirkungsgeschichte am 18. Juli 2007 im Museum am Dom.

Werde ich nach dem schönsten Buch über Augustinus gefragt, was nicht selten passiert, so antworte ich ohne Zögern: Augustinus der Seelsorger. Leben und Wirken eines Kirchenvaters von Fritz van der Meer. Das Buch ist 1946 in Holland erschienen und in viele Sprachen übersetzt. Nun war Augustinus gewiss nicht nur Seelsorger. Er war ebenso Theologe und Philosoph, Pädagoge und Psychologe, Grammatiker und Linguist – um nur einige Wissenszweige und Tätigkeitsbereiche zu nennen –, von Beruf war er jedoch Rhetor und als solcher Künstler. Die beispiellose Wirkungsgeschichte seines Den-kens gründet nicht zuletzt darin .

Augustinus brillierte durch Sprache. Wohin immer er als Bischof auf seinen zahlreichen Reisen zu Synoden und Konzilien kam, wollte man ihn predigen hören. Dabei kam es ihm primär auf die Sache an, die er zu verkündigen hatte – auf jene Sache, die sei es in Wort, sei es in Schrift gleichsam in den sinnlichen Bereich der Sprache drängt. Diesen Eindruck gewinnt man auch bei der Lektüre seiner theologischen Werke, mustergültig in seinen Confessiones. Er verfasste diese epochale Schrift zum Beginn seines Episkopates. Am Ende seine Lebens urteilt er selbst über sie: «Die dreizehn Bücher meiner Bekenntnisse rühmen Gott, den gerechten und guten sowohl des Bösen wie des Guten in mir; sie erheben des Menschen Verstand und Gemüt auf ihn hin. Auf mich haben sie jedenfalls so gewirkt, als ich sie schrieb, und sie tun dies noch, so oft ich sie lese. Was andere dabei empfinden, mögen sie selbst sehen. Ich weiß jedoch, dass sie vielen Brüdern sehr gefallen haben und immer noch gefallen» .

In diesen, den ästhetischen wie intellektuellen Ansprüchen einer breiten Leserschaft genug tuenden Bekenntnissen bedient Augustinus sich neben einer narrativen weithin auch einer reflexiven Sprache, die den Leser immer wieder zum Innehalten und zum Verweilen einlädt, wenn sie ihn nicht gar zwingt. Der stößt z.B. gleich im ersten Absatz der Confessiones auf den wahrscheinlich meist zitierten Satz aus dem Gesamtwerk des Kirchenvaters: «... auf dich hin hast du uns geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir» . Eine Art Dialektik von ‹Unruhe› und ‹Ruhe› durchzieht wie ein Roter Faden alle Teile dieses Werkes, das, indem es den Leitgedanken von der Ruhe wieder aufgreift, mit den rhetorisch vollendeten Sätzen schließt: «Dass wir im großen Schoße deiner Heiligung ruhen werden, wenn wir sie (sc. unsere Werke mit Hilfe deiner Gnade) vollbracht haben werden, das hoffen wir. Du aber, Gut, das keines anderen Guts bedarf, bist immer ruhevoll, denn du selber bist deine Ruhe. Dies zu begreifen, wer von den Menschen könnte es einem Menschen geben? ... welcher Engel einem Menschen? Von dir muss man es erbitten, in dir muss man es suchen, an deiner Türe muss man klopfen: so, so wird man es empfangen, so es finden, und so wird einem aufgetan» .

Diese Kostprobe einer ausgefeilten Kunstprosa mag genügen, um zu sehen, mit welcher Meisterschaft Augustinus die Sprache zu handhaben verstand.

Wenn wir uns unserem Thema zuwenden, so sei zunächst die Frage nach der Herkunft der Prinzipien der augustinischen Ästhetik beantwortet. Wir haben in der Laudatio bereits von der Erstlingsschrift Augustins, die das Schöne und Angemessene zum Gegenstand hatte, gehört. Diese Schrift wurde etwa um das Jahr 380 verfasst, als Augustinus noch in Karthago Grammatik und Rhetorik lehrte. Wenngleich er sich später mit diesem Erstlingswerk nicht mehr identifizieren wollte, weil sich deren Analysen vorzüglich im Bereich des Materiellen bewegten , so bezeugt es doch bereits sein ausgeprägtes Interesse am Schönen.

Fünf Jahre später lernte Augustinus – er war bereits Professor der Rhetorik in Mailand – die Philosophie der Platoniker und mit ihr auch die Prinzipien einer Ästhetik kennen, die sich vorzüglich im Bereich des Geistigen bewegte, und die er sich nach seiner Bekehrung modifiziert zu eigen machte. Mit größter Wahrscheinlichkeit las Augustinus noch während seines Aufenthaltes in Mailand einige Schriften Plotins, des Hauptes der sogenannten Neuplatoniker, darunter jene Über das Schöne. Darin unterscheidet und scheidet Plotin zwischen dem Schönen ‹im Bereich des Sinnlichen›, das vergeht, und dem Schönen ‹im Bereich des Geistigen›, das nicht vergeht . Schönes und Schönheit zeichnen danach die Grundstruktur des Seins aus. Etwas in Raum und Zeit ist schön, weil es Teil hat an der unwandelbaren und unvergänglichen Idee der Schönheit. Die Philosophie, so lehrten sie ebenfalls, habet die Aufgabe, dem Menschen den Aufstieg vom Schönen, das vergeht, zum Schönen, das bleibt, zu lehren .

Kehren wir zu Augustinus zurück. Dieser gab bald nach seiner Bekeh-rung seine Lehrtätigkeit zu Gunsten einer reichen schriftstellerischen Tätigkeit auf . In seinen Frühschriften beschäftigte er sich vorzüglich mit philosophischen Fragen. Eine dieser Schriften trägt den bezeichnenden Titel Über die Ordnung. Darin vertrat er die Ansicht, der Aufstieg zu Gott könne vom Menschen neben dem offenbarten Glau-ben auch – wenn nicht gar vorzüglich – auf dem Wege der Reflexion über das Universum bewältigt werden.

Der Begriff ‹universum› – abzuleiten vom lateinischen ‹unum› und ‹versus›, bedeutet eigentlich ‹in eins gekehrt, in eine Einheit zusammengefasst› – verweist wie von selbst auf ein Ordnungsgesetz, das die Dinge in Raum und Zeit strukturiert. Denn unstrukturiert könnten wir diese nicht erkennen. Unterscheidbar und damit auch erkennbar werden sie nur, weil sie Einheiten sind. Ihre Einheit verleiht ihnen Gestalt und Form, an der wir sie erkennen. ‹Einheit› ist somit zugleich das Maß ihrer Schönheit , ihr Quell ist Gott, «die Schönheit alles Schönen – pulchritudo pulchrorum omnium» .

Schon Plotin lehrte, dass es die vollkommene Einheit nur im Bereich der Transzendenz gibt . Im Bereich des Sinnlichen ist sie lediglich als Abschattung präsent. Mit den Platonikern sprach auch Augustinus von den ‹Spuren der Einheit› an den Körpern. Diese sind ihrer wahren Einheit ähnlich und unähnlich zugleich . Die Neuplatoniker nannten aus diesem Grunde die Spitze des Seins, aus dem alles Seiende hervorgeht, konsequent ‹das Eine - ἕν›. Für Augustinus war dieses Eine seit seiner Bekehrung der offenbarte Gott, den die Christen im Hinblick auf den biblischen Schöpfungsbericht einen Künstler nannten. Sie sprachen vom ‹deus artifex› und betrachteten das von ihm erschaffene Universum als Muster allen künstlerischen Schaffens. «Gott ist in der Weise Künstler im Großen, dass er im Kleinen nicht klein ist», schreibt Augustinus in einem seiner Kommentare zum Schöpfungsbericht der Bibel .

Natürlich übersah Augustinus das Hässliche in diesem Universum nicht. Er betrachtete es als einen Defekt am Seienden und er verglich diesen Zustand des gegenwärtigen Universums mit den dunklen Farben in einem Gemälde, die diesem zusammen mit den hellen seine ihm eigene Schönheit verleihen . Kritiker der Schönheit des Universums verglich er mit Menschen auf einem Mosaikboden, deren beschränkter Blick nicht über ihr Umfeld hinausreicht. Sie tadeln den Künstler, weil sie in der Vielfalt lediglich die Unordnung und nicht die Ordnung des Ganzen in seiner bewundernswerten Schönheit überblicken . Die Schönheit des Universums gründet jedoch gerade darin, dass jedes Seiende den ihm zugewiesenen Ort einnimmt.

Gott ist in der Weise Inbegriff des Schönen, in der er zugleich auch Inbegriff des Wahren ist. Daraus folgert Augustinus, die in Gott gründenden Prinzipien der Ästhetik müssten samt ihrer daraus abgeleiteten Normen intellegibler bzw. rationaler Natur sein. Daraus wieder folgert er, weil die ‹ratio›, die Vernunft, als Ordnungsprinzip über allem stehe, werde das Schönsein der Dinge erst durch die Schau ihres rationalen Ordnungsprinzips recht erfasst. Die Wahrnehmung des Schönen verläuft also sowohl von oben, von ihrem transzendenten Grund nach unten, zu den Spuren des Schönen an den Dingen, wie auch von diesen Spuren unten zum Ursprung alles Schönen oben. Es versteht sich von selbst, dass der Betrachter des Schönen jene einzigartige und wahre Schönheit mehr lieben soll als die, welche sich ihm in den Dingen zeigt .

Wenden wir uns nunmehr der Lehre Augustins von der Kunst zu. In seiner Schrift Über die wahre Religion kommt er ausführlich darauf zu sprechen . Kunst, so betont er vielsagend, sei nicht mit Kunstfertigkeit zu verwechseln, denn Kunst habe es ebenfalls mit der Vernunft zu tun. Er stellt dort die Frage, warum eine harmonisch gleiche Anordnung der Fenster an einem Gebäude gefalle, während eine ungleiche unser ästhetisches Empfinden verletze. Daraus zieht er den Schluss: In allen Sparten der Kunst sei es die Übereinstimmung, ‹convenientia›, ferner die Gleichheit, ‹aequalitas›, und nicht zuletzt die Einheit, ‹unitas›, die das Gefallen, ‹delectatio›, in uns erwecke. Jedoch, so fragt er kritisch weiter, gibt es das Gleiche überhaupt in dieser veränderlichen Welt? Seine Antwort lautet: ‹Wahre Gleichheit› könne mit den Augen genau so wenig gesehen werden wie ‹wahre Einheit›. Schon in früheren Schriften legte er dar, dass geometrische Figuren an Gegenständen, etwa das Dreieck oder der Kreis auf einer Tafel, streng genommen immer nur annähernd ihrer idealen Form entsprächen. Eher könne man mit einem Schiff auf dem Trockenen fahren, bemerkt er dort, als mit den Sinnen Geometrie treiben . Ein Anderes ist also das Schöne in einer konkreten Gestalt und ein Anderes ist das ‹Gesetz der Gleichheit, der Ähnlichkeit und der Übereinstimmung›, wonach der Künstler sein Werk schafft und wonach die Betrachter dessen Werk beurteilen. Letzteres, weil unwandelbar, steht über allen Künsten. Kunstverständnis und Kunstgenuss haben es vorzüglich damit zu tun.

Augustinus hat auch sechs Bücher über die Musik geschrieben. Darin hebt er ebenfalls das Verstehen der Gesetze der Musik als Kunst von der Kunstfertigkeit, Musik zu machen, radikal ab. «Musik», so definiert er dort, «ist die Wissenschaft der rechten Gestaltung – musica est scientia bene modulandi» . Die Musik als Kunst hat es also ebenfalls mit Wissen zu tun; auch in ihr dominiert die ‹ratio›, die Kenntnis der Zahlen und der Zahlenverhältnisse. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich zu wissen, dass ‹ratio› im Latein ursprünglich ‹Rechnung› oder ‹Berechnung› bedeutet; davon abgeleitet dann die ‹Geistestätigkeit›, die ‹Überlegung›, die ‹Begründung›, die ‹Regel›, und nicht zuletzt jene Kenntnis, welche der Umgang mit den Zahlen erfordert .

In den Büchern Über die Musik geht es vorzüglich um die Metrik , um die Versmaße und um den Rhythmus in der Lyrik, die man in der Antike offensichtlich zur Musik zählte. In der erwähnten Definition spielt das Umstandswort ‹bene› mit der Grundbedeutung ‹gut, recht, gehörig› die entscheidende Rolle, denn dieses ‹bene› bezieht sich auf die Proportionalität und Rationalität sämtlicher Elemente der Musik, der Melodie, der Harmonie, des Taktes, des Rhythmus usw. Wieder grenzt Augustin die Musik als Kunst von dem sonstigen Musizieren ab, mag diese mit noch so großer Virtuosität vorgetragen werden. Freilich können Musikverstand und Virtuosität in einer Person vereint sein, der Liebhaber der Musik als Kunst müsse aber kein Virtuose, wohl aber ein Wissender sein.

Ein Wissender ist, der die Zahlenstruktur der Musik kennt . Denn Zahlen liegen bereits den wahrgenommenen Tönen und Rhythmen der Musik zugrunde. Wir sprechen von einem ganzen Ton, einem halben, einem viertel usw., ähnlich herrscht in den Versfüßen, den Jamben, den Trochäen usw. die Zahl, die deren Längen und Kürzen regelt. Augustinus spricht im Hinblick auf die akustischen Schwingungen der Musik von den tönenden Zahlen, den ‹numeri sonantes› . Diese erregen jedoch lediglich die Aufmerksamkeit beim Hören eines Verses oder eines Liedes, denn das Musikhören ist weniger eine Sache des Ohres, als des Verstandes. Dieser erfasst nämlich die zahlhaften Schwingungen, die ihm vom Sinnesorgan über einen ‹inneren Sinn›, den ‹sensus interior› , vermittelt wurden, und er vergleicht sie mit jenen Zahlen, über die er bei der Beurteilung der musikalischen Vorgänge verfügt. Augustin nennt diese Zahlen sinnvoll ‹iudiciales - Urteiler› . Das Verstehen der Musik hat somit dieser Lehre zufolge die Fähigkeit zur Voraussetzung, das Wahrgenommene mit den Zahlen beurteilen zu können, welche die Musik oder die Lyrik als Wissenschaft und in diesem Sinn als Kunst ausweisen.

Augustinus hat den ästhetischen Aspekt der platonischen Tradition produktiv und konsequenzenreich auch in einen theologischen Kontext übertragen . Seine Reflexionen über das Schöne beherrschen neben Fragen der Philosophie ebenso die der Theologie, der Trinitätslehre, der Christologie etc. In gebotener Kürze soll noch davon die Rede sein.

Die im augustinischen Œuvre des öfteren erwähnte Genitivverbindung von den ‹Spuren Gottes› in theologischen Texten verdeutlicht noch einmal die Richtigkeit des schon Gesagten. Da ist z.B. die Lehre des Kirchenvaters von der ‹Gottebenbildlichkeit des Menschen› nach Gen. 1,26, bei deren Darstellung er mit Hinweisen auf den ‹urschönen, alles schönmachenden Gott› nicht sparsam ist. Die ‹Gottebenbildlichkeit des Menschen› bezieht Augustin freilich ausdrücklich und nachdrücklich auf den dreieinigen Gott. Das heißt, er will die ‹Gottebenbildlichkeit des Menschen› in allen drei göttlichen Personen ver-ankert wissen. Dies hat Konsequenzen für die Anthropologie, denn dank seiner ‹Gottebenbildlichkeit› vermag der Mensch über seine gemeinsame triadische Struktur mit Gott sich selbst in seinem Sein, in seinem Erkennen und in seinem Wollen besser zu verstehen .

Unter ästhetischen Kategorien erörtert Augustin auch den Glauben an die Erlösung des Menschen durch Christi Heilswerk. Durch perverses Begehren – so die Bibel – büßte der Mensch seine exzellente Stellung ein. Der Sündenfall, sagt Augustin, machte ihn hässlich, schön aber im Sinne einer Wiederherstellung seines Urstandes könne er sich allein nicht machen . Dazu bedarf es des Christus, des Künstlers und des Arztes, den Gott in die Welt gesandt hat. Gottes eingeborener Sohn kam jedoch nicht in seiner gottgleichen Schönheit in die Welt. Augustin reflektiert das Mysterium der Inkarnation im Hinblick auf dessen Kreuzestod als ein Hässlichwerden – ganz im Sinne der ‹Entäußerung› nach der Verkündigung des Apostels Paulus im Philipperbrief 2,6-11 .

Ebenso vermag Augustinus auch das übrige Heilswerk Christi, die Gnade, die Kirche, die Sakramente, die eschatologischen Verheißungen in typisch ästhetischen Begriffen theologisch durchzudenken und zu artikulieren. Dies geschieht allerdings nicht mehr in der Sprache der Platoniker, sondern vorzüglich in der Sprache der Bibel, speziell der Psalmen . Der Kern seiner Pastoral blieb aber nach wie vor die Bemühung, den Menschen den Weg zu Gott zu zeigen und sie zum Aufstieg, sei es durch die Betrachtung des Schönen, sei es durch das Evangelium zu motivieren.

Im zehnten Buch seiner Confessiones – ich halte es für das Schönste – zeichnet Augustinus mustergültig beide Wege. Er beginnt mit dem der Philosophen. Schon im ersten Satz wird das beherrschende Thema klar formuliert: «Ich werde dich erkennen, der du mich kennst,‹ich werde dich erkennen, wie auch ich erkannt bin›». Die Unmöglichkeit einer perfekten Gotteserkenntnis hier und jetzt schon ist damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Das als ‹unruhig› bezeichnete ‹Herz› kommt erst nach Vollendung seiner irdischen Pilgerschaft zur ersehnten ‹Ruhe›. Mit einer dramatischer Sprache – wer wollte das dem Rhetor Augustinus verübeln? – wendet dieser sich der Erde, dem Meer, den Lüften und den Gestirnen mit der Bitte zu, sie mögen ihm von seinem Gott sprechen. «Mein Fragen war mein sinnendes Be-trachten und ihre Antwort ihre Schönheit», heißt es da. «Suche höher. ... Wir sind nicht Gott. ... ‹Er hat uns geschaffen›» , lautet ihre Antwort.

Das zu suchende Höhere in der Ordnung des Seienden ist die Seele mit dem Gedächtnis, die ‹memoria›, deren Bereich er in imposanten Bildern schildert . Man dürfte in der Literatur kaum Treffenderes darüber finden als in diesen Kapiteln. Die schier alle Tiefenpsychologie in den Schatten stellenden Analysen dienen einerseits dem Nachweis der Größe des in gewisser Hinsicht souverän über die Welt des Geistes verfügenden Menschen, sie gewähren jedoch zugleich auch Einblick in die Unzulänglichkeit und in die Gebrechen unserer Seelenkräfte – man lese nur das Kapitel 16 über die Tortur des Vergessens! Die Geistseele ist also ebenfalls nicht Gott. Aber in ihr präsentieren sich der Ver-nunft die Grundlagen des zeitlos sicheren Wissens, die Gesetze der Logik und allem voran die der Zahlen und der Maße, von denen niemand behaupten kann, sie würden eines Tage nicht mehr gelten.

Das ‹Wahr-Sein› dieser Gesetze gründet nicht in der Geistseele, sondern in der intellegiblen Transzendenz der ‹Wahrheit›, die für die Christen Gott ist. «Wo ich die Wahrheit fand, da habe ich meinen Gott, die Wahrheit selbst, gefunden und ich habe sie nicht vergessen, seit dem ich sie gefunden habe» , heißt es gegen Ende des Abschnitts über den Aufstieg. Wie sehr das Suchen und Finden der Wahrheit zugleich ein Suchen und Finden der Schönheit ist, zeigen die Sätze, mit denen der Aufstieg in den Confessiones schließt.

«Spät habe ich dich geliebt, o Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich dich geliebt. Und siehe, du warst drinnen und ich war draußen, und dort suchte ich dich, und auf das Schöngestaltete, das du geschaffen, warf ich mich missgestaltet. Du warst mit mir und ich war nicht bei dir. Und weit hielt mich von dir, was gar kein Dasein hätte, wäre es nicht in dir. Du hast gerufen, ja geschrieen und meine Taubheit zerrissen; du hast geblitzt und gestrahlt und meine Blindheit verscheucht; du hast geduftet, und ich habe den Hauch eingeatmet und lechze nun nach dir; ich habe gekostet, nun hungere ich und dürste; du hast mich angerührt, und da bin ich entbrannt nach deinem Frie-den» .

Die Einsicht in die Verflechtung platonisch-philosophischer und biblisch-heilsgeschichtlicher Gedanken, die in dem besprochenen Abschnitt der Confessiones eine seltene Dichte erreicht, ist für das Verständnis der Schriften Augustins eine der wichtigsten Voraussetzungen. Der weithin mit Begriffen der neuplatonischen Stufenontologie geschilderte Aufstieg mündet jedoch nicht in ein exstatisches Erlebnis, sondern in einen Lobpreis, dessen hymnische Sprache vorzüglich von heilsgeschichtlichen Kategorien bestimmt ist. Das biblische Gottesbild bricht darin in voller Intensität durch. Obgleich die Parabel vom verlorenen Sohn, Lk 15,11-32, mit keinem Wort erwähnt wird, so merkt doch der Kenner sofort, welcher Vorstellungswelt die Texte wie ‹missgestaltet warf ich mich auf das Schöngestaltete› und ‹weit hielt ich mich von dir entfernt› entnommen sind. Worauf es Augustinus anzukommen scheint, ist der sich gleichfalls von der Parabel her nahelegende Gedanke, dass Gott immer schon bei ihm war, und dass er es war, der als ‹artifex mundi› und als der ‹Erlöser der Welt› seinerzeit seine Bekehrung bewirkte, dass er aber auch heute noch jeden und jede über die Betrachtung der Schönheit seiner Geschöpfe zu sich, dem Urheber der Schönheit, zieht und durch sein Heilswerk an sich bindet.