Augustinus – Vater der abendländischen Theologie

Für ein Radiopublikum zeichnete Rüdiger Achenbach den aufsehenerregenden Weg des jungen Augustinus vom Intellektuellen, Rhetorikprofessor und kaiserlichen Propagandaminister zum Bischof von Hippo und schließlich Vater der abendländischen Theologie nach. Die vierteilige Reihe wurde zur Jahreswende 2007/2008 in der Rubrik "Tag für Tag" des Deutschlandfunks ausgestrahlt. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlichen wir auf diesen Seiten das Manuskript der Sendereihe. Sie behandelt folgende Themen:

Das Studium der Rhetorik und die Suche nach Weisheit
Die Karriere am kaiserlichen Hof von Mailand
Der Bischof von Hippo und der Staat im Dienst der Kirche
Der Fall von Rom und der Gottesstaat


Augustinus – Vater der abendländischen Theologie (1)
Das Studium der Rhetorik und die Suche nach Weisheit

Von Rüdiger Achenbach

"Ich kam nach Karthago. Dort umlärmte mich von allen Seiten ein wilder Wirrwarr wüsten Liebestreibens. Und ich kehrte in der Fülle meines Dünkels den feinen Mann von Welt hervor ... und ich stürzte mich in die Liebe, von der ich mich gefesselt wünschte."

Im Jahr 371 kam Augustinus, als siebzehnjähriger Junge vom Lande, zum Studium in die Provinzhauptstadt. Und wie viele andere junge Männer, die damals aus den Kleinstädten und Dörfern Nordafrikas zum Studium nach Karthago kamen, sammelte er „erste Erfahrungen der Freiheit“ in einer großen Stadt. Er tobte sich in der Studentenszene aus, entdeckt das Theater, die Dichterwettstreite und eine blühende Literaturszene.

"In solcher Gesellschaft studierte ich damals, in noch ungefestigtem Alter, die Lehrbücher der Redekunst, in der mich auszuzeichnen mein ganzer Ehrgeiz war."

Aufgewachsen war Augustinus in der Kleinstadt Tagaste, die heute Souk Ahras heißt und im Osten Algeriens liegt. In dieser bäuerlichen Landschaft war er 354 als eines von drei Kindern geboren worden. Der Vater Patricius besaß ein paar Morgen Land, war aber keineswegs reich. Augustinus selbst nennt ihn einen Bürger mit bescheidenen Mitteln. Trotzdem setzten die Eltern alles daran, ihrem begabten Sohn Augustinus eine klassische Bildung zu ermöglichen, damit er einmal eine bessere gesellschaftliche Stellung erreichen sollte.

Vor allem das Studium der Rhetorik, also der Redekunst, galt damals als eine Art Schlüsselqualifikation, um Aussicht auf ein hohes Staatsamt zu bekommen. Und Augustinus hat dieses Ziel mit sehr viel Ehrgeiz verfolgt.

"Schon bald galt ich was in der Rhetorenschule und freute mich hochmütig und blähte mich auf vor Eitelkeit."

Doch Augustinus verbringt seine Zeit durchaus nicht nur in Bibliotheken. Er ist mit seinen Gefährten auch immer wieder auf der Suche nach Abenteuern aller Art.

Jahrzehnte später wird er diese Zeit als eine Phase sexueller Haltlosigkeit und Ausschweifung bezeichnen. Zwischen seinem 17. und 18. Lebensjahr hat er sich dann auch ein Mädchen aus Dienstbotenkreisen zur Bettgenossin genommen. Und schon bald geht aus dieser Verbindung ein Sohn hervor, der den Namen Adeodatus erhält, die lateinische Form des griechischen Namens Theodor, also „Von Gott gegeben“. Im Rückblick schildert Augustinus diesen Lebensabschnitt als einen Zustand innerer Unruhe und Zerrissenheit. Bis ihm plötzlich beim Studium der Schriften Ciceros der Dialog „Hortensius“ in die Hände fällt.

"Es war dieses Buch, das meinen Sinn veränderte. Plötzlich war all meine eitle Erwartung für mich ohne Wert und mit unglaublicher Inbrunst begehrte ich nach der unsterblichen Weisheit."

Cicero hatte in ihm die Liebe zur Philosophie geweckt. Augustinus war jetzt fest entschlossen, das Streben nach Weisheit im Sinne Ciceros zu seinem Lebensziel zu machen. Und er begann, sich ernsthaft mit ethischen und religiösen Fragen zu beschäftigen.

Auch das Christentum war ihm nicht fremd. Monnica, seine Mutter, war Christin und lebte ihren Glauben sehr intensiv. Sie hatte auch alles unternommen, um ihre Kinder in ihre Religion einzuführen. Doch Augustinus konnte sich nicht sonderlich für das Christentum begeistern. Der Oxforder Kirchenhistoriker Peter Brown:

"Die Religion der Christen in Nordafrika war recht drastisch. Ekstatische Erlebnisse suchte man in Trunkenheit, Gesang und wilden Tänzen. Der Alkoholismus war in afrikanischen Gemeinden tatsächlich weit verbreitet. Träume und Trancezustände waren alltäglich. Und einfache Bauern lagen oft tagelang im Koma. Auch Monnica war in einer christlichen Familie streng erzogen worden und hing an den herkömmlichen Gebräuchen innerhalb der afrikanischen Kirche, die von Gebildeten als 'primitiv' abgelehnt wurden."

Außerdem vertrat das nordafrikanische Christentum eine sehr rigoristische Gesetzlichkeit. Augustinus betrachtete die Religion seiner Mutter daher immer mit großer Skepsis. Dennoch erinnerte er sich aber auch, dass manche Christen von Christus auch als der Weisheit Gottes sprachen und ihn auf ihren Sarkophagen als Lehrer der Weisheit darstellen ließen. Und dieser Weisheitsgedanke war es, der Augustinus nun dazu brachte, die Bibel zu lesen, um der Sache näher auf den Grund zu gehen. Doch was er da las, schien wenig mit der hochgeistigen Weisheit zu tun zu haben, die er bei Cicero kennengelernt hatte. Der Cambridger Kirchenhistoriker Henry Chadwick:

"Die Rätselhaftigkeit dessen, was er darin fand, und der barbarische Stil stießen ihn ab. Dies war kein Buch für einen Mann, dessen Geist an die elegante Diktion Ciceros gewöhnt war. Mit Abscheu wandte sich Augustinus auch von dem recht naiv erscheinenden Mythos über Adam und Eva und von der zweifelhaften Moral der israelitischen Patriarchen ab. Und die mögliche Aussicht, dass er eventuell doch zur Kirche seiner Mutter finden werde, erhielt schließlich durch die Unvereinbarkeit der beiden Jesus-Stammbäume bei Matthäus und Lukas den Gnadenstoß."

Vor allem wegen seiner Schriften konnte das Christentum ihn nicht überzeugen.

Viel überzeugender erschien ihm dagegen die Lehre der Manichäer. Diese Religionsgemeinschaft war im 3. Jahrhundert von dem Perser Mani gegründet worden und verstand sich als die Vollendung aller Religionen. Der Manichäismus vertrat einen kosmischen Dualismus, in dem sich der Gott des Lichtes als Prinzip des Guten und der Gott der Finsternis, der Schöpfer der sichtbaren Welt als Prinzip des Bösen, im ständigen Kämpf gegenüberstanden.

Alle Materie gehört zum Reich des Bösen. Deshalb müssen die Seelen, die ursprünglich aus dem Reich des Lichtes stammen, aus der Materie der Schöpfung befreit und ins Reich das Lichts zurückgeführt werden. Wenn der Mensch zu dieser Erkenntnis gelangt ist, strebt er danach, seine Seele durch einen besonders asketischen Lebenswandel aus der Welt der Körper zu befreien.

Die Gemeinden der Manichäer bestanden aus zwei Klassen von Anhängern, einmal „die Erwählten“, sie durften zum Beispiel kein Fleisch essen und keine Kinder zeugen, um die Materie, also das Böse, nicht zu vermehren. Zum anderen die untere Klasse, die aus den sogenannten „Hörern“ bestand, die in der manichäischen Lehre weniger weit fortgeschrittenen waren. Für sie galten die strengen Lebensregeln nicht. Deshalb mussten ihre Seelen noch durch viele Wiederverkörperungen hindurchgehen, bevor sie das Stadium eines Erwählten erreichen konnten.

Während die Kirche von ihren Anhängern verlangte, bestimmte Glaubensinhalte einfach zu glauben, räumten die Manichäer der Vernunft und dem freien Denken mehr Raum ein. Das kam Augustinus entgegen und er schloss sich als sogenannter Hörer dieser Religionsgemeinschaft an. Nach abgeschlossener Ausbildung kehrte er dann in seine Geburtsstadt zurück. Er kam also nach Hause mit einer Geliebten, einem unehelichen Sohn und mit einer neuen Religion. Das wäre eventuell noch zu ertragen gewesen. Aber als Augustinus dann versuchte, seine Mutter zum Manichäismus zu bekehren, verlor die überzeugte Christin die Geduld und warf ihn aus dem Haus.

Augustinus kehrte also nach Karthago zurück und unterrichtete dort als Rhetoriklehrer. Nebenbei betrieb er Propaganda für die Religion der Manichäer und es gelang ihm, auch Jugendfreunde wie Alypius für diese Religion zu gewinnen.

Aber die Begegnung mit einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des Manichäismus, Faustus von Mileve, der sich für einige Zeit in Karthago aufhielt, führte dann zu einer großen Enttäuschung. Augustinus musste nämlich feststellen, dass die Beredsamkeit dieses Mannes weit größer als dessen Denkvermögen war.

"Nachdem mir deutlich geworden war, dass Faustus in den Wissenschaften, in denen er nach meiner Ansicht hätte glänzen müssen, nur Unkenntnis an den Tag legte, gab ich allmählich die Hoffnung auf, er könne die Probleme, die mich bewegten, zu meiner Zufriedenheit lösen."

Und obwohl er nun dem Manichäismus gegenüber kritischer wurde, blieb er dennoch Mitglied dieser Religionsgemeinschaft.

"Es war nicht so, dass ich mich von den Manichäern gänzlich hätte trennen wollen. Ich fasste vielmehr den Entschluss, mich vorläufig damit zufriedenzugeben; vielleicht zeigte sich ja einmal etwas Lichtvolleres, dem dann der Vorzug zu geben sei."

Augustinus war also wieder von Neuem auf der Suche nach der Wahrheit. Dazu kam auch, dass ihn die Bedingungen seiner Lehrtätigkeit zu ärgern begannen.

"In Karthago herrscht unter den Schülern eine verabscheuungswürdige und maßlose Dreistigkeit. In unverschämter Weise dringen sie in den Hörsaal ein und bringen mit an Raserei grenzender Frechheit die Ordnung durcheinander, die der Lehrer zum Besten seiner Schüler eingeführt hat."

Augustinus war inzwischen 29 Jahre alt und von der Vorstellung umgetrieben, seinen beruflichen Erfolg weiter auszubauen. Da er in Karthago keine großen Möglichkeiten für sich sah, beschloss er, nach Rom zu gehen. Doch der Abschied aus Nordafrika nahm fast die Züge einer griechischen Tragödie an.

Inzwischen war nämlich Monnica nach Karthago gekommen, um ihren Sohn doch noch auf den rechten christlichen Weg zu führen. Augustinus fühlte sich belästigt. Er organisierte die Schiffsreise nach Rom, ohne der Mutter davon zu erzählen. Doch sie schien zu ahnen, dass er etwas vorhatte, und wich ihm nicht von der Seite. Auch am Tag der geplanten Abreise folgte sie ihm bis in den Hafen. Augustinus hat die Szene später in seinen Bekenntnissen festgehalten:

"Ich gab vor, ich wolle nur einem Freund bis zu seiner Abreise Gesellschaft leisten.
So belog ich die Mutter und brachte sie in die Cyprian-Kapelle ganz in der Nähe unseres Schiffes, um dort auf mich zu warten. In dieser Nacht fuhr ich heimlich davon."

Er ließ seine Lebensgefährtin, seinen Sohn und seine Mutter zurück und brach alle Bücken hinter sich ab.

"Der Wind blies und schwellte die Segel und entzog unseren Blicken die Küste, wo am Morgen die Mutter wahnsinnig vor Schmerz klagte und stöhnte."

Augustinus hatte sich dem Einfluss der allgegenwärtigen Mutter entzogen und war in eine ungewisse Zukunft unterwegs. Noch konnte er nicht ahnen, dass gerade die Tatsache, dass er kein Christ war, ihm zu einem enormen Karrieresprung verhelfen sollte.

Folge 2 >

© DLF - Gesendet: 31.12.2007

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Augustinus – Vater der abendländischen Theologie (2)
Die Karriere am kaiserlichen Hof von Mailand

Von Rüdiger Achenbach

"Mit Eifer begann ich nun auszuführen, wozu ich nach Rom gekommen war. Ich lehrte die Redekunst und sammelte zunächst in meiner Wohnung einige Schüler um mich, mit denen und durch die ich allmählich bekannt wurde."

Doch schon nach einigen Monaten seiner Lehrtätigkeit in Rom eröffneten sich für Augustinus völlig neue Perspektiven. Denn in Mailand wurde an der kaiserlichen Residenz ein Rhetorikprofessor gesucht, der gleichzeitig auch die Funktion eines kaiserlichen Propagandaministers zu übernehmen hatte.

Dass Augustinus sich auf diesen Posten bewerben konnte, verdankte er Symmachus, dem Präfekten der Stadt Rom, den er durch die Vermittlung seiner manichäischen Freunde kennengelernt hatte. Symmachus war ein hochgebildeter Mann, der zutiefst mit der antiken römischen Kultur und Religion verbunden war.

Er war sofort bereit, Augustinus nach Mailand zu empfehlen, weil der keiner christlichen Kirche angehörte. Denn für den Adel in Rom, der noch an der alten römischen Religion festhielt, war der Einfluss der arianischen und der katholischen Kirche am Kaiserhof in Mailand ohnehin viel zu groß. Deshalb brauchte man dort einen Mann, der den Christen Paroli bieten konnte. Und das sollte Augustinus sein. Dass er Manichäer war, interessiert dabei nicht, wichtig war nur, dass er kein Christ war.

Im Herbst 384 trat Augustinus dann in Mailand tatsächlich seine neue Stelle an. Er hatte inzwischen sogar seine Lebensgefährtin und seinen Sohn nach Mailand nachkommen lassen, um nun mit ihnen in der neuen Umgebung zusammenzuleben. Allerdings hatte Augustinus die Rechnung ohne seine Mutter Monnica gemacht. Sobald sie von dem Umzug ihres Sohnes erfahren hatte, reiste auch sie ihm von Nordafrika nach Mailand nach. Sie wollte sich nicht damit zufrieden geben, dass Augustinus sich ihrem Einfluss entzogen hatte.

Der Cambridger Kirchenhistoriker Henry Chadwick:

"Seine Mutter, die ihn aufopfernd bis nach Mailand verfolgt hatte, erkannte ganz deutlich, dass die ungebildete Tisch- und Bettgenossin ihres Sohnes seinem Wunsch nach Auszeichnung und Ehre in der großen Welt ganz entschieden im Wege stand."

Monnica redete deshalb so lange auf ihn ein, bis er seine nicht standesgemäße Lebensgefährtin, mit der er 13 Jahre zuammengewesen war, nach Nordafrika zurückschickte. Den gemeinsamen Sohn Adeodatus behielt Augustinus bei sich.

Der Augustinus-Experte Uwe Neumann:

"Für die Gefühle dieser Frau, deren Namen er übrigens nirgends mitteilt, hat er kein Wort übrig. Als Mensch hat Augustinus übrigens an dieser Stelle versagt, und dieses Versagen wiegt um so schwerer, als ihm für die Verletzung eines anderen Menschen jedes Empfinden fehlt. Die Liebe zwischen Mann und Frau wird von Augustinus im Wesentlichen nur als geschlechtliches Verhältnis aufgefasst."

Monnica organisierte dann innerhalb kurzer Zeit die Verlobung mit einem Mädchen, das aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie stammte. Ihre Mitgift sollte Augustinus gesellschaftsfähig machen. Da das Mädchen aber erst 12 Jahre alt war, musste der inzwischen dreißigjährige Augustinus noch zwei Jahre bis zu seiner Eheschließung warten.

Einem gesellschaftlichen Aufstieg standen nun keine Hindernisse mehr im Weg.

Augustinus scheint sich nun voll und ganz den Plänen seiner Mutter gefügt zu haben. Auch der christliche Glaube Monnicas, den er bisher als eine Religion der Altweiberfabeln abgelehnt hatte, begann ihn plötzlich zu interessieren.

Ausgelöst wurde dieses Interesse durch den Mailänder Bischof Ambrosius, den ersten intellektuellen Christen, den Augustinus in seinem Leben kennenlernte.

Durch die Begegnung mit Ambrosius erkannte er, dass der christliche Glaube nicht so primitiv sein musste, wie er ihn bisher erlebt hatte, sondern dass die christliche Religion durchaus auch den Gebildeten etwas zu sagen hatte. Er lernte von Ambrosius, der in der Tradition der griechischen Kirchenväter stand, die Texte der Bibel allegorisch auszulegen und nach ihrer übertragenen Bedeutung zu suchen.

Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Mit Staunen bemerkt Augustinus, wie sich durch die allegorische Auslegung die vermeintlichen Ungereimtheiten und Altweiberfabeln der Bibel tiefer verstehen lassen und wie hinter den scheinbar primitiven Vorstellungen der Texte eine gewaltige Gesamtschau Gottes, der Welt und der Menschen erkennbar wird."

Für Augustinus tat sich hier im Umgang mit den Heiligen Schriften ein völlig neuer Horizont auf. Er betont jetzt ausdrücklich, dass nichts gefährlicher sei, als die Bibel wörtlich zu nehmen. Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch: "Augustinus war vielen Theologen des 20. Jahrhunderts darin überlegen, dass er die Notwendigkeit einer philosophischen Bibelauslegung erkannte."

Durch Simplicianus, den Lehrer des Ambrosius, kam Augustinus dann in einen Kreis von Christen, für die die Lehre des Christentums und die Philosophie des Platonismus selbstverständlich übereinstimmten. Denn schließlich hatte Christus gesagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Und Platon sagte dasselbe von seinem Reich der Ideen.

Augustinus war begeistert, den Schlüssel zur Weisheit, nach dem er schon so lange gesucht hatte, endlich gefunden zu haben. Alles hing letztlich davon ab, dass die sinnliche und sichtbare Welt, die uns erkennbar umgibt, von der geistigen und unsichtbaren Welt, an der auch unsere Seele Anteil hat, unterschieden wird.

Dabei ist die unsichtbare Welt die wahre Welt. Und um zur wahren Erkenntnis zu gelangen, muss man sich möglichst von der sichtbaren Welt abwenden und sich auf sich selbst zurückziehen.

Durch das Studium der neuplatonischen Schriften konnte Augustinus auch endlich die Lehren des Manichäismus überwinden.

Der Kirchenhistoriker Ernst Dassmann: "Sie halfen ihm auch, sein Gottesbild zu klären, Gott rein geistig zu denken und nicht mit irgendwelchen Formen von Körperlichkeit zu verbinden. Sie befreiten ihn von dem Dualismus, der von zwei Göttern oder Prinzipien ausging, einem guten und einem bösen, und lehrten ihn zu begreifen, dass alles auf Gott als ein einziges Prinzip zurückgeführt werden muss und das Böse, das malum, nicht eine selbständige Wirklichkeit darstellt, sondern nur einen Mangel an Sein."

Jede Spekulation, die versuchte Gott in irgendeiner Weise dinghaft zu machen, weist er daher kategorisch zurück:

"Wenn du es begriffen hast, dann ist es nicht Gott."

Augustinus erschloss sich ein völlig neues Weltbild, in dem die Welt der Erfahrungen und das Leben der Menschen in sich keinen Wert haben, sondern sie sind nur ein Mittel, um ein ganz anderes Ziel zu erreichen. Enthusiastisch ruft er jetzt aus:

"Nur Gott und die Seele will ich erkennen, sonst nichts."

In seinen Bekenntnissen, die Augustinus viele Jahre später schrieb, schildert er seinen Weg zum Christentum dann im Rückblick in einer dramatischen Gartenszene. Er hört dort eine Kinderstimme singen „Nimm und lies“, darauf schlägt er eine Stelle in den Paulus–Briefen auf und ist bekehrt. In den anderen, früher verfassten autobiographischen Schriften des Augustinus fehlt dieser Bericht. Der Augustinus-Experte Uwe Neumann:

"Der Bericht der Bekenntnisse ist deutlich darauf angelegt, die anderen, weniger wunderbaren Motive in den Hintergrund treten zu lassen und die Bekehrung in gewisser Weise mythisch zu überhöhen."

Augustinus zieht sich schließlich für einige Monate mit einigen Freunden in ein Landgut am Comer See zurück, wo er gemeinsam mit den Freunden nach dem Vorbild von Ciceros Tusculum philosophisch-theologische Diskussionen führt.

Als er nach einem halben Jahr nach Mailand zurückkehrt, hat er seine philosophischen Studien und sein Verhältnis zum Christentum geordnet. Uwe Neumann: "Augustinus folgert, dass sich mit der Vernunft offensichtlich nur wenige befreien lassen, für die breite Masse muss die Autorität hinzukommen. Das Christentum hatte durch die Menschwerdung Christi dasjenige erfahrbar gemacht, was die antiken Philosophien für einen jeweils kleinen Kreis als Lehre anboten."

Christus verkörpert also in sichtbarer Form das, was die Philosophie in einer reinen, unsichtbaren Form sucht. Das Ziel für beide Wege ist immer: den Ursprung des Menschen in Gott zu erfassen. Wobei Augustinus „Gott“ jenseits von Raum und Zeit existierend denkt, denn in Raum und Zeit kann der Mensch keine letzte Glückseligkeit und Vollkommenheit finden.

In der Osternacht 387 lassen sich dann Augustinus, sein Sohn Adeodatus und Alypius, sein Jugendfreund, von Bischof Ambrosius in Mailand taufen. Augustinus gibt jetzt sein Amt als Rhetorikprofessor und seine Ehepläne auf.

Er beschließt in die Heimat nach Nordafrika zurückzukehren. Die Zeit des Suchens ist vorüber, ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Und da er inzwischen erstmals von christlichen Mönchen in Ägypten erfahren hat, die sich als Eremiten in die Wüste zurückziehen, um sich ganz der Kontemplation hinzugeben, beschließt auch er, künftig ein „monastisches“ Leben zu führen.

Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen:

"Was Augustinus sich wünscht, ist ein stilles, philosophisches Leben mit Freunden zurückgezogen, ausschließlich auf Gott gerichtet und dem Streben nach wahrer Erkenntnis geweiht."

Einem Freund schreibt er, dass all sein Streben nur noch auf das „deificari in otio“, also auf das „in Ruhe Gott ähnlich werden“ ausgerichtet sei. Doch diese ersehnte Ruhe sollte nicht lange anhalten. Denn schon bald wurde Augustinus in die Wirren der Kirchenpolitik hineingezogen.

< Folge 1 Folge 3 >

© DLF - Gesendet: 02.01.2008

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Augustinus - Vater der abendländischen Theologie (3)
Der Bischof von Hippo und der Staat im Dienst der Kirche

Von Rüdiger Achenbach

"Die Kirche war zum Bersten angefüllt mit Gläubigen. Die Apsis erstrahlte im Glanz unzähliger Kerzen. Dort saß der greise Bischof Valerius, ein gebürtiger Grieche. In seinem mühsamen Latein mit fremdländischem Akzent erklärte er den versammelten Gläubigen, er leide an den Folgen des Alters und bedürfe vor allem bei der Ausübung seines Predigtamtes der Hilfe eines jungen Geistlichen.
Eben in diesem Moment hatte Augustinus die Basilika betreten und versuchte nun sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, um weiter ins Innere vorzudringen.
Da hörte er plötzlich, wie das Volk laut seinen Namen rief: Augustinus, Augustinus!
Und schon ergriffen ihn zahlreiche Hände, trugen ihn zum Chor und ließen ihn vor den Füßen des Bischofs nieder, der ihn ohne Zögern sofort zum Priester weihte."

Possidius, der Schüler und Biograph des Augustinus, schildert das Ereignis wie eine Szene in einem Drehbuch. Sein Lehrer, sagte er, habe ihm dieses Ereignis genau so geschildert.

Tatsächlich hatte Augustinus sich im Jahr 391 zufällig in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo Regius aufgehalten, um einen Freund zu besuchen. Und während eines Kirchganges war er auf die Bitte der Stadtbevölkerung hin zum Priester geweiht worden. Dies wird aber kaum ohne seine Zustimmung geschehen sein.

Und jedermann, auch Augustinus, wusste, dass er damit zum Nachfolger des alten Valerius ins Bischofsamt berufen worden war. Obwohl er gerade das bisher immer vermeiden wollte.

"Ich fürchtete das Bischofsamt so sehr, dass ich, sobald mein Ruf unter den 'Dienern Gottes' eine Rolle spielte, in keinen Ort mehr ging, von dem ich wusste, dass es dort keinen Bischof gab."

Die „Diener Gottes“, die „servi Dei“, nannte man die klosterähnliche Lebensgemeinschaft die Augustinus nach seiner Rückkehr nach Nordafrika auf dem Familienbesitz in Tagaste gegründet hatte. Dort lebte er mit seinen Freunden. Sein Sohn Adeodatus war bereits im Jahr 390 im Alter von 18 Jahren verstorben. Durch sein klosterähnliches Leben in Tagaste wurde Augustinus zum Begründer des Mönchtums in der abendländischen Kirche. Monnica, seine Mutter, hatte diese Entwicklung ihres Sohnes nicht mehr miterlebt. Sie war schon 388 während der Rückreise nach Nordafrika überraschend in Italien gestorben.

Auch wenn Augustinus kurz nach seiner Priesterweihe offiziell zum Mitbischof in Hippo eingesetzt worden war, gab er sein klösterliches Leben nicht auf.

Doch ein konsequent monastisches Leben war für Augustinus nun durch sein neues Amt nicht mehr möglich. Er wurde jetzt direkt in die kirchenpolitischen Wirren hineingezogen.

Eine besondere Herausforderung für die christliche Kirche in Nordafrika war die Kirche der Donatisten, die sich von der katholischen abgespalten hatte. Der Donatismus, der von Bischof Donatus gegründet worden war, hatte seine Wurzeln in der Zeit der Christenverfolgung. Denn damals war durch den Staat von den Bischöfen verlangt worden, die Heiligen Schriften der Kirche auszuliefern. Viele Bischöfe, die dies unter dem Druck der Verfolgung getan hatten, wurden später von Donatus und seinen Anhängern abgelehnt. Für sie waren diese Kleriker Verräter des Glaubens, die eher als Märtyrer hätten sterben müssen, bevor sie die Heiligen Schriften aushändigten. Da sie mit diesen Verrätern nicht in einer Kirche bleiben wollten, kam es in Nordafrika zur Kirchenspaltung. In jeder Stadt und in jedem Dorf gab es von da an zwei konkurrierende Kirchen, die katholische und die der Donatisten, die für eine kompromisslose christliche Lebensführung eintraten.

Die elitäre Position der Donatisten, die einzig wahre und reine christliche Kirche zu sein, führte auch zu einer Reihe von Sonderpraktiken. Sie erkannten zum Beispiel die katholische Taufe nicht an und forderten für alle, die zu ihnen übertraten, eine Wiedertaufe. Diese Praxis war natürlich für die katholische Kirche ein Affront.

Und Augustinus wurde nun zum Hauptanwalt der katholischen Sache.

Da es im 4. Jahrhundert noch keine klaren dogmatischen Definitionen gab, suchte Augustinus die theologische Auseinandersetzung mit den Donatisten.

Dazu der Kirchenhistoriker Wilhelm Geerlings: "Der Begriff des Sakraments darf nicht im heutigen Sinn verstanden werden. Der Begriff Sakrament hat bei Augustinus – wie in der gesamten damaligen Theologie – eine große Spannbreite. Es können dies religiöse Riten, fromme Bräuche, geheimnisvolle Lehren und dunkle Stellen der Schrift sein. Das alles sind damals 'sacramenta', weil sie den Menschen vom Äußeren wegführen zum inneren Geheimnis."

Da die Donatisten jeden Bischof ablehnten, der nach ihrer Meinung in der Tradition der Verräter stand, erklärten sie kurzerhand alle kirchlichen Amtshandlungen der katholischen Kirche für ungültig. Hier setzt denn auch Augustinus mit seiner Kritik an, indem er klarstellt, dass etwa bei der Taufe nicht der Bischof oder Priester, sondern Gott derjenige ist, der das Sakrament spendet. Denn die Gnade kommt von Gott selbst, nicht aber vom Kleriker, der sie formell weitergibt. Augustinus macht das an einem Bild deutlich:

"Ob das Rohr, durch welches Wasser fließt, aus Blei oder Gold ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass das Wasser fließt."

Damit wird die Vorstellung der Donatisten kategorisch zurückgewiesen, dass es Bischöfe und Priester gebe, die unwürdig seien, die Sakramente zu spenden.

Nach Augustinus kann der Empfänger eines Sakraments sicher sein, dass ihm die Gnade gewährt wird, völlig unabhängig von der persönlichen Lebensführung des spendenden Geistlichen.

Doch die Donatisten hielten an ihrer fundamentalistischen Position fest und trugen dadurch auch zu einer Polarisierung der gesamten Bevölkerung bei.

Die Trennung in katholisch oder donatistisch verlief oft quer durch die Familien. Und die Feindschaft führte zum Beispiel dazu, dass es donatistischen Bäckern verboten war, für Katholiken Brot zu backen. Vor allem die radikal-fanatischen Gruppen in der donatistischen Kirche sorgten dafür, dass die Auseinandersetzung zunehmend in Gewalt umschlug. Dazu der Cambridger Kirchenhistoriker Henry Chadwick:

"Die Liste der katholischen Geistlichen, die zum Krüppel geschlagen wurden oder erblindeten, nachdem ihnen Kalk und Essig in die Augen geworfen worden war, oder die regelrecht zu Tode kamen, war keineswegs kurz. Augustin selbst entging einmal einem donatistischen Anschlag, durch den er für immer zum Schweigen gebracht werden sollte."

Nachdem Augustinus dann im Jahr 396, nach dem Tod des Valerius, alleiniger Bischof von Hippo Regius wurde, stieg er - besonders durch seine Auseinandersetzung mit den Donatisten - zu einem der führenden Vertreter der katholischen Kirche in Nordafrika auf. Er wurde nun zu einem leidenschaftlicher Verteidiger der katholischen Staatskirche, während die Donatisten die Religion und den Staat streng voneinander trennten. Außerdem war Augustinus bisher der Meinung gewesen, dass niemand in der Kirche zu etwas gezwungen werden dürfe. Jetzt änderte er seine Meinung. Er war nun sogar dafür, die Donatisten mit staatlichen Zwangsmaßnahmen in die katholische Kirche zurückzuführen. In einem Brief an einen katholischen Bischof rechtfertigt er sogar die Anwendung von Gewalt.

"Schließlich zwingen doch auch die Eltern ihre Kinder zum Gehorsam und die Lehrer ihre Schüler zur Arbeit, wofür man ihnen nachträglich dankbar ist. Und da meinst du, man dürfe keine Gewalt anwenden, um einen Menschen vom Verderben des Irrtums frei zu machen."

Und mit Berufung auf das Lukas-Evangelium prägt er seine berühmte und oft kritisierte Formel: „cogite intrare“, also: „zwingt sie, einzutreten“.

Damit schlägt er kirchenpolitisch in seiner Zeit einen völlig neuen Kurs ein.

Der Augustinus-Forscher Uwe Neumann: "Augustinus’ Vorgehen ist ein Tabubruch; er ist der erste, der von der Staatsmacht für die Durchsetzung kirchlicher Ziele Gebrauch machte."

Die Härte, mit der Augustinus im Kampf gegen die Donatisten vorging, hängt unmittelbar mit seinem pessimistischen Menschenbild zusammen. Nach seiner Überzeugung ist der Mensch durch die Erbsünde im Grunde verloren und kann nur durch die göttliche Gnade gerettet werden. Doch diese Gnade wird letztlich nur wenigen auserwählten Menschen zuteil, die meisten werden ohnehin auf ewig verdammt. Uwe Neumann: "Angesichts einer solchen Ansicht fiel es Augustinus nicht schwer, den Tod unzähliger Menschen in Kauf zu nehmen."

Augustinus hat schließlich auch mit Genugtuung feststellen können, dass die Kirche der Donatisten durch die staatliche Verfolgung sehr schnell wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Die Häretiker wurden überwunden, auch wenn viele unter Zwang nur zum Schein wieder in die katholische Kirche zurückkehrten. Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Über die Erfolge, die so errungen wurden, hat Augustinus sich in peinlicher Weise getäuscht. Mit den Zwangsbekehrungen der Donatisten beginnt der Niedergang der einst so stolzen afrikanischen Kirche. Schließlich ist sie als einzige Kirche im Mittelmeerraum später durch die Überflutung der Muslime im 7. Jahrhundert spurlos verschwunden. Es scheint, dass die einstigen Donatisten die Araber als Befreier begrüßt haben. Jedenfalls wurde das 'katholische' Erbe von ihnen nicht mehr ernsthaft verteidigt."

Doch zunächst erweist sich die nordafrikanische Kirche immer noch als Bollwerk christlich-katholischer Gesinnung. Und ihre Stimme ist innerhalb der katholischen Kirche des Abendlandes nicht zu überhören. Anders als die Donatisten legte die katholische Kirche in Nordafrika großen Wert auf die Kirchengemeinschaft mit Rom und die apostolische Sukzession.

Allerdings wachte die katholische Kirche in Nordafrika – trotz aller Verbundenheit mit Rom – sehr streng darüber, dass sich niemand von außen in ihre inneren Angelegenheiten einmischte. Aus diesem Grund beschlossen die Bischöfe sogar auf einer Synode, dass kein nordafrikanischer Kleriker es wagen solle, sich mit seinen Anliegen an die römische Kirche zu wenden.

Eine von den römischen Bischöfen geforderte Lehr- und Jurisdiktionsgewalt über die gesamte Kirche wurde von der nordafrikanischen Kirche grundsätzlich abgelehnt.

Auch Augustinus hob hervor, dass Christus die Schlüsselgewalt nicht dem Petrus als Individuum oder seinen Amtsnachfolgern, den römischen Bischöfen, verliehen habe, sondern der wahren Kirche, die durch das Konzil repräsentiert werde.

Dem Nachfolger Petri in Rom wurde lediglich ein Ehrenvorsitz zugebilligt. Entsprechend lautet auch die klare Absage, die Augustinus den römischen Bischöfen erteilt:

"Wir Christen glauben nicht an Petrus, sondern an den, an welchen auch Petrus glaubte. ... Wir sind Christen und keine Petriner!"

Diese klare Grenzziehung gegenüber den besonderen Machtansprüchen in Rom war damals in der abendländischen Kirche nichts Außergewöhnliches. Ein Papsttum, wie es später entstand, hatte sich zu dieser Zeit noch nicht etabliert.

Die Einheit der abendländischen Kirche stand auch ohne Machtzentrum in Rom nicht in Frage. Doch schon bald sollte Augustinus erleben, dass die Auswirkungen der Völkerwanderung die Kirche im Römischen Reich vor völlig neue Herausforderungen stellten.

< Folge 2 Folge 4 >

© DLF - Gesendet: 03.01.2008

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Augustinus - Vater der abendländischen Theologie (4 = Schluss)
Der Fall von Rom und der Gottesstaat

Von Rüdiger Achenbach

"Meine Stimme stockt und mein Schluchzen unterbricht die Worte, die ich schreibe: Die Stadt ist bezwungen, die den Erdkreis bezwang."

Als Kirchenvater Hieronymus als Einsiedler in der Nähe von Bethlehem diese Zeilen schrieb, war das gesamte römische Reich in Panik geraten.

Etwas Unglaubliches war geschehen, die Barbaren hatten Rom erobert.

Auch nach der Gründung Konstantinopels war Rom immer noch das Sinnbild des Imperiums.

Und nun hatte der Gotenführer Alarich mit seinen Truppen die Stadtmauer gestürmt und war in die ewige Stadt eingefallen. Es war zu Plünderungen, Brandschatzungen, Mord und Totschlag gekommen. Dazu der Kirchenhistoriker Carlo Cremona:

"Der 24. August 410 hatte für die damalige Zeit eine ähnliche Bedeutung wie für unsere Zeit der Tag, an dem die erste Atombombe über Hiroshima explodierte. Denn an jenem historischen Tag fiel Rom."

Allerdings war Alarich mit seinem Heer bereits am 27. August, also schon nach drei Tagen, wieder in Richtung Süditalien abgezogen, um von dort aus die reiche Provinz Nordafrika zu besetzen. Unterwegs wurde er dann plötzlich krank und starb. Seine Männer begruben ihn in der Nähe der Stadt Cosenza an einem geheimen Ort im Fluss Busento.

Auch wenn die Gefahr durch Alarich gebannt war, hatte der Gotenführen dennoch einen Mythos zerstört. Denn seit der Zeit des Kaisers Augustus war Rom die ewige Stadt. Und als religiöses und politisches Zentrum des Reiches galt Rom als unbesiegbar. Inzwischen war die offizielle Politik im Römischen Reich zwar zum Christentum übergegangen, aber die Christen hatten die alte Rom-Idee auch für sich übernommen. Schließlich war für sie Rom die Stadt mit den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus. Rom war also auch das religiöses Zentrum der Christenheit und damit auch des Römischen Reiches. Deshalb stellten Kirchenvater Hieronymus und viele seiner Zeitgenossen nun die Frage:

"Wenn Rom untergehen kann, was mag dann überhaupt noch in dieser Welt Bestand haben?"

Christen wie Hieronymus gerieten jetzt tatsächlich in Erklärungszwang, denn er gehörte wie viele andere Theologen seiner Zeit zu den Verfechtern einer christlichen Reichstheologie. Rom wurde dabei als ein Werkzeug im göttlichen Heilsplan verstanden. Denn in Rom hatte das Friedensreich des Augustus, die vielgerühmte Pax Romana, ihren Anfang genommen und schließlich die Voraussetzung für das Kommen Christi geschaffen. Die Reichtheologen waren felsenfest davon überzeugt, dass nach dem Plan des christlichen Gottes mit dem heidnischen Kaiser Augustus bereits begonnen hatte, was dann mit Kaiser Theodosius Realität geworden war: eine christliche Staatskirche für das Römische Reich.

Und wie eng inzwischen das Römische Reich und das Christentum zusammengehörten, zeigte auch die Tatsache, dass die Organisation der Kirche den staatlichen Verwaltungsstrukturen angepasst worden war. Die staatlichen Diözesen, also die Verwaltungssprengel, wurden auch zu Verwaltungseinheiten der Kirche.

Für die christlichen Reichstheologen waren das Römische Reich und das Christentum also sozusagen zwei Seiten einer Medaille. Von hier aus wird auch die Beunruhigung verständlich, die nach dem Fall von Rom auf christlicher Seite aufkam. Denn konsequent gedacht, musste der Sturz Roms auch den Untergang des Römischen Reiches und zwangsläufig auch das Ende der Reichskirche mit sich bringen.

Viele Römer befürchteten aber nach dem Überfall auf ihre Stadt weiteres Unheil.

Zahlreiche Flüchtlinge suchten deshalb vor allem Zuflucht in der römischen Provinz Nordafrika. Und zahlreiche Römer kamen in die damals bedeutende nordafrikanische Hafenstadt Hippo Regius, in der Augustinus zu diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Jahren als Bischof tätig war. Überrascht über die panische Stimmung, die sich breit machte, schrieb er damals an eine Römerin mit dem Namen Italica einen Brief, in dem er sich nach Einzelheiten über den Überfall auf Rom erkundigte.

"Bisher habe ich noch keine genauen Informationen über die Zerstörung Roms erhalten, mir wurden zwar bedauerliche Dinge berichtet, die aber doch weniger beunruhigend sind."

Und in der Tat: Das, was Augustinus in Erfahrung bringen konnte, löste bei ihm nur Unverständnis aus. Denn für Christen, die aus geschichtlichtlichen Ereignissen erkennen wollten, wo und wann die göttliche Vorsehung am Werk war, hatte er kein Verständnis. Für Augustinus war es immer ein fundamentaler Fehler gewesen, dass die christlichen Reichstheologen das Christentum und das Römische Reich wie zwei siamesische Zwillinge auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden hatten.

Und als Hieronymus und andere jetzt klagten, dass die Welt ihrem Ende zugehe, ergriff Augustinus öffentlich das Wort:

"Schaut her, sagen sie, Rom fällt, und es fällt auch das Christentum.
Aber bei der christlichen Religion geht es doch nicht um den Zustand einer Stadt.
Es geht dabei doch nicht um Steine und Holz oder schöne Gebäude und Mauern.
Das, was der Mensch baut, zerstört er auch. Das ist nichts Neues."

Für Augustinus ist die sichtbare Welt selbstverständlich einem ständigem Wandel unterworfen. Und als ihm ein Bischof entgegen hielt, dass schließlich auch Priester von den Barbaren getötet worden seien, wies Augustinus ihn in einem Brief zurecht:

"Du sagst, dass gute und treue Gottesdiener durch das Schwert der Barbaren umgekommen sind. Was aber, frage ich dich, macht das für ein Unterschied, ob ein Fieber oder ein Schwert sie vom Leben geschieden hat? Gott sieht nicht darauf, bei welcher Gelegenheit, sondern in welchem Zustand seine Diener aus dem Leben scheiden."

Dass Augustinus mit solchen Bemerkungen auf schroffe Ablehnung bei den meisten Theologen seiner Zeit stieß, war kaum verwunderlich. Denn er kratzte offensichtlich an der christlichen Glorifizierung Roms. Kirchenvater Hieronymus war aufgebracht:

"Das hellste Licht unter den Ländern ist ausgelöscht. Ja das Haupt des Römischen Reiches ist abgeschlagen. In dieser Stadt ging der ganze Erdkreis unter."

Augustinus fühlte sich deshalb herausgefordert und startete nun zu einem Großangriff gegen die Reichstheologen.

"Was Gott verheißt, liegt jenseits von allem irdischen Erfolg oder Misserfolg."

Für Augustinus ist es unmöglich, in irgendwelchen weltgeschichtlichen Ereignissen dem Heilsplan Gottes nachzuspüren. Er kennt nur ein Ziel, die von Gott verheißene Erlösung am Ende der Zeit. Bis dahin aber wird die innere Dynamik seines theologischen Geschichtsbildes durch zwei staatsähnliche Gebilde bestimmt.

Das eine Reich, die civitas caelestis, ist Gott und dem Himmel zugeordnet, es steht, vereinfacht ausgedrückt, für das Prinzip des Guten, nach dem der Mensch streben soll. Das andere Reich, die civitas terrena, ist dem irdischen Staat zugehörig, in dem das Prinzip des Bösen anzutreffen ist, das den Menschen von Gott entfremdet.

Diese beiden Reiche sind für ihn allerdings nicht durch eine Demarkationslinie getrennt, sondern wenn Augustinus von den beiden Reichen spricht, dann geht es ihm um zwei Idealbilder. Die beiden Reiche sind in ihrer wirklichen Form, als wahre Kirche und wahres irdisches Reich, mit keiner geschichtlichen und soziologischen Gemeinschaft identisch, sondern sie bleiben bis zum Ende der Geschichte unsichtbar. Die Grenze der beiden Reiche geht vielmehr quer durch alle weltlichen Gemeinschaften. Diese undurchschaubare Vielschichtigkeit bestimmt für Augustinus auch die Realität im Verhältnis von Kirche und Staat. Der Historiker Klaus Rosen:

"Mit der entscheidenden Abwendung von der ganzen römischen Geschichte tritt Augustinus aus der Antike heraus und hilft nun, das Staatsdenken des Mittelalters vorzubereiten."

Wobei allerdings im Mittelalter nicht beachtet wurde, dass Augustinus von zwei Idealbildern gesprochen hatte, die bis zum Ende der Zeit unsichtbar bleiben.

Man übertrug die beiden Reiche in die Realität und sah das himmlische Reich durch die Papstkirche und das irdische Reich durch das Kaisertum repräsentiert.

Dieser sogenannte politische Augustinismus tat dann genau das, was Augustinus strikt abgelehnt hatte, nämlich die beiden Idealbilder gegeneinander abzugrenzen. Augustinus hatte die Wirklichkeit viel nüchterner gesehen. Für ihn konnte die sichtbare Kirche keineswegs nur für das Gute stehen und der irdische Staat nicht nur für das Böse, denn in beiden gibt es sowohl Ungerechtigkeit wie Gerechtigkeit. In der sichtbaren Welt ist keine Unterscheidung möglich.

"Der Geschichtsablauf ist wie das Meer – ruhelos, gepeitscht, haltlos zerfließend und bitter."

Augustinus sieht die endgültige Scheidung der zwei Reiche erst in der Endzeit beim Weltgericht. Doch theologische Spekulationen über irgendwelche Zeichen des Weltendes hat er stets abgelehnt.

"Großmächte steigen auf und gehen unter in der Weltgeschichte und keiner kann behaupten, einen klar erkennbaren Grund dafür angeben zu können. Wir durchschauen die Gesamtordnung nicht."

Eine Christianisierung des römischen Reiches und überhaupt eine christliche Politik liegt nicht in der Absicht des Augustinus. Christoph Horn, Professor für Klassische Philosophie:

"Mehr noch, überhaupt keine sichtbare Institution, nicht einmal die Kirche, ist nach Augustinus einfach als Verkörperung einer moralischen Ausrichtung und der religiösen Integrität zu verstehen."

Augustinus’ Schrift „De civitate Dei“ – oft als „Der Gottesstaat“ übersetzt – ist zu einem Schlüsselwerk der abendländischen Staats- und Geschichtsphilosophie geworden. Auch wenn die Intention des Bischofs von Hippo eine andere war.

Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch: "Augustinus hat nicht einmal den Versuch gemacht, sein Geschichtskonzept immanent philosophisch durchzuführen. Augustinus' Gottesstaat ist keine Geschichtsphilosophie, sondern eine dogmatische Auslegung des christlichen Glaubens im Bereich der Weltgeschichte."

Am 28. August 430 ist Augustinus dann im Alter von 76 Jahren in Hippo Regius gestorben. Während dieser Zeit wurde die Stadt bereits durch die Vandalen belagert. Er hat nicht mehr erlebt, dass die gesamte Provinz von den fremden Eindringlingen der Völkerwanderung verwüstet wurde und die katholische Kirche in Nordafrika unterging.

Auch wenn von der nordafrikanischen Kirche nur Ruinen übriggeblieben sind, ist der Ruhm des Bischofs von Hippo Regius in zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte niemals verblasst. Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Augustinus ist der einzige Kirchenvater, der bis auf diesen Tag eine geistige Macht geblieben ist. Er lockt Ungläubige und Christen, Philosophen und Theologen ohne Unterschied der Richtung und der Konfession zur Beschäftigung mit seinen Schriften."

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© DLF - Gesendet: 04.01.2008

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