ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

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Fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.

Confessiones 1,1

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.

Bekenntnisse 1,1

Münnerstadt, Alte Aula, 13. November 2016

  • Begrüßung – Prior P. Wilfried Balling OSA
  • Widmung des Bandes «Von Menschenwerk und Gottesmacht» an die Deutsche Augustinerordensprovinz – Prof. Dr. Dr. Christof Müller
  • Dankeswort – Provinzial P. Alfons Tony OSA
  • Festvortrag: «Ihm erzählte ich von allen meinen Irrwegen (conf. 8,3). Die Darstellung eigener Fehltritte bei Seneca und Augustinus» – Veronika Zilker
  • Musik – Bläserensemble Döhler

  • Schuld und Gnade

     

    Im Rahmen der diesjährigen Münnerstädter Augustinus-Akademie am 13.11.2016 widmete Prof. Dr. Christof Müller die jüngste Publikation des ZAF «Von Menschenwerk und Gottesmacht» der Deutschen Augustiner-Ordensprovinz. Thema des Festvortrags von Veronika Zilker, Mitarbeiterin des ZAF, war ein Vergleich zwischen Seneca und Augustinus über den literarischen Umgang mit eigenen Fehltritten und Schwächen.

     

    Widmung des Bandes "Von Menschenwerk und Gottesmacht" an die Deutsche Augustiner-OrdensprovinzWidmung des Bandes "Von Menschenwerk und Gottesmacht" an die Deutsche Augustiner-Ordensprovinz. V.l.n.r.: Augustiner-Provinzial P. Alfons Tony OSA, Prof. Dr. Christof Müller, Prior P. Wilfried Balling OSA. - Foto: Br. Carsten Meister OSASeit einigen Jahren ist es gute Tradition, dass die Münnerstädter Augustiner am 13. November, dem Geburtstag ihres Ordenspatrons, zu einer abendlichen Augustinus-Akademie einladen, um einer interessierten Öffentlichkeit den hl. Augustinus und den Augustinerorden betreffende Themen zu vermitteln.

     

    Als Gastgeber freute sich Prior Pater Wilfried Balling OSA über den großen Zuspruch zum diesjährigen Akademieabend in der Münnerstädter Alten Gymnasial-Aula und konnte unter den Teilnehmern auch zahlreiche Ordensbrüder sowie eine Delegation des Zentrums für Augustinus-Forschung an der Universität Würburg begrüßen. Für die musikalische Umrahmung sorgte ein Bläserensemble unter Leitung von Birgit Döhler.

     

    Der wissenschaftliche Leiter des ZAF, Professor Dr. Christof Müller, stellte im Rahmen der diesjährigen Augustinus-Akademie die jüngste Publikation des ZAF vor. Der Band «Von Menschenwerk und Gottesmacht – Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte» geht auf einen gleichnamigen Würzburger Studientag zurück und ist der Deutschen Augustinerordensprovinz gewidmet. Mit dieser Dedikation bringe das ZAF in mehrfacher Hinsicht seinen tiefempfundenen Dank an den Orden zum Ausdruck, so Professor Müller bei der Überreichung des ersten druckfrischen Exemplars an Provinzial Pater Alfons Tony OSA. Für die Augustinerprovinz sei diese Widmung eine große Ehre und zugleich eine Würdigung ihres Engagements zur Unterstützung des ZAF, sagte P. Alfons in seinem anschließenden Dankeswort. Die Augustiner hätten ein Interesse daran, dass Augustinus mit seinem Denken und seiner Theologie für den wissenschaftlichen Diskurs unserer Zeit zugänglich gemacht werde – dafür leiste das ZAF mit seinen weltweit anerkannten Forschungsprojekten großartige Arbeit.

     

    Der Festvortrag stand unter dem Thema: «‹Ihm erzählte ich von all meinen Irrwegen› (conf. 8,3). Die Darstellung eigener Fehltritte bei Seneca und Augustinus“. Die klassische Philologin Veronika Zilker, Doktorandin und Mitarbeiterin des ZAF, untersuchte zunächst die Rede des stoischen Philosophen Seneca (ca. 1-65 n.Chr.) über eigene Fehltritte und ihre literarische Funktion anhand seiner Schrift „De uita beata“ und seines siebten Briefes an Lucilius. Sie zeigte: „Je deutlicher Seneca im Eingeständnis seiner Fehler ist, desto weniger geht es ihm um seine eigenen Fehler, sondern um die des Lesers“. In den „Confessiones“ des Augustinus sei die Darstellung eigener Fehltritte noch wesentlich deutlicher und detaillierter. Auch Augustinus ziele auf eine Wirkung beim Leser, denn er verfolge mit diesem Werk eine protreptische Intention: die Werbung für einen bestimmten Lebensstil, nämlich die Bekehrung zum Christentum. „Augustinus bekennt nicht nur seinen Irrtum vor Gott, er führt dem Leser an sich selbst auch vor, dass der Mensch mit der Hilfe Gottes aus dem Irrtum herauskommen kann“, betonte Veronika Zilker. Im Anschluss an den mit großem Beifall bedachten Vortrag nutzten die Hörerinnen und Hörer die Gelegenheit zur Aussprache im Plenum, ehe die Gespräche bei einem Empfang mit Gebäck und Wein im persönlichen Austausch fortgesetzt wurden.

     

    ZAF

  • «Von Menschenwerk und Gottesmacht – Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte»

    Widmung an die Deutsche Augustinerordensprovinz

    Münnerstadt, Alte Aula – 13. November 2016

    Von PROFESSOR DR. DR. CHRISTOF MÜLLER

     

    Prof. Dr. Dr. Christof MüllerDer wissenschaftliche Leiter des ZAF, Prof. Dr. Dr. Christof Müller, bei seiner Ansprache bei der Münnerstadter Augustinus-Akademie. – Foto: Br. Carsten Meister OSAGeschätzter Herr Pater Provinzial,
    verehrte Herren Priores, Patres und Fratres,
    sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

     

    es ist mir eine große Ehre und Freude, am heutigen ‹weltlichen› Geburtstag des Augustinus von Hippo – bzw. heute passender: des Augustinus von Thagaste – bei Ihnen sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen: zu diesem feierlichen Anlass, in diesem feierlichen Rahmen der 5. ‹Augustinus-Akademie›, in diesem wunderschönen Architektur-Ambiente der Münnerstädter Alten Gymnasial-Aula. Die große Ehre und Freude empfinde ich für mich persönlich, diese Ehre und Freude empfinde ich jedoch ebenso für die von mir repräsentierte Institution, das Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg, kurz: ZAF, das der reizvollen Einladung nach Münnerstadt gerne gefolgt ist und sich hier und heute mit einer vielköpfigen Delegation präsentiert.

     

    Meine Dankbarkeit den Einladenden und Gastgebern gegenüber möchte ich mit zweierlei Gastgeschenken zum Ausdruck bringen. Deren erstes und wichtigstes ist eine Person: nämlich die Referentin des heutigen Abends, Frau Veronika Zilker – ich darf sie Ihnen kurz vorstellen. Frau Zilker ist seit Jahren Mitarbeiterin in unserem Würzburger Augustinus-Zentrum und hat sich für unsere Institution schon in verschiedenen Aufgabenbereichen Verdienste und Anerkennung erworben. Als Doktorandin der Latinistik vollendet sie zurzeit ihre Promotionsarbeit über die Auseinandersetzung Augustins mit Julian von Aeclanum, dem wohl gebildetsten und geistreichsten Kontrahenten des Bischofs von Hippo auf dem Felde der Gnaden- und Prädestinationslehre. Wer also hätte – wenn die entsprechenden Stichworte denn schon gefallen sind – ‹begnadeter› und ‹prädestinierter› sein können, die freudige Dankbarkeit des ZAF angesichts der Einladung nach Münnerstadt zu adäquatem Ausdruck zu bringen, als just Frau Zilker. Ihr wurde – notabene! – bereits an der Wiege das Lob des Münnerstädter Gymnasiums gesungen, und zwar aus dem Munde ihres Herrn Vaters, der in seinen Jugendtagen die ‹Rhön-Universität› besuchen und erste Bekanntschaft mit demjenigen machen durfte, dessen Geburtstag wir heute gemeinsam feiern, erste Bekanntschaft aber auch mit denjenigen, die sich der Nachfolge des Mannes aus Thagaste verschrieben haben: den Augustinern.

     

    Blicken wir noch eine weitere Generation zurück, so stoßen wir beim Großvater von Frau Zilker auf eine in Würzburg und weit darüber hinaus bekannte Persönlichkeit, den ersten dortigen Universitätspräsidenten der Nachkriegszeit Prof. Josef Martin, einen renommierten Altphilologen, der sich nicht zuletzt durch seine Forschungen und Veröffentlichungen von und zu Augustinus einen Namen gemacht hat. An diesem Punkt lasse ich aus Gründen der Diskretion meine genealogischen Recherchen zum Stammbaum von Frau Zilker enden, obwohl vermutlich gute Chancen bestehen, die Abstammung unserer heutigen Referentin wenn nicht bis auf Augustinus, so möglicherweise doch bis auf Julian von Aeclanum zurückführen zu können, der der Fortpflanzung und ihren Begleitumständen bekanntlich weit weniger skeptisch gegenüberstand als sein monastischer Widersacher aus Hippo. Soweit also zu unserem ersten ‹Gastgeschenk›.

     

    Nun ist unsere liebe Frau Zilker freilich kein Geschenk im wörtlichen und dauerhaften Sinne: Wir Würzburger möchten sie nach diesem Abend nämlich ungeteilt wieder mit nachhause nehmen. Anders verhält es sich hingegen mit unserem zweiten Gastgeschenk, einer literarischen Gabe, die Sie, geschätzter Herr Pater Provinzial, und Sie, verehrte Augustiner von Münnerstadt, gerne auf Dauer in die Regale Ihrer hochkarätigen Bibliotheken einstellen dürfen. Diese literarische Gabe besteht aus einer Komposition von Aufsätzen zur Augustinus-Forschung und geht in ihrem Kern auf eine Tagung im Jahr 2013 innerhalb des Formats der ‹Augustinus-Studientage› zurück, der Würzburger Pendants zu den Münnerstädter ‹Augustinus-Akademien›. Nachdem das Zentrum für Augustinus-Forschung im Jahr 2012 seinen 10. Augustinus-Studientag als Jubiläumsveranstaltung mit einem großen internationalen und interdisziplinären Symposion in Rom begehen konnte – die daraus entstandene Publikation darf ich Ihnen, lieber Pater Alfons, nachher ebenfalls überreichen –, fiel der 11. Studientag 2013 wieder etwas lokaler und bescheidener aus. ‹Lokal› und ‹bescheiden› ist freilich keinesfalls zu verwechseln mit ‹provinziell› und ‹weniger gehaltvoll›, lautet das gewichtige Thema der Tagung wie auch der Titel des daraus entstandenen Tagungsbandes doch: «Von Menschenwerk und Gottesmacht. Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte».

     

    ‹Nicht schon wieder Gnadenlehre›, werden vielleicht einige Hörer dieses Studientagsmottos gestöhnt haben; ‹nicht schon wieder Gnadenlehre›, werden vielleicht einige Leser unseres Publikationstitels seufzen. Doch taucht die augustinische Gnadenthematik nicht ohne systematischen Grund immer wieder auf der Agenda der Geisteswissenschaften und auf den Titelseiten zahlreicher Veröffentlichungen auf, stoßen wir mit dieser Fragestellung doch zweifelsohne in das Zentrum dessen vor, was theologiegeschichtlich, aber auch philosophie- und politikhistorisch unter ‹Augustinismus› verstanden wurde und verstanden wird: Augustinus trägt nicht umsonst den Titel des ‹doctor gratiae›, des ‹Lehrers der Gnade›.

     

    Das Spektrum der Vorträge des 11. Augustinus-Studientages 2013 bzw. der um einige Beiträge vermehrten Aufsätze des vorliegenden Tagungsbandes macht zudem deutlich, dass das Gnadenthema mit seiner Dialektik von ‹Menschenwerk› und ‹Gottesmacht› nicht nur ein Herzstück des Denkens Augustins auf das Podest hebt, sondern eine Fragestellung aufgreift, die bereits vor und die noch weit nach diesem spätantiken Geistesriesen Geistesgeschichte geschrieben hat. Schon in den antiken Religionen und Philosophien und verstärkt mit und seit Paulus fragen Menschen danach, was sie selbst bewerkstelligen können, was das Numinose und Transzendente, was Gott, ausrichten und bewirken will oder kann und schließlich – am spannendsten und spannungsvollsten –, was Gott im Menschen zu wirken vermag. Theologisch äußern sich die Kontroversen um diese grundlegende Frage in den immer wieder aufflammenden Gnadenstreitigkeiten im Laufe der Jahrhunderte, doch auch philosophisch treiben diese Problemstellungen die Menschen verschiedenster Epochen – verschärft seit dem Fortschrittsversprechen von Neuzeit und Aufklärung – an und um, unter anderem als Frage nach Autonomie oder Heteronomie des Menschen und nach Freiheit oder Unfreiheit seines Willens, Strebens und Handelns.

     

    Und heute? Gehen uns diese Fragen auch heute noch etwas an? Ich meine: ‹Ja›, vielleicht sogar mehr denn je – und das nicht nur in den elfenbeinernen Türmen akademischer Diskurse! Wenn Bio-Wissenschaftler und Bio-Techniker sich dieser Tage anschicken, das menschliche Erbgut zu ‹optimieren›: sind sie dann von göttlicher Macht inspiriert oder sind sie menschlichem Machbarkeitswahn verfallen? Wenn Zeitgenossen dieser Tage danach streben, sich ihre Lebenserfüllung und ihr Selbstbild über ökonomische Hochleistung zu erarbeiten, über Konsum und Erlebnis zu erkaufen oder über mediale Aufmerksamkeit zu erkämpfen: sind sie dann schöpferische Gestalter ihrer selbst oder sind sie zutiefst von der Angst getrieben, ohne ihr ‹Menschenwerk› in ein Sinnvakuum und in ein kosmisches ‹Nichts› zu fallen?

     

    Meine sehr geehrten Damen und Herren, die ‹Gretchen›-Frage Augustins, die Frage nach der ‹Gnade›, scheint also – zumindest was den weiteren Begriff von ‹Gnade› betrifft – tatsächlich eine Grundgegebenheit der Geistesgeschichte quer durch die Jahrhunderte zu sein. Unser bescheidenes Geschenk vermag, selbstredend, nur einige wenige ausgewählte Blüten aus dieser riesigen geistesgeschichtlichen Blumenwiese zu pflücken und zu einem literarischen Strauß zu binden, doch leuchtet in den Formen und Farben dieser wenigen Blüten etwas von der gewaltigen Fülle der gesamten, umfassenden Gnaden-‹Flora› auf. So werden Sie in unserem Buch-Bukett Beiträge und Reflexionen zum Alten Testament, zu Paulus und Origenes, zur Spätantike und zum Mittelalter, zur Reformation und zur frühen Neuzeit finden, nicht zuletzt natürlich auch zu Augustinus selbst, dem Brennpunkt aller Beiträge unseres Sammelbandes und dem Brennpunkt all unserer ‹Augustinus-Studientage› – wie auch all Ihrer ‹Augustinus-Akademien›.

     

    Nun pflegen die Publikationen des Zentrums für Augustinus-Forschung, die auf Würzburger Studientage zurückgehen – es sind derer mittlerweile rund ein Dutzend –, den nicht nur alten, sondern meines Erachtens auch schönen Brauch der Widmung, einer besonderen, literarischen Form der Danksagung. Und Danksagung sollte ja denjenigen, die sich mit dem Wesen der Gnade beschäftigen, alles andere als fremd sein, ist die adäquate Antwort auf die Erfahrung von ‹gratia› doch das ‹gratias agere›, das Danken. Band 12 der Würzburger Augustinus-Studien, unser heutiges, druckfrisches Gastgeschenk, hat nun als Gegenstand seiner Widmung justament die Deutsche Ordensprovinz der Augustiner ausgewählt. Ihnen, sehr verehrte und uns ans Herz gewachsene Augustiner, Ihnen spricht das Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg mit dieser Widmung seinen tiefempfundenen Dank aus, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Um – gut augustinisch – vom Konkret-Anschaulichen auszugehen und zum Ideellen fortzuschreiten: Provinzial Pater Alfons Tony und die Seinen haben zum einen für die Publikation des Tagungsbandes einen beachtlichen Druckkostenzuschuss zugesagt; des weiteren billigten und beförderten sie die Aufnahme des Buches in die achtungsheischende Publikationsreihe ‹Cassiciacum› bzw. in deren aufgepropften Trieb ‹Res et Signa›; zudem stellen sie dem ZAF seit Jahr und Tag die hervorragende Infrastruktur für seine Augustinus-Forschungen und -veröffentlichungen zur Verfügung; und schließlich – zweifelsohne die Klimax – sorgen sie durch ihre lebendige augustinische Spiritualität dafür, dass die Gnadenlehre Augustins sich den Zeitgenossen von ihrer besten Seite her präsentiert: als Theorie und Praxis der zuvorkommenden Liebe Gottes.

     

    So darf ich Ihnen, lieber Pater Alfons und lieber Pater Wilfried, stellvertretend für die gesamte Deutsche Augustiner-Ordensprovinz je ein Exemplar unseres jüngsten Studientagsbandes überreichen und Ihnen vorab die darin gleich zu Anfang eingeprägte Widmung verlesen:

     

    Den Tagungsband des 11. Augustinus-Studientages
    Von Menschenwerk und Gottesmacht
    Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte
    widmet das
    Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg
    den lebenden und verstorbenen Mitgliedern der
    Deutschen Ordensprovinz der Augustiner.
    Sie haben auf vielfältige Weise dazu beigetragen,
    die Gnadenlehre des Augustinus von Hippo
    tiefer zu erfassen und breiter zu vermitteln.
    Ihr Engagement lässt erkennen,
    dass das Wesen der Gnade
    sich nur von der Barmherzigkeit her erschließt,
    unter deren Zeichen Papst Franziskus
    das Jahr 2016 gestellt hat.

    GRATIA ENIM ET PAX
    SINE MISERICORDIA ET CARITATE
    INTELLEGI NON POTEST

     

    Oder um dieses Zitat aus Augustins Auslegung des Römerbriefes abschließend noch einmal auf Deutsch zu wiederholen: «Gnade und Friede ... können ohne Barmherzigkeit und Liebe nicht verstanden werden».

     

    Prof. Dr. Christof Müller

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    „Ihm erzählte ich von allen meinen Irrwegen“ (Aug. conf. 8,3)

    Die Darstellung eigener Fehltritte bei Seneca und Augustinus

    Augustinus-Akademie der Münnerstädter Augustiner − Münnerstadt, Alte Aula, 13. November 2016

    Von VERONIKA ZILKER

     

    Veronika ZilkerDie Festrede hielt Veronika Zilker, Doktorandin und Mitarbeiterin im ZAF ... Foto: Carsten Meister OSAInhalt

    1. Einleitung

    2. Wie und warum Seneca und Augustinus über ihre Fehler sprechen

    2.1 Seneca
    2.1.1 De uita beata
    2.1.2 Senecas 7. Brief an Lucilius
    2.1.3 Fazit Seneca

    2.2 Augustins Darstellung eigener Fehler in den Confessiones

    3. Abschließender Überblick

    Bibliographie

     

    1. Einleitung

     

    Ende April dieses Jahres machte Johannes Haushofer, ein 36-jähriger und damit sehr junger Professor an der renommierten Universität Princeton, Schlagzeilen. Er stellte einen Lebenslauf der besonderen Art ins Internet, in dem nicht die üblichen Stationen seiner Ausbildung aufgelistet waren, sondern all die Stipendien und Stellen, die er nicht erhalten hatte, und auch die Fachzeitschriften, bei denen seine Artikel abgelehnt wurden. In einem Interview mit „ZeitCampus“ erklärte er, dass er mit dieser Veröffentlichung eine Freundin ermutigen wollte, die ein Stipendium nicht erhalten hatte [1]. Er erhielt daraufhin auch von vielen anderen Menschen Nachricht, wie sehr ihnen sein sogenannter „Lebenslauf des Scheiterns“ geholfen habe, ihre eigenen Misserfolge in einem neuen Licht zu sehen. Dieses Beispiel zeigt, welche Wirkung es hat, wenn ein Mensch, dem man aufgrund seines Könnens eine bestimmte Autorität zuschreibt, darüber spricht, dass auch er mit Rückschlägen fertig werden musste. Wenn Menschen über ihre Misserfolge und Fehltritte reden, kann dies natürlich noch andere Gründe haben. Diese können eher im Seelenleben desjenigen liegen, der über die Fehler spricht, z.B. dessen Wunsch nach Tröstung, oder sie können eher im Seelenleben des Adressaten liegen, z.B. der Wunsch, dieser möge seine Einstellung ändern. Ich möchte in meinem Vortrag heute analysieren, wie zwei antike Autoren, nämlich Seneca und Augustinus, über ihre eigenen Fehler reflektieren und welche Intentionen sie damit verfolgen.

     

    Seneca und Augustinus verbindet, dass sie in einigen ihrer Werke ihr Publikum von einem bestimmten Lebensstil überzeugen wollten. Für Seneca war es das Leben nach den Ideen der Philosophischen Schule der Stoa, für Augustinus das Leben als überzeugter Christ. Sie verfolgten demnach beide pädagogische Intentionen mit dem Ziel zu überzeugen und Verhalten zu beeinflussen. Zur Erreichung dieses Ziels können verschiedene rhetorische Mittel angewandt werden. Wesentlich in der aristotelischen Tradition der Rhetorik ist es, dass der Redner die Zuhörer bei den von ihnen anerkannten Meinungen abholt und von dort seine Argumente entwickelt. Er muss demnach ein gutes Einschätzungsvermögen über die Ansichten seines Publikums besitzen, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Eine besondere Rolle spielen dabei die vom Autor angeführten Beispiele. Unter ihnen möchte ich in diesem Vortrag solche Passagen betrachten, in denen sich der Erzähler selbst als ein Beispiel für sein eigenes Fehlverhalten anführt. Gerade solche Passagen haben ein großes Potential, den erwünschten Einfluss beim Leser zu erzielen, wenn er sich selbst in dem vom Erzähler geschilderten Verhalten wiedererkennt und den vorgelegten Text als einen Ausweg aus diesem Verhalten begreift.

     

    2. Wie und warum Seneca und Augustinus über ihre Fehler sprechen

     

    2.1 Seneca

     

    Seneca Ulmer Münster (wikimedia commons)Lucius Annaeus Seneca. Büste im Ulmer MünsterSeneca (geb. um 1 n. Chr.) stammte aus der römischen Provinz Hispania Ulterior, genauer aus dem heutigen Cordoba [2]. Er war ein Angehöriger des Ritterstandes und gehörte damit der reichen Elite des römischen Reiches an. Standesgemäß war demnach seine Ausbildung in Rom, die ihn auch in die Politik und den Senat führte. Von Kaiser Neros Mutter Agrippina wurde ihm die Rolle des Erziehers und Ratgebers ihres ca. zwölfjährigen Sohnes zugewiesen. Später als Seneca merkte, dass er keinen Einfluss auf Nero hatte, versuchte er sich aus dessen näherer Umgebung zurückzuziehen. Dies gelang ihm zwar, jedoch wurde er nach einer Verschwörung gegen Nero von ihm zum Selbstmord gezwungen.

     

    2.1.1 De uita beata

     

    In seinen Werken setzte sich Seneca immer wieder mit der Frage auseinander, wie man mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtkommen und so ein gelingendes Leben führen kann. Im Fokus der Betrachtung soll an dieser Stelle zunächst die Schrift De uita beata stehen, später möchte ich zudem auf den siebten Brief an Lucilius eingehen.

     

    Die Schrift De uita beata schrieb Seneca noch vor 62 n. Chr., in einer Zeit, als er noch unter Nero politisch aktiv war. Sie ist Senecas älterem Bruder Gallio gewidmet, der selbst Politiker war [3]. Gemäß der Titelangabe ist das Thema der Schrift die Frage nach dem Gelingen des glücklichen Lebens.

     

    Die Philosophische Schule der Stoa, der Seneca angehörte, sah das glückliche Leben erfüllt im Erlangen der Vernunft, die sich von äußeren Gütern unabhängig und von Affekten vollkommen frei macht. Dass dieses Ideal von kaum einem Menschen erreicht werden kann, betont Seneca in seinen Schriften immer wieder. Wenn es jemals einen wirklich Weisen gegeben hat, so muss es Sokrates gewesen sein. Sich selbst stellt Seneca dagegen in seinen Schriften als einen Fortschreitenden dar, der bereits auf dem richtigen Weg ist, auch wenn er noch nicht alle seine Fehler beseitigt hat. Mit diesen Fehlern beschäftigt er sich in De uita beata; dazu lässt Seneca im zweiten Teil des Werkes den Prototypen eines Gegners an ihn herantreten und gegen ihn sprechen:

     

    (Vit. beat. 17): „Wenn daher jemand von denen, die gegen die Philosophie losbelfern, mit dem üblichen Einwand kommt: „Warum bist du im Reden stärker als im Leben? Warum machst du dich klein, wenn du mit einem Höhergestellten sprichst, und hältst Geld für ein unverzichtbares Ding [...] Warum isst du nicht so zu Abend, wie du selbst es vorschreibst? Warum hast du gar so blitzblankes Geschirr? [...] Warum ist’s eine eigene Kunst, bei dir den Tisch zu decken, warum wird nicht aufs Geratewohl und nach Belieben das Tafelsilber verteilt, sondern von geschulten Dienern, und wieso ist ein Spezialist für das Filettieren der Fische zuständig?“ [...]“

     

    Dies sind Vorwürfe, die Seneca aufgrund seines Reichtums nicht fremd gewesen sein dürften. Natürlich sind diese Vorwürfe nicht alle so zu lesen, als seien sie Senecas eigene Laster. Und gewiss zieht Seneca den beispielhaften, anonymen Kritiker auch etwas ins Lächerliche dadurch dass er ihn so detailgetreuen Vorwürfe vorbringen lässt. Der Kern der Angriffe ist jedoch, Seneca lege Wert auf die Äußerlichkeiten des Lebens und lebe daher nicht so, wie er predige. Und Senecas Antwort lässt erkennen, dass er sich mit den Vorwürfen zum Teil identifiziert [4]. Er antwortet denen, die ihm vorwerfen, dass er seine Lebensweise nicht seinen Predigten anpasst:

     

    (Vit. beat. 17): „Ich bin nicht weise und – um deine Entrüstung noch zu steigern – ich werde es nie sein. Verlange also nicht von mir, daß ich den Besten gleich, sondern daß ich im Vergleich zu den Schlechten besser sei. Das genügt mir, täglich ein wenig von meinen Fehlern abzulegen und mir meine Mißgriffe vorzuhalten. [...] eher lindern als heilen will ich meine Gicht und bin’s zufrieden, wenn sie mich seltener anfällt und weniger zwackt“ [5].

     

    An dieser Stelle zeigt sich, dass es Seneca hier weniger darum geht, seine eigenen Fehler explizit darzustellen, sondern darum, sich selbst zu verteidigen [6]. Die Auseinandersetzung mit dem fiktiven Sprecher hat demnach aber auch die Funktion, den Leser zu ermuntern, trotz der gegnerischen Einwände, nicht den Mut bei der Besserung sinken zu lassen. Dies zeigt sich in der folgenden Passage, wo Seneca nochmals dem fiktiven Einwurf entgegnet, seine Lehre stehe im Widerspruch mit seinem Leben [7]:

     

    (Vit. beat. 18): „[...] Das, ihr boshaften Menschen, die ihr gerade die Besten am ärgsten anfeindet, hat man auch Platon vorgeworfen; man warf es Epikur, warf es Zenon vor. Alle diese sprachen ja nicht davon, wie sie selbst lebten, sondern wie sie selbst leben sollten. Ich rede von der Tugend, nicht von mir, und wenn ich gegen die Laster vom Leder ziehe, ziehe ich vor allem gegen meine eigenen los. Sobald ich kann, will ich leben, wie man sollte. Nein, eure Gehässigkeit, mag sie auch noch so sehr von Gift triefen, wird mich nicht von den Besten fernhalten.“

     

    Seneca zieht zur Selbstrechtfertigung philosophische Autoritäten wie Platon, Epikur und Zenon heran, denen dieselben Vorwürfe gemacht worden sind wie ihm selbst. Diese Autoritäten werden hier offensichtlich nicht deswegen herangezogen, weil sie auch, wie Seneca, Fehler begangen haben, sondern deswegen weil ihnen Vorwürfe gemacht wurden; implizit könnten sie aber genauso als Autoritäten dienen, die auch nur Menschen waren. Seneca will sich selbst nicht mit ihnen auf eine Stufe stellen, so als wäre er genauso weise wie Platon und die anderen Philosophen, tut es aber indirekt doch. Diese Selbstverteidigung zeigt also, dass die Vorwürfe, die Seneca in den Mund des fiktiven Interlokutors legt, zu einem gewissen Grade ihre Berechtigung haben. Seneca verteidigt sich hier demnach zum einen gegen eine Fehlinterpretation, die ihm vorwirft, er predige nur und halte sich selbst nicht an seine Vorgaben, steht aber dabei zugleich zu den von ihm begangenen Fehlern.

     

    2.1.2 Senecas 7. Brief an Lucilius

     

    Anders geht Seneca in den Briefen an Lucilius vor. In diesen Briefen, die er in seinen letzten drei Lebensjahren schreibt [8], möchte Seneca seinen Freund Lucilius und einen weiteren Adressatenkreis ermuntern, in der Philosophischen Lebensweise gemäß der Stoa Fortschritte zu machen. Die Sammlung besteht aus 124 Briefen, die als fiktive Briefe mit einem breiten Adressatenkreis konzipiert sind [9]. Zur Funktion der Briefsammlung hebt Giebel hervor, „es geh[e] um die endgültige Festigung [des] [...] Charakters, indem der bereits vorhandene [...] Antrieb, das Rechte zu tun, [...] zu einer unerschütterlichen Haltung [werde]. Das Ziel [sei] die völlige Freiheit von allem Äußerlichen [...], der Einklang mit sich selbst, mit der göttlichen Weltordnung, aus dem eine tiefe innere Ruhe und Freude entsteht [...]“ [10].

     

    In seinem siebten Brief geht Seneca darauf ein, welche verheerende Wirkung es haben kann, wenn man sich unter eine Menschenmenge oder unter die falsche Gesellschaft begibt. Er zieht sich selbst als Beispiel heran und gesteht seinem Briefpartner die eigene Schwäche ein.

     

    (Ep. 7,1–3): „Was Du meines Erachtens besonders meiden sollst, fragst Du? Die Masse! Der kannst Du Dich noch nicht gefahrlos aussetzen. Ich zumindest muß meine Schwäche gestehen: Nie komme ich so geartet heim, wie ich nach draußen ging; etwas von dem, was ich in Ordnung gebracht habe, wird verstört, etwas von dem, was ich ausgetrieben habe, kehrt wieder [11]. [...] Schädlich ist der Kontakt mit den Vielen. Jeder macht uns irgendeinen Fehler schmackhaft, drängt ihn uns auf oder hängt ihn uns an, ohne daß wir’s merken. Jedenfalls, je größer die Menge ist, unter die wir uns begeben, desto größer ist die Gefahr. Nichts aber ist so verderblich für einen anständigen Charakter wie das müßige Herumsitzen während irgendeiner Schau [im Amphitheater]. Dann nämlich schleichen sich beim Vergnügen leicht Laster ein. Was, glaubst Du, sage ich da? Habgieriger gehe ich heim, anspruchsvoller, ausschweifender, ja sogar grausamer und unmenschlicher, weil ich unter Menschen war.“

     

    Nach dieser Einleitung schildert Seneca, wie er sich mittags in einer Vorstellung im Zirkus wiederfindet, wo er verschiedenste Grausamkeiten beobachtet, die ihn zurück in alte Affekte stürzen [12].

     

    Er geht bei seiner Schilderung jedoch sehr geschickt vor: Es ist zwar seine Schwäche, die er eingesteht, seine Haltung die er ändern muss. Doch der Grund dafür, dass es zu einem Rückfall in die alten Fehler kommt, ist eigentlich das Verhalten der Masse, dem er noch nicht genug gefestigt gegenüber steht. Diese Darstellung hat zwei Vorteile: Zum einen wird Senecas eigenes Fehlverhalten in gewisser Weise gerechtfertigt und damit entschuldbar, es wirkt auf den Leser nicht so verwerflich, als wenn der Erzähler die volle Schuld seiner Fehler auf sich nehmen würde. Zum anderen wirkt diese Rede dadurch auch motivierend auf den Rezipienten. Der Leser kann feststellen, dass „Rückfälle“ gewissermaßen dazu gehören und dass Fortschritte möglich werden, wenn die Gefahr oder die Gründe dafür genannt und erkannt sind.

     

    Das argumentative Ziel des 7. Briefes ist es jedoch, den Rezipienten, in der Person des Lucilius angesprochen, davor zu warnen, mit den falschen Menschen über seine philosophischen Ansichten zu sprechen oder dies aus Ruhmesstreben zu tun. Dies geht aus der folgenden Passage hervor:

     

    (Ep. 7,7–9): „Ein einziges Beispiel von Verschwendungssucht oder Habgier stiftet viel Unheil. [...] Ein reicher Nachbar reizt unsere Begehrlichkeit, ein boshafter Bekannter hat oft genug einem noch so reinen, arglosen Gemüt sein Gift eingeflößt. Was, meinst du, widerfährt einem charaktervollen Menschen, über den alle Welt herfällt? Du mußt entweder dich anpassen oder hassen. Beides aber sollte man meiden. Werde den Bösen nicht ähnlich, weil es viele sind, und den Vielen nicht feind, weil sie dir unähnlich sind. Ziehe dich in dich selbst zurück, soweit du kannst! Gehe mit denen um, die dich bessern können, und lasse die zu dir kommen, die du zu bessern vermagst. Im Wechsel geht das, und während Menschen belehren, lernen sie. Es gibt aber keinen Grund, mit dem Ehrgeiz, dein Talent aller Welt zu zeigen, öffentlich aufzutreten, um diesen Leuten etwas vorzutragen oder auseinanderzusetzen. Ich ließe es dich tun, wenn du für so ein Publikum das entsprechende Angebot hättest. Niemand ist darunter, der dich verstehen könnte! Irgendwer vielleicht, einer oder gar noch einer, wird deinen Weg kreuzen und den musst du dann bilden und unterweisen, damit er dich begreift. „Warum habe ich dann all das gelernt?“ Du brauchst nicht zu befürchten, dich umsonst abgemüht zu haben: Für dich hast du gelernt.“

     

    Seneca hat sozusagen zuerst ein Zugeständnis gegeben, dass er selbst Fehler macht wenn er sich in eine Menschenmenge begibt. Daraufhin warnt er dann Lucilius selbst vor dem Umgang mit falschen Menschen. Der Bericht über die eigene Schwäche kann hier also als Mittel begriffen werden, mit dem der Leser zuerst milde gestimmt werden soll, damit er die darauffolgende Warnung besser aufnehmen kann.

     

    2.1.3 Fazit Seneca

     

    Wie sich aus den beiden Beispielen gezeigt hat, setzt Seneca die Rede über eigene Fehltritte unterschiedlich ein. Der Autor/Erzähler führt in solchen Fällen gewissermaßen einen Drahtseilakt durch: Einerseits will er sein eigenes Verhalten als Fehlverhalten darstellen, andererseits muss er das Fehlverhalten jedoch auch rechtfertigen, um sich nicht selbst zu diskreditieren und seine Autorität gegenüber dem Leser zu wahren, die für dessen Überzeugung anerkannt werden muss. Die Distanz des Erzählers zu seinen Fehltritten entsteht dabei durch die Art und Weise, wie über sie gesprochen wird. In De uita beata geht Seneca nicht explizit darauf ein, welche Fehler noch an ihm haften. Er schafft Distanz zu den Fehltritten, indem er sie in den Mund des fiktiven Interlokutors legt. Die dortige Darstellung befasst sich zum einen mit Fehltritten, die Philosophen generell entgegengebracht werden und damit den philosophischen Leser betreffen. Der Erzähler/Autor erkennt sie jedoch zum anderen als seine eigenen an. Die Ausführungen eignen sich damit als eine Art Handreichung, wie man sich gegen Vorwürfe wehren kann, und als Aufforderung, sich weiterhin mit Philosophie zu beschäftigen. Gleichermaßen kann De uita beata als eine Form der Selbsttröstung des Autors verstanden werden, mit dem Ziel, selbst nicht aufzugeben [13]. Schließlich ist hervorzuheben, dass Senecas Diskussion mit dem fiktiven Gegner auch eine Verteidigung seiner eigenen Lebensweise darstellt. Er dürfte sich damit also unter anderem an die Menschen gerichtet haben, die ihm die angeführten Vorwürfe gemacht haben.

     

    Im Falle des siebten Briefes an Lucilius dient das Sprechen über die eigenen Fehler eher als ein Mittel, um den Leser für eine Warnung aufnahmefähig zu machen. In diesem Falle zieht Seneca keinen fiktiven Gegner heran sondern spricht explizit von sich und nennt eine seiner schlechten Gewohnheiten. Man könnte fast sagen, je deutlicher Seneca im Eingeständnis seiner Fehler ist, desto weniger geht es ihm um seine eigenen Fehler, sondern um die des Lesers. Ziel des siebten Briefes ist es, beim Leser die Erkenntnis zu erreichen, dass er vor dem Einfluss anderer Menschen auf der Hut sein muss, solange er charakterlich noch nicht gefestigt ist.

     

    2.2 Augustins Darstellung eigener Fehler in den Confessiones

     

    Wesentlich deutlicher und detaillierter was seine Fehltritte anbelangt ist im Gegensatz zu Seneca Augustinus. In den ersten Büchern der Confessiones berichtet Augustinus von seinem Weg zu Gott und spart dabei bekanntlich auch seine ethischen und erkenntnistheoretischen Fehltritte nicht aus. Gemäß dem Titel der Schrift können seine autobiographischen Ausführungen als Bekenntnisse vor Gott und dem Leser verstanden werden. Er schildert durch sie auch, wie der Zustand des Menschen nach dem Sündenfall gesehen werden kann. Als eine Verwicklung in Irrungen und Täuschung, die durch ein Defizit des menschlichen Willens zustande kommen. Er beschreibt unter anderem, wie er sich als Junge aus reiner Lust am Stehlen an einem fremden Birnbaum bedient hat [14]. Er schildert, wie er sich in der Sekte der Manichäer zum Irrglauben verleiten ließ [15]. Er zeichnet ein Bild davon, welche Rolle z.B. Ehrgeiz und Gier nach Reichtum in seinem Leben vor der Bekehrung gespielt haben, als er Hofredner am Kaiserhof in Mailand war [16].

     

    Die Confessiones können als ein Werk mit protreptischer Intention aufgefasst werden, d.h. als eine Schrift, die um den Leser und seine Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil wirbt – hier die Bekehrung zum Christentum. Diese Ansicht ist von Feldmann und Kotzé vertreten worden [17]. Betrachtet man die Confessiones unter diesem Aspekt, dann sollten auch die Schilderungen der Irrungen Augustins darauf untersucht werden, welche protreptische Wirkung sie auf den Leser haben könnten. Mögliche Funktionen wären etwa die des Tadels, der Ermutigung, der Aufforderung.

     

    Als ein Beispiel für solch eine Szene soll an dieser Stelle die folgende Passage aus dem vierten Buch der Confessiones ins Auge gefasst werden.

     

    Augustinus hatte vor seiner Bekehrung eine Schrift über das Schöne und Angemessene verfasst, die er nach seiner Bekehrung verwarf. Er schildert, wie er diese Schrift einem römischen Redner gewidmet habe, und analysiert, welche Motive ihn zu dieser Widmung veranlasst haben:

     

    Conf. 4,21: „Was aber bewog mich, Herr, mein Gott, von diesem Buch dem Hierius, einem Redner in Rom, zu schreiben? Ich kannte diesen Mann zwar nicht persönlich, hatte ihn jedoch wegen seiner weithin berühmten Gelehrsamkeit liebgewonnen, auch ein paar Worte von ihm gehört, und sie hatten mir gefallen. Aber noch mehr gefiel er mir, weil er anderen gefiel und sie ihn heftig lobten, voller Verwunderung darüber, dass er, ein Syrer, der sich zunächst mit der griechischen Beredsamkeit vertraut gemacht hatte, sich später auch als bewundernswerter Kenner der lateinischen erwies und sich darüber hinaus in ausgezeichneter Weise auf die Inhalte der Philosophie verstand. [...] Der oben erwähnte Rhetor aber war von der Art Mensch, wie ich sie liebte, in der Weise, dass ich auch so sein wollte; in meinem Hochmut irrte ich umher, ließ mich von jedem Wind treiben und wurde doch von dir auf ganz geheimnisvolle Weise geleitet.“

     

    Augustinus erörtert hier, dass seine Zuneigung zu dem genannten Redner durch den eigenen Ehrgeiz geprägt war. Im Folgenden analysiert er weiter, weshalb seine Bewunderung für den besagten Redner nicht aufrichtig war:

     

    Conf. 4,23: „[...] wenn ihn dieselben Leute nicht gelobt, sondern getadelt [hätten], [...] [hätte ich mich] nicht so für ihn erwärmt und begeistert [...]; gewiss hätte sich die Sachlage nicht geändert, auch der Mann nicht, nur die Einstellung derer, die von ihm erzählten, wäre eine andere gewesen. Seht den Ort, den eine unstete Seele einnimmt, die noch nicht fest auf die bleibende Wahrheit vertraut!“

     

    Augustinus berichtet also zunächst von einem Ereignis – hier der Widmung seines Buches an Hierius – und erläutert dann, wie seine mentale Verfassung zu dieser Zeit war. Es ging ihm bei der Widmung der Schrift nicht um Freundschaft zu dem Redner selbst, sondern um den Wunsch, selbst so berühmt zu werden wie er. Er erklärt dem Leser so, weshalb das Ereignis überhaupt als ein Fehltritt zu interpretieren ist [18]. Er wollte von seinen damaligen Kameraden ebenso angesehen und gelobt werden, wie Hierius. Ja, er wollte sogar von ihnen beneidet werden [19]. Augustinus macht hier auf sehr differenzierte Art und Weise deutlich, was einen Menschen dazu antreiben kann, andere Menschen zu bewundern. Wie Seneca zeigt auch er, wie sehr sich der Mensch in seinem Urteil vom Urteil anderer abhängig macht und wozu dies führen kann. In einem letzten Schritt erläutert Augustinus schließlich, dass sein ethischer Irrtum auch dadurch zustande kam, dass ihm damals noch nicht bewusst war, was als Wahrheit bzw. Gut einzuschätzen sei. Durch seine detaillierte Selbstanalyse macht er den Leser darauf aufmerksam, den Grund seines Handelns selbst zu erforschen und gegebenenfalls Fehleinstellungen zu erkennen. Augustinus erläutert seine eigenen Denk- und Einstellungsfehler und macht den Leser gleichzeitig neugierig darauf, was die eigentliche Wahrheit ist, die er sucht und die er im weiteren Verlauf der Confessiones finden wird.

     

    Die Ereignisse, die Augustinus in den ersten neun Büchern schildert, werden jedoch nicht in jedem Falle ausschließlich schlecht bewertet. Er macht den Leser auch immer wieder darauf aufmerksam, dass er sich einzelner Fehlvorstellungen bereits entledigt hat. Die Fehltritte Augustins zeigen demnach auch einen fortschreitenden Charakter hin zum Guten; Schritt für Schritt legt Augustinus falsche Ansichten ab und nähert sich Gott.

     

    Augustinus besucht SimplicianusAugustinus besucht SimplicianusUm der Funktion der Berichte der eigenen Fehltritte bei Augustinus weiter auf die Spur zu kommen, möchte ich an dieser Stelle eine weitere Passage aus den Confessiones herausgreifen. Gegen Ende des achten Buch beschreibt Augustinus sein Bekehrungserlebnis. Zu Beginn dieses Buches schildert er, dass er den entscheidenden Schritt zur Taufe nicht tun kann, weil er als Voraussetzung dafür ein eheloses Leben ansah und sich von der Bindung an seine Partnerin nicht losmachen kann. Er berichtet dann, wie er zu Simplicianus kommt, der auch schon ein geistlicher Lehrer für Ambrosius war [20], von dem Augustinus später getauft wird, und der auf ihn einen maßgeblichen Einfluss hatte. Ihm wird also eine bestimmte Autorität in Glaubensangelegenheiten zugesprochen. Das Gespräch mit Simplicianus wird für Augustinus zu einem Schlüsselerlebnis. Er schreibt:

     

    Conf. 8,3: „So ging ich denn also zu Simplician[us], dem geistlichen Vater des Ambrosius, der damals Bischof war und der ihn wirklich wie seinen Vater liebte; Ihm erzählte ich meine Irrfahrten [21]. Als ich erwähnte, ich hätte einige Bücher der Platoniker gelesen, die Victorinus ins Lateinische übersetzt hatte, der früher Rhetor der Stadt Rom gewesen sei und von dem ich gehört hätte, er sei als Christ gestorben, da beglückwünschte er mich, dass ich nicht auf die Bücher anderer Philosophen verfallen sei, die voll seien von Fallstricken und Täuschungen nach den Regeln dieser Welt, während jene Bücher auf alle Weise den Gedanken an Gott und an sein Wort nahelegten.“

     

    Augustinus erzählt Simplicianus also von seinen Irrwegen und Fehlern und wird von ihm gelobt, dass er Bücher des Marius Victorinus gelesen habe. Nach der eben vorgetragenen Szene erzählt Simplicianus Augustinus von der Bekehrung des Marius Victorinus. Als Folge dieser Bekehrungserzählung stellt sich in Augustinus, wie er in der Retrospektive hervorhebt, der Drang ein, dem Beispiel des Victorinus nachzueifern und Christ zu werden. Nachdem ihm neben dieser Geschichte noch andere Bekehrungserzählungen berichtet werden, erfolgt Augustins eigene Bekehrung, die er als ein Gnadenerlebnis schildert und durch die er sich ganz für das Christentum entscheiden kann.

     

    Die Abfolge von Fehlerbericht, Tröstung/Lob und Heranziehung eines Beispiels/ einer Geschichte spiegelt dabei im Kern das wider, was Augustinus selbst in den Confessiones tut und wozu er seine Leser auffordern möchte. Nämlich ihre Fehler einzusehen, nicht zu verzweifeln und ihm oder anderen als Beispiel zu folgen und sich (vollständig) zu bekehren [22]. In der Sekundärliteratur wird diese Stelle als eine Anleitung für die Lektüre des im Anschluss folgenden Bekehrungserlebnisses verstanden. Der Leser solle den folgenden Bericht über die Bekehrung Augustins genauso begreifen, wie Augustinus selbst den Bekehrungsbericht des Marius Victorinus als Vorbild aufgefasst habe, so Kotzé. Die Anleitung zu den Confessiones ist meines Erachtens jedoch dabei nicht nur eine Leseanleitung hinsichtlich Augustins Bekehrungsszene [23], die sich im Verlauf des achten Buches finden lässt, sondern kann auch rückwirkend auf Augustins Fehlerbericht, in den vorangehenden Büchern, angewandt werden. Bevor Simplicianus von Marius Victorinus berichtet, teilt Augustinus in einem sehr kurzen und prägnanten Satz mit: „Ihm erzählte ich von allen meinen Irrwegen“ (conf. 8,3) [24]. Er macht damit selbst darauf aufmerksam, dass das Eingeständnis eigener Fehler und auch die Verzweiflung gewissermaßen den Weg zur Umkehr und zu Gott ebnen. Dies lässt sich auch durch Augustins eigene Reflexionen im zehnten Buch der Confessiones erklären. Dort verknüpft Augustinus die Suche nach Gott mit einer Suche in der eigenen Erinnerung [25]. Die Erinnerung ist dabei nicht nur der Ort, in dem jeder Mensch wiederfinden kann, was er erlebt hat. Sie ist auch das Vermögen, das Ereignissen im Nachhinein eine bestimmte Bedeutung zuschreiben kann [26]. Aus der Erinnerung heraus geschieht auch das Bekenntnis zu den eigenen Fehlern. Augustins Gedankengänge zu Erinnerung können an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, dennoch dürfte aus dem bisher gesagten deutlich werden, was Augustinus mit seinem Fehlerbericht beim Leser bewirken möchte [27].

     

    Dies möchte ich nun kurz zusammenfassen:

     

    Erstens: Augustins eigene Reflexionen zu seinen Fehltritten laden den Leser ein, sich gewissermaßen selbst in der Retrospektive zu betrachten und zu untersuchen, welche Bewertungsmaßstäbe er in ähnlichen Situationen angelegt hat. Augustinus führt sich selbst als Beispiel an und ermutigt damit den Leser, mit ihm den Schritt zu einem neuen Leben zu wagen; gedacht als eine Aufforderung an andere, ihm nachzueifern [28]. Sie sollen sich in seinen Fehlern wiedererkennen und sich auch bekehren. Das fällt in den Rahmen der Protreptik; die Situation kann in der Reflexion zudem als ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu Gott bewertet werden; als eine Situation, in der sich, rückblickend erinnernd betrachtet, Gottes Wirken gezeigt hat, auch wenn man es selbst zuvor nicht realisiert hat [29].

     

    Zweitens: Augustinus macht deutlich, dass es, um den Weg zu Gott zu finden, Gott und andere Menschen wie z.B. Ambrosius und Simplicianus braucht. Dies lässt sich auch durch einen Blick in das Proömium von Augustins De doctrina christiana bestätigen, wo erläutert wird, dass die Menschen im irdischen Leben zu einem gewissen Grad der Erkenntnis kommen können; Hilfsmittel der Vermittlung dafür ist auch das Gespräch mit anderen. Dass der Mensch zur Erkenntnis kommt und lernt, kann aber allein durch die göttliche Gnade gewährleistet werden [30]. Sie ist es auch, die den Weg zu Gott ermöglicht.

     

    Das führt schließlich zur dritten Funktion des Fehlerberichts Augustins, nämlich in gewisser Weise der Selbsttröstung [31]; der Bericht ist eine Suche mittels der Erinnerung, nach Stationen, die für die weitere Entwicklung des eigenen Lebensweges wesentlich sind; Augustinus schildert immer wieder, wie er die Lenkung Gottes in der Retrospektive erkennt. Er vermittelt damit dem Leser: Wer über seine Vergangenheit nachdenkt und dort Fehltritte entdeckt, dem kommt vielleicht in den Sinn, ob sie nicht einen tieferen Nutzen für ihn hatten, als gedacht. Auch hierfür sind andere Menschen hilfreich, wie sich im Falle des Simplicianus zeigt, der Augustinus aufmerksam macht, dass er auf dem richtigen Weg ist.

     

    3. Abschließender Überblick

     

    Die verschiedenen Texte haben gezeigt, wie facettenreich die Funktion des impliziten/expliziten Berichts von eigenen Fehlern bei den beiden Autoren ist. Dabei ist deutlich geworden, dass je expliziter ein Autor in seiner Darstellung auch seines Innenlebens ist, der Fokus desto stärker auf die Anleitung und Führung des Lesers hin zu einer bestimmten Verhaltensweise gelegt ist.

     

    Die Rechtfertigung – im Sinne einer Erklärung und Verteidigung des beschriebenen Handelns – spielt in allen Texten auf unterschiedliche Weise eine Rolle. Seneca legt in De uita beata seine eigenen Fehler in den Mund des fiktiven Interlokutors und kann so in gewisser Weise vermeiden, dass die aufgeführten Fehler vom Leser zu stark mit seiner Person als Autor selbst identifiziert werden. Im siebten Brief führt er das Verhalten der anderen Menschen an, die sein Fehlverhalten in gewisser Hinsicht rechtfertigen.

     

    Augustinus hingegen analysiert eigene Handlungen aus seiner Erinnerung und rechtfertigt gewissermaßen vor dem Leser, dass diese Handlungen überhaupt ethisch falsch waren [32]. Augustinus bekennt nicht nur seinen Irrtum vor Gott, er führt dem Leser an sich selbst auch vor, dass der Mensch mit der Hilfe Gottes aus dem Irrtum herauskommen kann. Dadurch dass Augustinus in den Confessiones immer wieder hervorhebt, dass es sich um Bekenntnisse vor Gott handelt, rechtfertigt er zudem sein literarisches Vorgehen, offen über seine Fehltritte zu sprechen. Dass er sich auch der möglichen negativen Außenwirkung bei bestimmten Lesern bewusst war, und sich selbst dennoch dazu ermuntert, seine Fehler zu bekennen, spiegelt sich in seinen Worten wider, die er an Gott richtet und mit denen ich hier enden möchte:

     

    „Was wäre ich denn für mich ohne dich? Doch nur ein Führer in den Abgrund. Oder was bin ich, wenn es mit mir gut bestellt ist? Auch nur ein Wesen, das deine Milch saugt, dich als Speise genießt, die unvergänglich ist. Und was für ein Mensch ist jeder Mensch, wo er doch nur Mensch ist? Sollen mich die Starken und Mächtigen doch auslachen: Ich will in meiner ganzen Schwäche und Hilflosigkeit vor dir meine Bekenntnisse ablegen.“ (Conf. 4,1)

     

     

    Anmerkungen

     

    [1] Interview von Alexander Krex mit Johannes Haushofer vom 3.5.2016: http://www.zeit.de/campus/2016-05/cv-of-failures-johannes-haushofer-professor-princeton-scheitern (abgerufen am 10.11.2016)

    [2] Zu den folgenden Stationen von Senecas Leben v. Giebel, M., Seneca, Reinbek 2009, 7sq.; 10–12; 48sq.; 97sq.; 106; 120–126.

    [3] Anderson, P.J., Seneca. Selected Dialogues and Consolations, Indianapolis 2015, xxvii.

    [4] Abel, K., Recognitio Sui. Seneca im Spiegel seiner und seines Selbst, Marburg 1989, 21sq.: „Angriff und Verteidigung auf die Philosophen im allgemeinen scheinen Masken, hinter denen der Autor selbst Schutz sucht. Wie weit erstreckt sich diese Verflechtung von Individuellem und Generellem? Diese Frage drängt sich auf. Zumindest umgreift die Verwebung den gesamten ‘proficiens’-Abschnitt (21,1–24,2/4); denn es wäre absurd, anzunehmen, daß Seneca, wenn er nachdrücklich versichert, sein Reichtum sei ehrlich erworben und werde für rühmliche Zwecke verwandt, ein allgemeines Ich im Auge habe.“

    [5] Seneca hebt nach seiner Antwort auf die Vorwürfe des fiktiven Gegners hervor, dass er an dieser Stelle nicht für sich spreche, sondern für jemanden, der bereits weiter fortgeschritten ist (uit. beat. 17: „Das sage ich nicht zu meiner eigenen Rechtfertigung – ich stecke ja noch tief in allen möglichen Lastern –, sondern mit Blick auf einen anderen, der etwas weiter gekommen ist.“). Auch wenn er sich hier gewissermaßen aus der Verteidigung ausnimmt, rechtfertigt er durch seine Entgegnung gegenüber dem fiktiven Kritiker zuvor dennoch, dass auch sein eigenes philosophisches Leben durchaus noch fehlerhaft sein kann. Dass er sich von einem Stadium eines weiter Fortgeschrittenen distanziert, könnte darauf hinweisen, dass er, zählte er sich selbst zu einem, der schon weiter vorangekommen ist, mit weiteren Vorwürfen rechnen müsste.

    [6] Abel, Recognitio Sui, 2 (cf. n. 4): „In ‘De uita beata’ legt der ‘proficiens’-Begriff nicht die Grundlage für das erzieherische Anliegen des Schriftstellers, sondern für seine Selbstrechtfertigung. Er steht auf der untersten Stufe sittlicher Erkenntnis. Einesteils hat er ein klares Bild von dem Ziel, das es zu erreichen gilt, wie er andernteils ebenso klar durchschaut, daß sein eigener sittlicher Zustand weit von dem Gipfel entfernt ist, den er zu erringen strebt, anders gesagt: das sittliche Leitbild hat ihm die Augen geöffnet für seine moralische Erkrankung, ohne daß es ihm gelungen wäre, den Heilungsprozeß energisch in Gang zu bringen. [....] Seine Schriftstellerei ist ein erster Versuch, mit sich ins reine zu kommen (vgl. 18,1), sich die Fehler bewußt zu machen, die er abstreifen muß, um sich ihrer in allmählichem Voranschreiten zu entledigen.“

    [7] uit. beat. 18.

    [8] v. Dietsche, U., Strategie und Philosophie bei Seneca. Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den „Epistulae morales“, Berlin [u.a.] 2014, 30.

    [9] v. dazu Dietsche, 35–51 (cf. n. 8). Lucilius ist vielmehr als der Widmungsempfänger denn als der Adressat der Epistulae Morales zu verstehen (ib. 36).

    [10] Giebel, Seneca, 110 (cf. n. 2); Es geht Seneca also auch hier um die Seelenführung hin zu einem glücklichen Leben.

    [11] Seneca vergleicht diesen Zustand mit einer Krankheit: „Was Kranken passiert, die langes Unwohlsein so geschwächt hat, daß man sie nirgends unter Leute bringen kann, ohne daß sie einen Rückfall erleiden, das widerfährt auch uns, deren Geist nach langer Krankheit auf dem Weg der Genesung ist.“ (ib.)

    [12] Augustinus bildet diese Szene offenbar in den Confessiones nach; dort beschreibt er, wie Alypius von den Zirkusspielen mitgerissen wird (Conf. 6,7sq.). Seneca und Augustinus heben beide hervor, dass man sich an das Verhalten der Menschenmasse im Amphitheater anpasst und sich negativ beeinflussen lässt. Dies zeigt sich z.B. in den Formulierungen Sen. ep. 7,1: numquam mores quos extuli refero; und A. conf. 6,13: et non erat iam ille, qui uenerat, sed unus de turba, ad quam uenerat, et uerus eorum socius, a quibus adductus erat.

    [13] v. Kuen, G., Die Philosophie als „dux vitae“. Die Verknüpfung von Gehalt, Intention und Darstellungsweise im philosophischen Werk Senecas am Beispiel des Dialogs „De vita beata“. Einleitung, Wortkommentar und systematische Darstellung, Heidelberg 1994, 228sq.

    [14] v. conf. 2,9–17.

    [15] v. conf. 3,10–18.

    [16] v. conf. 6,9.

    [17] Feldmann, E., Confessiones AL 1 (1986–1994), 1166–1180; Kotzé, A., Augustine’s Confessions: Communicative Purpose and Audience, Leiden [u.a.] 2004, 45­–85.

    [18] Er wendet dabei jeweils eine dreischrittige Methode an, indem er zunächst von einem Ereignis berichtet, dann seine eigene mentale Verfassung zu dieser Zeit untersucht und schließlich die Situation aus dem Blickwinkel auf sein Verhältnis zu Gott betrachtet (v. Miyatani, Y., The Meaning of Memoria in the Confessions of St. Augustine, in: Studia Patristica 18,4 (1990), 93sq.)

    [19] O’Donnell, J., Augustine, Confessions, II, Commentary on Books 1–7, Oxford 1992, 252.

    [20] Dassmann, E., Ambrosius, in: AL 1 (1986–1994), 272.

    [21] Übersetzung von Thimme: „Ihm erzählte ich von allen meinen Irrwegen, die ich kreuz und quer gegangen.“

    [22] Kotzé, Augustine’s Confessions, 178sq. (cf. n. 17)

    [23] Kotzé, Augustine’s Confessions, 181. (cf. n. 17)

    [24] Übersetzung von Thimme: „Ihm erzählte ich von allen meinen Irrwegen, die ich kreuz und quer gegangen.“

    [25] Kotzé, Augustine’s Confessions, 142sq. (cf. n. 17); Frederiksen, P., Die Confessiones (Bekenntnisse), in: Augustin-Handbuch (hrsg. v. V. H. Drecoll), 308.

    [26] Frederiksen, Die Confessiones (Bekenntnisse), 305 (cf. n. 25).

    [27] v. Fuhrer, T., Augustinus, Darmstadt 2004, 131.

    [28] v. Fuhrer, Augustinus, 127sq. (cf. n. 27).

    [29] z.B. bei der Lektüre verschiedener Literatur (Hortensius (conf. 3,7–9), Platonicorum libri (conf. 7,26sq.)), die die richtigen Denkanstöße gegeben haben; auch in der Begegnung mit Menschen, die einzelne Fehlvorstellungen korrigiert haben (conf. 4,2–6) bzw. durch die Augustinus seine Fehlvorstellungen selbst erkannt hat (Begegnung mit Faustus (conf. 5,10–13); Begegnung mit Ambrosius (conf. 5,23sq.). V. auch Miyatani, Memoria, 93 (cf. n. 18).

    [30] v. Pollmann, K., Doctrina christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana, Freiburg (Schweiz) 1996, 87–89.

    [31] v. Lössl, J., Augustine’s Confessions as a Consolation of Philosophy, in: ‘In Search of Truth’: Augustine, Manicheism and other Gnosticism, Studies for Johannes van Oort at Sixty (ed. by J.A. van den Berg/A. Kotzé/T. Nicklas/M. Scopello, Leiden [u.a.] 2011,67sq.

    [32] Um überzeugend sein zu können, um Menschen zur Umkehr zu bringen, muss deutlich gemacht werden, dass es sich bei den bisherigen Verhaltensweisen/Ansichten überhaupt um Fehler handelt. Auf einer weiteren Stufe müssen neue Perspektiven gesät werden, die eine Besserung der eigenen Lebensbedingungen in Aussicht stellen. Schließlich muss dem Leser klar gemacht werden, dass eine Änderung an sich überhaupt durchführbar ist. Augustinus „rechtfertigt“ – wenn man im Zusammenhang der Confessiones davon sprechen kann – seine Fehler dadurch, dass auch sie ihn letztendlich zu Gott geführt haben. Dies geschieht durch die Reflexion mittels der Erinnerung. Gleichzeitig können jedoch die Confessiones auch so gelesen werden, dass Augustinus Lesern, die aus manichäischem/nicht-christlichen Umfeld stammen, sein bisheriges Leben überhaupt erst als fehlerhaft darstellen muss und gewissermaßen seine Bekehrung „rechtfertigt“. Zur manichäischen Leserschaft der Confessiones v. Kotzé, Augustine's Confessions, 88-94 (cf. n. 17).

     

    Bibliographie

     

    1. Übersetzungen

    • Augustinus, Aurelius, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch, übersetzt, herausgegeben und kommentiert von K. Flasch und B. Mojsisch. Mit einer Einleitung von K. Flasch, Stuttgart 2009.
    • Augustinus, Aurelius, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch, übersetzt von W. Thimme, mit einer Einführung von N. Fischer, Düsseldorf [u.a.] 2004.
    • Seneca, L. Annaeus, Die kleinen Dialoge. Band II. Lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit einer Einführung versehen von G. Fink, München 1992.
    • Seneca, L. Annaeus, Epistulae morales ad Lucilium. Briefe an Lucilius. Band I. Lateinisch-deutsch, herausgegeben und übersetzt von G. Fink, München 2011.

     

    2. Sekundärliteratur

    • Abel, K., Recognitio Sui. Seneca im Spiegel seiner und seines Selbst, Marburg 1989.
    • Anderson, P. J., Seneca. Selected Dialogues and Consolations, translated, with Introduction and Notes, Indianapolis 2015.
    • Dassmann, E., Ambrosius, in: AL 1 (1986–1994), 270–285.
    • Dietsche, U., Strategie und Philosophie bei Seneca. Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den „Epistulae morales“, Berlin [u.a.] 2014.
    • Frederiksen, P., Die Confessiones (Bekenntnisse), in: Augustin-Handbuch (hrsg. v. V. H. Drecoll), Tübingen 2007, 294–309.
    • Fuhrer, T., Augustinus, Darmstadt 2004.
    • Giebel, M., Seneca, Reinbek 20096.
    • Kuen, G., Die Philosophie als „dux vitae“. die Verknüpfung von Gehalt, Intention und Darstellungsweise im philosophischen Werk Senecas am Beispiel des Dialogs „De vita beata“. Einleitung, Wortkommentar und systematische Darstellung, Heidelberg 1994.
    • Kotzé, A., Augustine’s Confessions: Communicative Purpose and Audience, Leiden/Boston 2004.
    • Lössl, J., Augustine’s Confessions as a Consolation of Philosophy, in: ‘In Search of Truth’: Augustine, Manicheism and other Gnosticism, Studies for Johannes van Oort at Sixty, (ed. by J.A. van den Berg/A. Kotzé/T. Nicklas/M. Scopello) Leiden [u.a.] 2011, 47–73.
    • Miyatani, Y., The Meaning of Memoria in the Confessions of St. Augustine, in: Studia Patristica 18,4 (1990). 90–96.
    • O’Donnell, J., Augustine, Confessions, II, Commentary on Books 1–7, Oxford 1992.
    • Pollmann, K., Doctrina christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana, Freiburg (Schweiz) 1996.