Augustinus, Ad Simplicianum de diuersis quaestionibus 1,2

Augustinus und SimplicianusSamstag, 21. Januar 2017, 9.15-12.45 Uhr und 14.30-17.00 Uhr

Burkardushaus – Tagungszentrum am Dom
Am Bruderhof 1, 97070 Würzburg
[ Anreisebeschreibung]

Die Teilnahme ist kostenfrei.

Anmeldung ist erforderlich:

per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! bzw. über nachstehendes Onlineformular

  • Ein bis heute brisanter Text: Augustins Schrift an Simplician

     

    Ein Bericht vom zehnten Lektüre- und Diskussionsseminar des Zentrums für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg

     

    Im Kontext des Reformationsgedenkens 2017 stand das diesjährige Lektüreseminar des Zentrums für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg (ZAF). Zu der Blockveranstaltung, die aus gegebenem Anlass in ökumenischer Kooperation mit der Domschule Würzburg und dem Rudolf-Alexander-Schröder-Haus ausgerichtet wurde, waren am 21. Januar 2017 über vierzig Teilnehmer aus Nah und Fern in das Burkardushaus gekommen, um sich in gemeinsamer Lektüre und Diskussion mit einem Schlüsseltext der augustinischen Gnadenlehre auseinanderzusetzen. Die Leitung und Moderation der Blockveranstaltung, die dieses Jahr bereits zum zehnten Mal stattfand, übernahm Dr. Andreas E.J. Grote, Leiter der Redaktion des Augustinus-Lexikons, in Vertretung des erkrankten Leiters des ZAF, Prof. Dr. Christof Müller.

     

    Nach Begrüßung seitens des Hausherrn, Akademiedirektor Dr. Rainer Dvorak, hielt der Nestor der Würzburger Augustinus-Forschung, Prof. Dr. Cornelius Petrus Mayer OSA, das Einführungsreferat, in dem er die Entwicklung der augustinischen Gnadenlehre von den Frühschriften bis hin zu der bahnbrechenden Schrift Ad Simplicianum de diuersis quaestionibus aus dem Jahr 396 darstellte. War die Ansicht des frühen Augustinus über das Verhältnis der menschlichen Freiheit zum Gnadenwirken Gottes noch deutlich „synergetisch“ geprägt, so schätzte er in der Folge seiner vertieften Paulusexegese im Laufe seiner Presbyterzeit den „Anteil des Menschen am Erwerb des Heils zunehmend gering“ ein. Eine schriftliche Anfrage seines väterlichen Freundes Simplician zur Auslegung einer Reihe schwieriger Schriftstellen forderte Augustinus gleich zu Anfang seiner Bischofszeit ein weiteres Mal zu einer gnadentheologischen Stellungnahme heraus. Im Antwortschreiben an Simplician ist Buch 1, Kapitel 2 den Worten des Apostels Paulus über die Berufung Jakobs und die Verwerfung Esaus (Röm 9,10-29) gewidmet. Ausgehend von dieser Schriftstelle formuliert Augustinus in einer „zuvor nicht gekannten Schärfe und Dichte“ die Lehre vom Geschenkcharakter und der absoluten Voraussetzungslosigkeit der Gnade: „In Sachen Heil liegt alles bei Gott. … Es geht also nie der gute Wille des Menschen dem Erbarmen Gottes, der Gnade, voraus, sondern umgekehrt“.

     

    Bei der gemeinsamen Lektüre zeigte sich, dass diese Gnadenschrift, die von dem Philosophen Kurt Flasch unter dem provozierenden Titel „Logik des Schreckens“ lateinisch-deutsch publiziert wurde, bis heute nichts von ihrer Brisanz verloren hat, wirft sie doch so grundsätzliche Fragen wie die nach Willensfreiheit, Determinismus und Prädestination auf. Zusammen mit dem Unterzeichnenden führten die mitveranstaltenden Professoren und Dozenten der Universität Würzburg, Prof. Dr. Michael Erler, Prof. Dr. Dominik Burkard, Dr. Tanja Thanner, Prof. Dr. Christian Tornau, Prof. Dr. Karl Mertens und Prof. Dr. Jörn Müller, fachkundig durch den Text, aus dem sich äußerst engagierte und kontroverse Diskussionen entwickelten.

     

    Ihre thematische Fortsetzung findet die Veranstaltung, wiederum in Kooperation mit Domschule und Schröderhaus, mit dem Augustinus-Studientag „Augustinus und Luther. Zur Verwandtschaft zweier ‚Kirchenväter‘“ am Freitag, 19. Mai 2017, im Burkardushaus. Beginn ist um 9.00 Uhr. Programm und Informationen unter: www.augustinus.de/studientage

    Guntram Förster

  • Lektüre- und Diskussionsseminar zum Thema

    Logik der Gnade oder Logik des Schreckens?

    Würzburg, Burkardushaus, 21. Januar 2017

     

    Einführung

     

    Cornelius Petrus Mayer OSA

    Als man im Mittelalter namhafte Theologen im Blick auf ihre Lehre auszuzeichnen und zugleich zu charakterisieren begann, erhielt der Kirchenvater Augustinus den Titel doctor gratiae – völlig zu Recht, spielte doch die Gnade sowohl in seinen theologischen Reflexionen wie auch in seinem schriftstellerischen Schaffen jene dominierende Rolle, mit der er die Geistesgeschichte des christlichen Abendlandes wie kein zweiter prägte.

     

    Den Schlüsseltext zu dieser seiner Lehre lieferte seine um 396, also erst ein Jahrzehnt nach seiner Bekehrung verfasste Schrift Ad Simplicianum de diversis quaestionibus 1,2. Im Frühwerk des Neubekehrten dominierte nämlich bei aller sporadischen Präsenz christlicher Gedanken das Bildungsideal der Philosophie, was das Verzeichnis der zunächst noch in Cassiciacum bei Mailand, dann in Mailand, darauf in Rom und schließlich in Thagaste entstandenen Werke verdeutlicht. Mit ihnen verfolgte er das insbesondere von den Neuplatonikern gesteckte Bildungsziel, über die sogenannten ‹freien Künste›, die disciplinarum libri, die zu Unterrichtenden zum ‹Aufstieg über das Körperliche zum Unkörperlichen› zu befähigen [1] und zugleich ‹alles Wissenswerte auf das transzendente, schlechthin Eine und Wahre hin zu bündeln› [2].

     

    Aufgrund dieser auffallenden Dominanz der Philosophie in den Frühschriften vertraten Ende des 19. Jahrhunderts der Deutsche Adolf von Harnack und der Franzose Gaston Boissier, beide Philologen und Historiker, die These, Augustin habe sich im Jahr 386 streng genommen nicht zum Christentum, sondern zum Neuplatonismus bekehrt [3]. In seinen Frühschriften schied der ehemalige Professor der Rhetorik die in seinem Sinne gut Gebildeten, die ‹bene eruditi› von den weniger Gebildeten, den ‹minus eruditi[4]. Die ‹minus eruditi› womöglich zu ‹bene eruditi› zu erziehen, dieses Bildungsziel sollte sich im Blick auf die Inhalte christlicher Verkündigung ändern.

     

    Nach der Rückkehr in seine Vaterstadt im Jahr 388 begann Augustin ein monastisches Leben mit Gleichgesinnten zu führen. Seine schriftstellerische Aktivität nahm insofern zu, als jetzt noch ein reger Briefverkehr mit Intellektuellen innerhalb und außerhalb der Kirche hinzukam. Obgleich Augustin den Besuch von Städten mit vakanten Bischofssitzen aus Sorge, man könnte ihn in ein kirchliches Amt wählen, geflissentlich mied, reiste er im Jahr 391 dennoch nach Hippo, weil er einen dort wohnenden Interessenten als Mitglied für sein Kloster zu gewinnen hoffte [5]. Beim Besuch des Gottesdienstes trug der greise Bischof Valerius der Gemeinde gerade seinen Wunsch nach der Wahl eines Priesters zur Entlastung von seinen Aufgaben vor. Die Gemeinde entdeckte in ihrer Mitte den auch in kirchlichen Kreisen angesehenen ehemaligen Rhetor und postulierte ihn für das zu besetzende Amt. Augustin wehrte sich zwar erfolglos, bat aber um Aufschub der Weihe für einige Monate, die er zur Vorbereitung auf seine pastoralen Aufgaben, insbesondere durch intensivierte Bibelstudien für nötig hielt.

     

    Die Liste der während seiner Presbyterzeit abgefassten Schriften beginnt bereits vielsagend mit dem programmatischen Titel De utilitate credendi – Vom Nutzen des Glaubens. Es stand also nicht mehr die ratio im Vordergrund der zu reflektierenden Lehre, sondern die fides. Kern der christlichen Verkündigung ist letztendlich der sich heilsgeschichtlich offenbarende Gott. Dank dieser Initiative Gottes beschließt der Mensch, der empfangenen Offenbarung zu folgen oder nicht zu folgen. Ein deutlicher ‹synergetischer Zug› ist somit für die Zustimmung zum Glauben für den Augustinus der Presbyterzeit charakteristisch [6]. (De libero arbitrio 1-3, 388, 394-395). Die ebenfalls noch während der Presbyterzeit einsetzende Exegese zum Römer- und Galaterbrief des Apostels Paulus dürfte Augustin sodann zur Skepsis hinsichtlich dieser synergetischen  Fähigkeit des Menschen, am Heil mitwirken zu können, angeregt haben, so dass der Anteil des Menschen am Erwerb des Heils zunehmend gering veranschlagt wird.

     

    Jetzt setzt im Anschluss an die Beschäftigung mit paulinischen Texten das Nachdenken über die Unterscheidung zwischen ‹Gesetz› und ‹Gnade› sowie über den Sündenfall und dessen Folgen für die ganze Menschheit ein. Das Verhältnis von ‹Gesetz und Gnade› bildet auch das Fundament für das Konzept der sogenannten Vier-Stadien-Lehre. Danach müsse der Mensch, um zum Heil zu gelangen, vier Stadien durchlaufen [7]. Denn nachdem er durch den Sündenfall laut Gn 3 das Heil eingebüßt hat, wird er in einer ‹fleischlichen-carnalis, im Gegensatz zu einer ‹geistigen-spiritalis› Verfassung geboren. Die vier heilsgeschichtlichen Aktionsphasen heißen: ‹ante legem – vor dem Gesetz›, ‹sub lege – unter dem Gesetz›, ‹sub gratia – unter der Gnade› und ‹in pace – im Frieden›. Augustin präzisiert: Die ‹actio› vor dem Gesetz erschöpft sich in fleischlichen Begierden; die unter dem Gesetz vollzieht sich immer noch in Begierden, sie verschärft sich aber zusätzlich noch durch das Wissen um die Sünde, die das Gesetz untersagt. Im Stadium der Gnade, das bereits vom Glauben an den Erlöser geprägt ist, wird der Glaubende im Vertrauen auf Gottes Erbarmen von der Sünde nicht mehr definitiv überwältigt. Das Stadium des Friedens ist die erlangte Vollendung in der verheißenen Unsterblichkeit.

     

    Den entscheidenden Schritt zu seiner Gnadenlehre tat Augustinus mit der Schrift Ad Simplicianum libri duo. Er war bereits als Nachfolger von Valerius Bischof von Hippo, als er wohl noch um das Jahr 396 von seinem väterlichen Freund Simplizian, der zu seiner Bekehrung in Mailand nicht wenig beigetragen hatte und der später Nachfolger des Ambrosius in Mailand werden sollte, einen Brief mit acht verschiedenen Fragen – darunter zwei den Römerbrief betreffenden – erhielt. Es ist nicht auszuschließen, dass Simplizian die Schriften Augustins über die soeben erwähnten Paulusbriefe bereits kannte, ja, dass er sogar, wie man vermutet, als philosophisch wie theologisch hochgebildeter und tiefgläubiger Christ sich mit den bisherigen Einsichten Augustins in puncto Gnadenlehre nicht völlig zufrieden gab und ihn deshalb drängte, die mit dem Römerbrief gegebenen Probleme zu Rm 7,1-25 sowie zu Rm 9,10-29 erneut durchzudenken. Augustin beantwortete die gestellten Fragen in zwei Büchern, die zum Römerbrief im ersten Buch 1,1,1-17 und 1,2,1-22.

     

    Im ersten Teil geht es also erneut um die Klärung der Funktion des Gesetzes. Wenn es dort heiße, lehrt Augustin, ‹das Gesetz sei hinzugekommen, damit die Übertretung überhandnehme› (Rm 5,20), oder ‹das Gesetz sei die Kraft der Sünde› (1 Cor 15,56) und dergleichen mehr, so komme es auf das Verstehen der Intention an, die der Apostel mit solchen Sätzen verfolgte. Dieser lasse über den Wert des Gesetzes keinen Zweifel aufkommen, sagte er doch, ‹das Gesetz sei heilig, gerecht und gut› (Rm 7,12). Zu Unrecht behaupteten die Gegner, Paulus spreche von zwei Arten des Gesetzes, einem bösen, dem des Alten Testamentes, und einem guten, dem des Neuen (speziell dem der Paulusbriefe mit dem paulinischen Evangelium). Das Gesetz sei an sich und in sich gut; es habe aber eine doppelte Funktion: 1. Es zeige dem Menschen die Übermacht der aus der Adamssünde stammenden Begierlichkeit und 2. führe es zur Anerkennung der eigenen Hilflosigkeit in puncto Heil. Es sei somit in heilsgeschichtlicher Absicht auf die in Christi Erlösungswerk gegründete Gnade hin gegeben.

     

    ‹Gesetz› und ‹Gnade› bedingen sich, führt Augustin weiter aus, wenn man sie in ihrer heilsgeschichtlichen Perspektive sieht. Darauf ziele auch der Satz aus dem Johannesevangelium 1,17 ab: «Das Gesetz wurde durch Moses gegeben, Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden». «Dasselbe Gesetz», so fügt er hinzu, «das durch Moses gegeben wurde, damit es gefürchtet werde, ist durch Jesus Christus Gnade und Wahrheit geworden, damit es erfüllt werde». Es wurde deshalb auf Steinen gegeben, um die Verhärtung anzuzeigen, die es ohne die Gnade bewirkt. Erfüllen vermag seine Forderung allein die Liebe, in der die Gnade kulminiert, weshalb auch der Apostel allein die Liebe ‹die Erfüllung des Gesetzes› nennt (Rm 13,10). ‹Der Mensch unter dem Gesetz›, so lautet die Quintessenz jenes Abschnittes, erkennt eigentlich erst in den Forderungen des Gesetzes seinen Zustand unter der Sünde, die ihn beherrscht und die ihm den Tod bringt. Diese Einsicht soll ihn demütigen, damit er mit dem Apostel rufe: «Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich von diesem Todesleib befreien?» Der Apostel antwortet: «Die Gnade Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn» (Rm 7,24.25a) [8].

     

    Seine singuläre Stellung unter den Gnadenschriften verdankt das Werk an Simplizian zugleich auch seiner Auslegung von Rm 9,10-29. Augustin  nennt  diesen Paulustext einen «in der Tat dunklen». Dass der Glaubensakt Sache des Menschen sei, lehrt er von da an nicht mehr. Der Kirchenvater lässt auch keine ‹occultissima merita›, keine noch so verborgenen Verdienste als Voraussetzung der Erwählung gelten. Gleich zum Beginn der Auslegung verweist er auf die Kernbedeutung des Begriffs gratia, worauf er von nun an unzählige Mal zurückkam. Gratia sei, was das Adverb gratis sattsam verdeutliche, was niemandem geschuldet werde. Gnade sei ihrem Wesen nach nicht Folge, sondern Ursache. Wie das Feuer nicht wärme, damit es glühe, sondern weil es glüht, «so handelt auch niemand darum gut, damit er die Gnade empfange, sondern weil er sie empfangen hat» [9]. Konsequent geht deshalb auch die Gnade dem Glauben voraus. Der Anfang des Glaubens gleiche gewissermaßen einer Empfängnis und diese vollziehe sich in der Berufung, denn «niemand glaubt, wenn er nicht berufen wird» [10].

     

    Am Beispiel der Berufung Jakobs und der Verwerfung Esaus aus Rm 9 versucht Augustin die Priorität der Gnade und zugleich deren absolute Gratuität zu beweisen. Nichts dürfe den Eindruck erwecken, Gottes Souveränität werde hinsichtlich seines Handelns beeinträchtigt. Als die Zwillinge noch nicht geboren waren und auch weder Gutes noch Böses getan haben konnten, heißt es von beiden: «Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst» (Rm 9,13). Mit diesem Satz stellt sich die Frage nach Gottes Gerechtigkeit in aller Schärfe. Warum verweigert Gott Esau das, was er dem Jakob gewährt? Die Frage soll des Lesers Aufmerksamkeit erneut auf den Geschenkcharakter der Gnade fokussieren. Wem immer Gnade geschenkt wird, hat zunächst keinen Grund, sich darüber zu beklagen, dass sie anderen nicht geschenkt wird, er hat aber als Beschenkter allen Grund, den Geber zu rühmen. «Was nämlich hast du ... was du nicht empfangen hast?» fragt der Apostel in 1 Cor 4,7. «Hast du es aber empfangen», antwortet er, «was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?»

     

    In Sachen Heil liegt alles bei Gott. Deshalb heißt es auch in Vers 16 von Rm 9: «Es kommt nicht auf den Wollenden und Laufenden an, sondern auf den sich erbarmenden Gott». Die Konditionen bei Jakob und Esau sind verschieden. Dass Jakob laufen wollte, war Gnade, dass er lief, war sowohl Gnade als auch durch diese Gnade bewirktes eigenes Wollen. Und Esau? Hätte er überhaupt laufen wollen können? Mitnichten! Denn dann käme nicht mehr alles auf das Erbarmen Gottes an. Ebenso hält Augustin es für unvorstellbar, dass Gott sich umsonst erbarmte. Es geht also nie der gute Wille des Menschen dem Erbarmen Gottes, der Gnade, voraus, sondern umgekehrt. Die Bibel liefert nach Augustin genug Beispiele für Gottes Verhalten Menschen gegenüber, denen er seine Gnade verweigerte, die er im Bösen sogar verhärtete wie z.B. den Pharao, bei der Flucht der Juden aus Ägypten. Dieses ‹Verhärten› dürfe jedoch nicht so verstanden werden, als hätte Gott den Pharao zum Bösen gezwungen (Rm 9,14). Wie bleibt aber Gott gerecht, wenn er sogar von dem Gutes einfordert, den er verhärtet? Gleich einem Gläubiger, so Augustin, fordere Gott von allen ein, was ihm gehöre; alle stehen nämlich ausnahmslos mit ihrer Adamssünde bei ihm in der Schuld. Alle zählten sie zu der «una quaedam massa peccati, zu der einzigen Sündenmasse, die der höchsten, der göttlichen Gerechtigkeit ihre Strafe schuldet» [11]. Behandelt Gott seine Schuldner unterschiedlich, so liegt dies in seiner Freiheit. Spricht demnach Paulus von einer Verhärtung des Sünders, die von Gott als Subjekt ausgeht, so illustriert auch dies unmissverständlich seine Freiheit, die sich darin zeigt, dass er dem Esau diese Schuld nicht nachlässt bzw. dass er ihm sein Erbarmen entzieht. Warum er aus der gleichen ‹Masse› sowohl ‹Gefäße des Zornes› wie auch ‹Gefäße des Erbarmens› gestaltet, entzieht sich menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Dies geschieht allerdings unter dem Postulat einer Gerechtigkeit, die von einer herkömmlich verstandenen weit entfernt ist. Weil sie aber Gottes Gerechtigkeit ist, gehe es nicht an, dagegen zu protestieren.

     

    Mit der Schrift Ad Simplicianum hat Augustins Gnadenlehre nach dessen eigenem Urteil keinen Bruch, wohl aber eine zuvor nicht gekannte Schärfe und Dichte erreicht. Er selbst hat diese Entwicklung registriert und sie als Fortschritt gedeutet. Im Vorwort seiner Retractationes, jenem in der Literaturgeschichte einmaligen Werk, mit dem er sein gesamtes schriftstellerisches Schaffen einer kritischen Revision unterzog, schreibt er: «Wer meine Werke in der Reihenfolge, wie sie geschrieben worden sind, liest, der wird, so hoffe ich, finden, wie ich im Schreiben Fortschritte machte – quomodo scribendo profecerim» [12]. Bei dieser Revision zu Ad Simplicianum hatte Augustin im Unterschied zu seinen vorausgegangenen Paulusbrief-Kommentaren nicht nur nichts auszusetzen, er rühmt darin sogar den erreichten Erkenntnisstand. «Bei der Lösung dieser Frage (zu Rm 9,10-29) ist zwar eine Menge zugunsten der freien Entscheidung des menschlichen Willens vorgebracht worden, aber die Gnade Gottes blieb Siegerin, und ich kam nur so weit, um zu verstehen, dass der Apostel mit einer Zuverlässigkeit sondergleichen gesagt hat: ‹Wer nämlich gibt dir einen Vorzug? Was hast Du überhaupt, das du nicht empfangen hättest? Hast du es aber empfangen, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen› (1 Cor 4,7)».

     

    Ad Simplicianum dürfte m.E. Augustinus zur Abfassung zweier weiterer epochaler Werke veranlasst haben, zu der vierbändigen De doctrina christiana – Über die christliche Wissenschaft und zu seinen dreizehn Bücher umfassenden Confessiones. De doctrina christiana ist eine Art Handbuch der Hermeneutik, der Auslegung der in den biblischen Schriften verkündeten Sachen und Ereignisse, wobei die ‹Sache schlechthin›, der ‹Dreieinige Gott›, der zugleich die Liebe ist, auf den bzw. auf die hin letztendlich alles heilsgeschichtlich Relevante auszulegen ist. Augustin spricht zwar nirgends darüber, was ihn zur Abfassung seiner Confessiones veranlasst habe. Dass sie sein meistgelesenes Werk geworden sind, dürfte mit jenem Fortschritt in seiner geistigen Entwicklung zusammenhängen, den er mit Ad Simplicianum erreicht hatte. Er berichtet darin von seiner Bekehrung so, dass er dabei neben Gottes Großtaten wie die Schöpfung, zugleich auch Gottes Erbarmen als Macht seiner Gnade verkündet. In den Confessiones kommt des Öfteren der Satz vor, der die augustinische in Ad Simplicianum dargelegte Gnadenlehre nochmals auf den Punkt bringt. «Da quod iubes et iube quod vis – Gib, was du befiehlst, und (dann) befehle, was du willst» [13].

     

    Als Pelagius, ein britischer Wandermönch, Augustins Confessiones las, nahm er just an diesem Satz Anstoß und löste damit jenen Gnadenstreit aus, der bis zur Gegenwart nicht mehr zur Ruhe kam, was die vom Philosophen Kurt Flasch 1990 unter dem Titel Logik des Schreckens veröffentlichte deutsche Übersetzung der immer noch brisantesten Gnadenschrift des Kirchenvaters zeigt.

     

    Anmerkungen

     

    [1] Retractationes 1,6. Dazu W. Hübner, Disciplinarum libri, AL 2, 485-487.

    [2] De ordine 2,44: «ad unum quidam simplex verum certumque redigere».

    [3] G. Madec, Le néoplatonisme dans la conversion d’Augustin. État d’une question centenair (depuis Harnack et Boissier, 1988), in: Internationales Symposion über den Stand der Augustinus-Forschung, 12.-16. April 1987 im Schloß Rauischholzhausen (hrsg. von C.P. Mayer/K.H. Chelius), Würzburg 1989, 9-25.

    [4] So in De animae quantitate 24.

    [5] Possidius, Vita Augustini 3.

    [6] A. Niebergall, Augustins Anschauung von der Gnade, ihre Entstehung und Entwicklung vor dem Pelagianischen Streit (bis zum Abschluss der Confessiones), Göttingen 1951, S. 26.

    [7] Expositio quarundam propositionum ex epistula apostoli ad Romanos 3.

    [8] Ad Simplicianum 1,1,14.

    [9] ib. 1,2,3.

    [10] ib. 1.2.7.

    [11] ib. 1.2.16: «sunt igitur omnes homines - quando quidem, ut apostolus ait, in Adam omnes moriuntur [1 Cor 15,22], a quo in uniuersum genus humanum origo ducitur offensionis dei - una quaedam massa peccati supplicium debens diuinae summaeque iustitiae, quod siue exigatur siue donetur, nulla est iniquitas».

    [12] Retractationes, Prolog 3.

    [13] 10,40 (2x). 45. 60.

  • K. Flasch (Hg.): Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, De diuersis quaestionibus ad Simplicianum 1,2. Lateinisch-DeutschLektüre- und Diskussionsgrundlage

    • K. FLASCH (Hrsg.), Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397 (Excerpta classica 8), Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 21995 oder 32012, 334 S.
      ISBN 978-3-87162-078-2 | EUR 18,00

     

    Literaturempfehlungen

    • V.H. DRECOLL, Gnadenlehre, in: Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 488-497.
    • K. Kardinal LEHMANN, Augustinus als «Lehrer der Gnade». Ein Blick auf Wirkung und Rezeption in der Gegenwart, in: Gnade – Freiheit – Rechtfertigung. Augustinische Topoi und ihre Wirkungsgeschichte (hrsg. von C. MAYER/A. GROTE/C. MÜLLER), Mainz/Stuttgart 2007, 73-94.
    • C. MAYER, Augustinus – Doctor gratiae. Das Werden der augustinischen Freiheits- und Gnadenlehre von den Frühschriften bis zur Abfassung der Confessiones, in: Der Jansenismus – eine ‹katholische Häresie›? Das Ringen um Gnade, Rechtfertigung und die Autorität Augustins in der frühen Neuzeit (hrsg. von D. BURKARD/T. THANNER), Münster 2014, 1-12.
    • T.G. RING, Bruch oder Entwicklung im Gnadenbegriff Augustins? (Kritische Anmerkungen zu K. Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397), in: Augustiniana 44 (1994) 31-113

     

    Literaturdatenbank

  • Augustinus von Hippo (354-430) wurde nicht zu Unrecht als ‹doctor gratiae – Lehrer der Gnade› bezeichnet und gab als solcher wichtige Impulse für ein Kernanliegen Martin Luthers und der Reformation. Im Mittelpunkt des Lektüreseminars steht der Schlüsseltext der radikalisierten Gnadenlehre Augustins Ad Simplicianum de diuersis quaestionibus, Abschnitt 1,2. Die darin vorgelegte Auslegung des paulinischen Römerbriefes aus dem Jahr 397 hat in ihrer Rezeptionsgeschichte begeisterte Anhänger wie auch entschiedene Gegner gefunden – bis hinein in die Gegenwart. Der Text wird unter Einführung und Anleitung von Experten durch die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer in deutscher Übersetzung gelesen sowie ausgiebig diskutiert.

     

    Lektüre- und Diskussionsgrundlage

    K. FLASCH (Hrsg.), Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397 (Excerpta classica 8), Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 21995 oder 32012, 334 S.
    ISBN 978-3-87162-078-2 | EUR 18,00

     

    Literaturempfehlungen

    V.H. DRECOLL, Gnadenlehre, in: Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 488-497. – K. Kardinal LEHMANN, Augustinus als «Lehrer der Gnade». Ein Blick auf Wirkung und Rezeption in der Gegenwart, in: Gnade – Freiheit – Rechtfertigung. Augustinische Topoi und ihre Wir-kungsgeschichte (hrsg. von C. MAYER/A. GROTE/C. MÜLLER), Mainz/Stuttgart 2007, 73-94. – C. MAYER, Augustinus – Doctor gratiae. Das Werden der augustinischen Freiheits- und Gnadenlehre von den Frühschriften bis zur Abfassung der Confessiones, in: Der Jansenismus – eine ‹katholische Häresie›? Das Ringen um Gnade, Rechtfertigung und die Autorität Augustins in der frühen Neuzeit (hrsg. von D. BURKARD/T. THANNER), Münster 2014, 1-12. – T.G. RING, Bruch oder Entwicklung im Gnadenbegriff Augustins? (Kritische Anmerkungen zu K. Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397), in: Augustiniana 44 (1994) 31-113

     

    Literaturdatenbank

    www.augustinus.konkordanz.de