AUGUSTINUS-FESTPREDIGT

Walldürn, 28.8.2004

Von Cornelius Petrus Mayer OSA

Die Wochenzeitung Die Zeit brachte in ihrer vorletzten Nummer ein beachtenswertes Interview über das Entstehen intelligenter Wesen. Darin vertrat der namhafte Entwicklungswissenschaftler und Biologe Simon Conway Morris die Auffassung, der Mensch sei bereits mit dem Urknall, «während der ersten Millisekunde dieser Welt», angelegt gewesen. Wir seien also «alles andere als ein Zufall».

Ich erwähne dies deshalb, weil eine ähnliche Auffassung sich auch in den Schriften jenes Mannes findet, dessen die Kirche am 28. August jeweils – zu Recht – als eines ihrer Größten gedenkt, des vor 1650 Jahren geborenen Augustinus.

Wer von uns kennt nicht den Satz der Bibel: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde»? Weil aber die Bibel unmittelbar mit der Schilderung des ‹Sechstagewerkes› der Schöpfung fortfährt, halten wir uns nicht lange bei diesem ihren ersten Vers, den wir als eine Art Überschrift betrachten, auf.

Nicht so der hl. Augustinus. Er lehrte vielmehr: Indem Gott sprach: «Es werde ...!», sei sozusagen im Augenblick auch schon alles, ‹Himmel und Erde›, erschaffen gewesen, und Gott habe allem Erschaffenen gleichsam ein Programm eingespeichert, wonach sich das Universum im Laufe der Zeit zu entwickeln habe.

Haben Sie keine Angst. Ich will diese Predigt zum Fest des hl. Augustinus nicht zu einer wissenschaftlichen Vorlesung über Astrophysik oder ähnliches umfunktionieren. Es geht mir schlicht darum, uns die Bedeutung dieses hochbegabten und hochgebildeten Mannes bewusst zu machen. Dass er in der Theologie und in der Kirche nicht zu Unrecht schon immer das Sagen hatte, versteht sich von selbst.

Nun war der hl. Augustinus kein Naturwissenschaftler. Er war Bischof und als solcher allem voran Seelsorger. Jahr für Jahr feierte er den Tag seiner Bischofsweihe. Bereits als Greis sagte er an einem solchen Tag in der Predigt, es schrecke ihn, was er für seine Gemeinde sei, es tröste ihn jedoch, was er mit ihnen sei. Das Amt sei seine Bürde, das Christ sein hingegen, das ihn mit den Gläubigen verbindet, seine Würde «Für euch nämlich», so fuhr er wörtlich fort, «bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ» (s. 340,1)..

Das bevorzugte Instrument der Seelsorge war ihm die aus dem Alten und Neuen Testament bestehende Bibel. Menschen haben sie zwar geschrieben, aber als ihren eigentlichen Urheber betrachtete er stets den, der sich, wie in unserer Evangelienperikope soeben gehört, sich allein als Lehrer genannt wissen wollte. Von der Wahrheit der biblischen Verkündigung war er zutiefst überzeugt. Den Reichtum der Heiligen Schrift den Gläubigen zu erschließen und ihnen das Erschlossene aneignen und vertiefen zu helfen, darin erblickte er seine wichtigste und vornehmste Aufgabe.

Worum geht es in der Bibel? Um unser Heil, antwortete der Bischof bündig. Ihr Thema ist Gott und Gottes Verhalten zum Menschen. Gewiss reden davon auch andere Religionen und Weltanschauungen, aber die Bibel redet davon anders – und von diesem ‹anders reden› der Bibel war Augustinus seit seiner Bekehrung fasziniert.

Als er in seinem 37. Lebensjahr Priester der Gemeinde von Hippo in heutigem Algerien wurde, ließ er sich von seinem Bischof mit der Bitte beurlauben, er wollte Gottes Wort, die Heilige Schrift, besser verstehen und er müsse sie deshalb nochmals gründlich studieren. Kaum war er vier Jahre später zum Bischof geweiht, als er seine zur Weltliteratur zählenden Bekenntnisse zu schreiben begann.

Es gibt kein literarisches Werk der Christenheit, in dem das, was sein Autor seinen Lesern sagen will, bis in die Wortwahl hinein so von der Botschaft der Bibel durchtränkt ist wie diese 13 Bücher der Bekenntnisse. Augustinus erzählt darin sein Leben unter dem Leitmotiv des Gleichnisses Jesu ‹vom verlorenen Sohn›, also jenes jungen Mannes, der aus dem ‹Vaterhaus› auszog und alles verprasste. Der Auslegung des Bischofs zufolge zog im Bilde ‹des verlorenen Sohnes› der das Paradies durch seinen ‹Ungehorsam› verlassende Adam in die ‹Fremde› und im Bilde Adams jedes der Adamskinder.

Wie kommt man dorthin wieder zurück? Das ist das erregende Thema schon der Bibel und darum auch der Bekenntnisse. Deshalb berichtet Augustinus in den ersten Büchern so ausführlich von seinen Verirrungen und Verwirrungen, damit der Leser diese mit ihm sehe, betrachte und erwäge, dabei aber seine eigenen erkenne und wie er, Augustinus, schließlich ihrer überdrüssig, des ‹Vaterhauses› jedoch eingedenk, in sich gehe.

Dieses In-sich-gehen um des ‹Vaterhauses› willen ist der springende Punkt. Es hat nämlich die Erinnerung daran zur Voraussetzung, dass es über das irdische Leben hinaus noch ein anderes Leben gibt, ein Leben bei dem, der uns erschuf und der wollte, dass wir bei ihm sind. Die Bibel geht noch einen Schritt weiter. Sie kündet davon, dass Gott selbst, um den Menschen bei sich zu haben, sich auf den Weg macht.

Nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn läuft der Vater dem in die Fremde Gezogenen entgegen, und nach dem Kern der neutestamentlichen Verkündigung sendet Gott ‹seinen eigenen Sohn› in die Welt, damit er uns ‹Weg› zum ‹Vaterhaus› werde und die Rückkehr ermögliche. In der Osternacht, wenn die Kirche den Höhepunkt ihres Glaubens an die Erlösung liturgisch begeht, jubelt sie darüber im Exultet, diesem wohl schönsten Hymnus der Christenheit. Der Diakon singt dabei von der ‹heilbringenden Sünde des Adam, die uns zum Segen wurde, weil Christi Tod sie vernichtet hat›. «O unfassbare Liebe des Vaters», heißt es wörtlich: «Um den Knecht zu erlösen, gabst du den Sohn dahin! ... O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden!».

In der Forschung über den Hymnus der Osternacht will die Stimme derer nicht verstummen, die meinen, die zitierten Sätze seien der Theologie des hl. Augustinus entnommen. Von wo aber er sich zu solch kühnen Gedanken inspirieren, wenn nicht vom Neuen Testament! «Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben» – diesen Satz aus dem Ersten Johannesbrief verkündet die Kirche sinniger Weise in der Lesung des heutigen Gedenktages.

Als Augustinus seine Bekenntnisse schrieb, war er längst Christ. Er schrieb sie für Christen, für seine Brüder und seine Schwestern, die Glieder am Leibe des Herrn, der die Kirche ist, sein wollen. Worin besteht das Christ sein, wenn man bereits gläubig ist? Was ist zu tun, wenn man Christ bleiben, wenn man als Christ wachsen, reifen und zur Vollendung gelangen will? Darüber erfährt der Leser zum Teil frappierende, stets aber faszinierende Ansichten und Weisungen, und zwar gerade deshalb weil sie samt und sonders entweder der Bibel entnommen sind oder mit ihr in hohem Maße übereinstimmen.

Da ist vor allem das Wissen um das ‹Vaterhaus› als Ziel des Lebens von allergrößter Bedeutung. Das Christ sein steht und fällt mit dem Glauben an ein Leben am Ende der Tage. Die Bekenntnisse beginnen mit dem vielzitierten ‹unruhigen Herz›. Gemeint ist damit unser der Zeit, der ständigen Veränderung und der Zerrissenheit unterworfenes Leben. Gezielt hat Augustinus sich im 11. Buch seiner Bekenntnisse unter strikter Wahrung des Wissens um die Ewigkeit Gottes beschäftigt. «Ach siehe», so wendet er sich am Schluss dieses vielgelesenen und vielerörterten Buches dem Schöpfer der Zeiten mit dem Bekenntnis zu, «mein Leben ist eine Zerdehnung».

Der Verfasser der Bekenntnisse kann sich nicht genug tun, die Leser auf die Kürze und auf die Flüchtigkeit der uns Adamskinder zugemessenen Zeitspanne aufmerksam zu machen – auf den fundamentalen Unterschied zwischen Gott, dem Ewigen und darum Einen, und uns den Vielen, weil durch vieles Zerteilten. ‹Ausstrecken› will sich deshalb Augustinus und wir sollen dies mit ihm tun, nicht nach dem, was vorübergeht, sondern nach dem, was bleibt.

Augustinus beschreibt sodann mit Vorliebe unser irdisches Leben als eine ‹Wegstrecke›, wohl eingedenk der Bibel, die unser Dasein häufig und schlicht eine ‹Pilgerschaft› nennt. ‹Pilgersein› beinhaltet ein Wissen um das Ziel auf das hin man unterwegs ist. Inbegriff solcher ‹Pilgerschaft› war für die Frommen Israeliten der Weg zum Tempel in Jerusalem. In den neutestamentlichen Schriften wird ‹Jerusalem› zum Bildbegriff des Himmels.

Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, Christen hätten es sich – vielleicht in Kenntnis des Wortes von Heinrich Heine: «Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen» – abgewöhnt, vom Himmel zu sprechen. Nicht so Augustinus. Im ganzen 12. Buch meditiert er darüber, was wohl die Hl. Schrift mit dem Ausdruck ‹der Himmel des Himmels› gemeint haben könnte. Der Kirchenvater hält es mit dem Apostel Paulus, der in seinem Ersten Korintherbrief schriebt: «Wir verkündigen, wie in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereit hat, die ihn lieben» (2,9). Und im 13. Buch legt er eine Spiritualität, eine Geisteshaltung für Christen dar, die ganz und gar auf den Himmel, auf Gottes Wohnung und auf den für uns bestimmten Ort hin zentriert ist.

Wie kommen Christen in den Himmel? Indem sie glauben – nicht alles Mögliche, sondern das, was die Mitte des Christ Seins ausmacht (das, wovon der erwähnte Hymnus in der Osternacht singt). Wie kommen Christen in den Himmel? Indem sie hoffen – nicht auf die irdische Erfolge (sie sind jedem zu wünschen, haben aber mit dem Christ sein nichts zu tun), sondern auf das ewige Leben, «das Gott», wie gehört, «denen bereitet, die ihn lieben».

Schließlich ist da die Liebe, sozusagen der Schlüssel zum Himmel. Wieder ist nicht jede Art Liebe gemeint, sondern jene, die von Gott ausgeht. «Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen», hieß es in der Lesung.

Gerade im 13. Buch seiner Bekenntnisse schreibt Augustinus einmalig Schönes über diese uns von Gott geschenkte Liebe. Er sagt, sie, die Liebe, sei des Menschen spezifisches Gewicht. Also: nicht Begabung macht unseren Wert aus, nicht Reichtum, nicht Öffentlichkeit und Ansehen, sondern einzig und allein die ‹caritas›. Hören Sie sich diese wohlformulierten Sätze dieses ehemaligen Professors der Rhetorik, der Redekunst, an. Ich will damit zugleich meine Predigt beschließen.

Ich erwähnte bereits, dass der Begriff ‹Ruhe› ebenfalls einer der Leitfäden der Bekenntnisse ist. Von der ‹Ruhe des Himmels›, die uns verheißen ist, davon geht unser Text aus:

«In deiner Gabe ruhen wir und dort genießen wir deiner. Unsere Ruhe ist unser Ort. ... Der Körper strebt durch sein Gewicht nach seinem Ort. Es strebt das Schwergewicht nicht nur nach unten, sondern nach seinem Ruhepunkt. Das Feuer strebt nach oben, der Stein nach unten. Sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen nach ihrem Ruhepunkt. Öl auf Wasser gegossen, schwimmt auf dem Wasser, Wasser, auf Öl gegossen, sinkt unters Öl.: sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen ihren Ruhepunkt. Was nicht in seiner Ordnung ist, ist ruhelos: es kommt in seine Ordnung und ruht. Mein Gewicht ist meine Liebe; von ihr bin ich gezogen, wo immer ich hingezogen werde. Durch deine Gaben werden wir entzündet, und wir werden nach oben gehoben; wir entbrennen und setzen uns in Bewegung. ... Von deinem Feuer, von deinem guten Feuer werden wir entzündet, und wir setzen uns in Bewegung hinauf ‹zum Frieden Jerusalems› (Ps 119,1). ... Dort wird der gute Wille uns einen Platz anweisen, dass wir nichts anders wollen, als dort ‹verharren in Ewigkeit› (Ps 60,8)».

Dass auch an uns dies in Erfüllung gehen möge, das wünsche ich Ihnen und mir zum Fest unseres Ordensvater, des hl. Augustinus. Amen.