Predigt über Joh 10,7-18

zum Fest des hl. Augustinus

28.08.2005

Pfarrverband Messelhausen

von Pfarrerin z.A. Dr. Larissa Carina Seelbach

 

Liebe Gemeinde,

eine Schafsherde zieht, von einem Hirten geführt, über Täler und Hügel. Ein idyllischer Anblick! Das vertraute Bild von Hirte und Herde verbindet uns über Raum und Zeit hinweg mit den Menschen der Bibel. Mit diesem Vergleich aus dem Alltagsleben kleidet Jesus eine tiefe Heilswahrheit in eine sich selbst erschließende Gestalt. Instinktiv erahnen wir die Geborgenheit, die es bedeutet, wenn Jesus Christus unser guter Hirte ist.

Solche biblischen Bilder zu entfalten, sie als die Wahrheit unseres Heils für die Gegenwart auf den Punkt zu bringen, ist die Aufgabe der Theologie. Sie fragt, was Jesus, der gute Hirte, sagt und was er uns heute noch zu sagen hat.

In unserem Predigttext entdecken wir unter anderem die Botschaft von der Einheit der Christen. Es ist die eine Herde, die Jesus Christus führt. Diese christliche Einheit wird heute viel beschworen und ist zugleich doch auch heiß umstritten. Durch besonders ausgeklügelte öffentlichkeitswirksame Aktionen versuchen manche hier „ein Zeichen zu setzen“, eine Gemeinschaft buchstäblich herbeizufeiern. Doch, um „ein Zeichen zu setzen“, bedarf es zuvor einer Eindeutigkeit des zu Bezeichnenden. Gerade an Eindeutigkeit fehlt es uns Christen und Christinnen oft. Gemeinsames Feiern isoliert betrachtet, hieße letztlich, den zweiten Schritt vor dem ersten tun zu wollen. Legen wir also die Basis für ein wahrhaft christliches Miteinander, indem wir mit dem ersten Schritt die Grundlage aller weiteren schaffen und uns so der Mitte unseres Gemeinschaft stiftenden christlichen Glaubens bewusst werden. Dies dürfte ganz im Sinne des Kirchenvaters Augustin sein, der im Folgenden immer wieder zu Wort kommen soll. Wie kaum ein anderer vermag er zur geistigen Identitätsbildung von Christen und Christinnen beizutragen. Er nahm in Glaubensfragen kein Blatt vor den Mund und trat entschieden für die christliche Einheit ein.

Wenden wir uns dem eben verlesenen Predigttext zu. Welche Bilder gebraucht Jesus dort? Fast überraschend klingt der Vergleich, den er für sich selbst heranzieht. Er bezeichnet sich als Tür. Jesus – die Tür! Der Sinn dieses kräftigen Bildes leuchtet unmittelbar ein: Nur durch ihn gibt es Zutritt zum ewigen Leben. Er allein ist die Tür, kein Weg zum Reiche Gottes führt an ihm vorbei. Durch Hintertürchen, Luken oder Löcher wird niemand dorthin gelangen. Diese klare Feststellung findet sich ähnlich auch bei Augustin. Er war überzeugt davon, dass der Glaube der Christenheit mit dem rechten Bekenntnis zu Jesus Christus steht und fällt. Hier und nur hier entscheidet sich, ob wir uns mit Recht und Berechtigung Christen nennen. Würden wir das heute auch so sagen?

Solch ein gewaltig kompromissloser Anspruch wirkt auf uns doch eher unbarmherzig, wenn nicht gar intolerant. Ja, es stimmt: Eine solche Aussage kommt uns in Zeiten postmoderner Beliebigkeit bzw. selbstinszenierter Patchworkreligiosität, in denen man sich seine Religion nach eigenem Gutdünken zusammenbastelt, nur schwer über die Lippen.

Ein Mönch, der einst den Ordensnamen „Augustinus“ trug, – ich spreche von Martin Luther –, brachte Augustins Forderung auf die Formel: „Allein Christus“. Da stellt sich die Frage: Darf man so etwas wirklich behaupten? Riecht das nicht nach vermodertem Dogmatismus, nach finsterstem Mittelalter? Gibt es denn wirklich die eine Religion, die richtig ist? Haben wir nicht alle den gleichen Gott? Genügt es etwa nicht, schlicht ein guter Mensch zu sein? Derartige Einwände sind keine Seltenheit.

Liebe Gemeinde, indem wir uns – scheinbar selbstkritisch – solche Fragen stellen, zeugen wir nicht von einer vermeintlich großen Weite unserer religiösen Anschauungen. Vielmehr gestehen wir unsere Orientierungslosigkeit ein – eine Orientierungslosigkeit, die sich an vielen Stellen auch in unserer Gesellschaft auswirkt. Fehlt Christen der eindeutige Maßstab, bleibt das nicht folgenlos. Vielleicht findet sich auch deshalb in der geplanten EU-Verfassung kein eindeutiger Gottesbezug, weil eben vielen buchstäblich der Bezug zu Gott verloren gegangen ist. Insgesamt kann man sagen: Die Ausrichtung auf Gottes Wort wirkt wenig verbindlich, geschweige denn im politischen und gesellschaftlichen Alltag hilfreich. Paradoxerweise wird aber beinahe im gleichen Atemzug allerorten die notwendige Vermittlung von Werten eingefordert?! Richtlinien und Orientierung bedarf es also schon, doch wo sollen die herkommen?

Hören wir wieder auf unseren Text, denn das biblische Bild vom Hirten und seiner Herde spielt auf die menschliche Orientierungslosigkeit an. Ein Schaf, auch wenn uns dieser Vergleich wenig schmeichelhaft vorkommt, hat einen ausgesprochen schlechten Orientierungssinn. Deshalb braucht es den Hirten. Eine Taube findet über tausende von Kilometern den Weg zur Heimat, das Vieh kehrt ebenfalls meist problemlos von der Weide in den Stall zurück, nicht so das Schaf. Das Schaf ist auf die Stimme des Hirten angewiesen, um nicht vom rechten Weg abzukommen, d.h. um überhaupt Nahrung zu finden, um zu überleben. Die Stimme des Hirten verheißt Halt und Sicherheit – vor allem aber: Wegführung. Ein guter Hirte trägt Sorge, dass es seinen Tieren an nichts mangeln wird. Deshalb ist Jesus Christus nicht nur die Tür, sondern auch der Hirte, d.h. nicht nur das Heil, sondern auch der alleinige Heilsbringer. Als absoluter Weg zum Heil ist Jesus die Tür für die Schafe und enttarnt zugleich die Holzwege aller vermeintlichen anderen Heilsbringer. Denn: Schafe gelangen nur durch die dafür bestimmte Tür zur Weide. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass Menschen einzig durch Christus zur Rettung geführt werden. Jeder illegitime Offenbarungs-, Führungs-, oder Heilsbringeranspruch zerbricht an dieser klaren Bestimmung.

„Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.“ Jesus spendet uns Leben, spendet sein Leben für uns, ist als Tür zugleich „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).

Wie schwierig es mitunter sein kann, zu Christus zu finden, hat auch Augustin selbst erfahren. Einst wollte er eigene Wege gehen, doch diese führten ihn weit weg vom Ziel. Der Sohn einer christlichen Mutter gelangte erst nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen, die ihn u.a. in eine religiöse Sekte, aber auch in die Elfenbeintürme der Philosophie führten, zum christlichen Glauben zurück. Indem er seinen windungsreichen Weg zu Gott beschrieb und die eigenen Irrwege schonungslos offen legte, wollte er anderen die Richtung weisen. Zu Beginn des sechsten Buches seiner zu Papier gebrachten „Bekenntnisse“ klagte er: „Doch ich lief ins Dunkel, auf schlüpfrigem Pfad, suchte dich außerhalb meiner, aber ich fand ihn nicht, den Gott meines Herzens.“

Letztlich fand Augustin den Weg zu Gott. Zugleich gelangte er zu der Einsicht, dass Christus nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg zu Gott bedeutet. Christus ist also nicht nur die Tür, sondern auch der Hirte, der zur Tür führt. Augustin hatte diese Erkenntnis erst am eigenen Leib erfahren müssen, verkündigte sie dann aber umso entschiedener:

„Wenn nämlich zwischen einem, der ein Ziel erstrebt, und dem erstrebten Ziele ein Weg sich befindet, kann er hoffen hinzukommen. Fehlt der Weg jedoch oder kennt man ihn nicht, was nützt es dann, das Ziel zu wissen? Der einzige gegen alle Irrtümer völlig gesicherte Weg aber ist er selber, Gott und Mensch zugleich, als Gott das Ziel, als Mensch der Weg.“

Liebe Gemeinde, Sie werden nun vielleicht sagen: Bei Augustin mag das so gewesen sein, er ist ja auch ein Heiliger! Doch bei mir ist das anders, …! Woran liegt es, dass wir so zu argumentieren vermeinen? Nun, wir beziehen den biblischen Text nicht unmittelbar auf uns. Dafür gibt es auch scheinbar einen gewichtigen Grund. Wir tun uns wohl deshalb mit dem Bild vom Hirten und den Schafen so schwer, weil wir uns nicht mit Schafen vergleichen lassen wollen. Anders als Schafe, mit denen wir nach eigenem Empfinden wenig gemeinsam haben, verfügen wir doch über die Fähigkeit, eigene Lebenswege festzulegen, abzuändern, zu verwerfen oder geradlinig zu verfolgen. Wir brauchen keine expliziten Vorgaben, da uns ein wacher Verstand gegeben ist, da wir eigene Entscheidungen treffen können und treffen wollen. Darin aber liegt der große Irrtum, den selbst Augustin erst nach so manchem Fehler einsah. Die frohe Botschaft, das Evangelium unseres Textes besteht aber letztlich gar nicht darin, dass wir uns in jeder nur erdenklichen Hinsicht mit Schafen vergleichen. Das Evangelium besteht für uns vielmehr darin, dass wir auf den guten Hirten hören. Auf den guten Hirten zu hören, ihm zu folgen macht den Glauben aus. Als Bischof, der im 4. und 5. Jahrhundert lebte, wusste sich Augustin im Bewusstsein dieser Angewiesenheit auf Jesus Christus mit allen Gliedern seiner Gemeinde eng verbunden. Deshalb bekannte er in einer Predigt: „Für Euch bin ich Bischof, mit Euch bin ich Christ. Das Erstere ist meine Bürde, das Letztere meine Würde.“

Was heißt es nun gegenwärtig, im 21. Jahrhundert auf Jesus Christus, den einen Hirten, zu hören? Sinnangebote werden uns von unterschiedlichster Seite her unterbreitet. Eine Vielzahl umwerbender Stimmen beschallt uns, gibt vor zu wissen, was gut für uns ist, was wir tun und lassen sollen. Jedoch hören wir die Stimme des guten Hirten allenfalls noch verzerrt, sofern wir in ihr nur ein Weltdeutungsangebot unter vielen auf dem bunten Markt der Möglichkeiten vernehmen wollen. Unser Predigttext lässt keine Zweifel: Jesus ist nicht einer von vielen. Er ist der einzige, der den wirklichen Weg zum wirklichen Ziel zeigt, er ist der Hirte, er ist die Tür! Als Individuen, die ihren Glauben losgelöst von der christlich-biblischen Lehre leben und verwirklichen wollen, laufen wir stets Gefahr, falschen Hirten in die Fänge zu gehen. Das ist der Preis der postmodernen Freiheit, die nicht selten eine konsumhörige Selbsterlösung propagiert.

Augustin kannte zwar die Postmoderne nicht, wohl aber die Verführungskünste falscher Hirten. Deshalb hat er uns auch heute noch so viel zu sagen. Als Pastor, d.h. übersetzt als Hirte, wollte Augustin seine Gemeinde nur einem einzigen anvertrauen, nämlich Christus, dem guten Hirten. Denn es galt damals und gilt heute immer noch: Ein Schaf in der Herde des guten Hirten bleibt nicht orientierungslos. Egal wie viele Stimmen es hört, egal welcher Wolf im Schafspelz den Lebensweg kreuzt, dieses Schaf weiß, dass allein die Stimme des guten Hirten den Weg vorgibt. Dieses Schaf kennt Christi Stimme, verfügt über einen inneren Kompass. Wie die Kompassnadel dabei immer nach Norden weist, werden wir auf die Erlösungstat Jesu Christi gewiesen. Als der gute Hirte bringt Jesus den existentiellen Einsatz seines Lebens für uns. Durch seinen Tod am Kreuz eröffnet er uns umfassende Gemeinschaft. Die göttliche Liebe kommt in der freiwilligen Lebenshingabe des Sohnes zum Ziel, wodurch Christi Sendung zum Wohle der Seinen erfüllt wird. Dabei vollzieht sich Christi Selbsthingabe keineswegs passiv; denn nach Johannes gibt Jesus sein Leben hin, damit er es wiedernehme, so dass die Perspektive von Verherrlichung und Auferstehung stets mitzudenken ist. Durch seine freiwillige, in Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters selbstgewählte Lebenshingabe, führt Jesus Christus als der gute Hirte, das Volk Gottes zu einer Herde zusammen.

Gottes geliebter Sohn vollendete seine Liebe zu uns durch seinen Kreuzestod und wurde so für uns die Tür zum ewigen Leben bei Gott. Christi Kreuz steht für diesen Zugang, ist das weltweit bekannte christliche Zeichen schlechthin.

Zur Herde des guten Hirten kommen nun auch nach den Worten des Predigttextes „andere Schafe“ hinzu. Diese ganze Herde bildet die Kirche derer, die zu Jesus Christus gehören und auf seine Stimme hören. Hierauf verweist auch schon das Wort „Kirche“. Laut seinem griechischen Ursprung „Kyriaké“ bedeutet Kirche „zum Herrn gehörig“. Die anderen Schafe sind Jesus genauso anvertraut wie die eigenen. Wie diese Schafe zu Christus finden, wird nicht gesagt, wohl aber, dass sie auf seine Stimme hören werden.

Gleichwie Johannes einstmals die Heidenchristen, die mit den Judenchristen eine Einheit bilden sollten, in den Blick nahm, dürfen auch wir heute nicht in vermeintlicher Heilsgewissheit allein auf unsere jeweilige Konfession zentriert denken. Christi Herde erstreckt sich über die ganze Welt. Uns steht es nicht an, zu unterscheiden, wer zur wahren Kirche Christi zählt und wer nicht. Augustin, dessen wir heute besonders gedenken und der sich um die Einheit aller Christen bemühte, gelangte wohl auch deshalb zu der Erkenntnis: „Viele, die drinnen sind, sind draußen, und viele, die draußen sind, sind drinnen.“

Dementsprechend sollten wir uns nicht mit Erkennungsmerkmalen aufhalten, welche vermeintlich die wahre von falschen Kirchen, die wirkliche Kirche von „kirchlichen Gemeinschaften“ unterscheiden. Das einzige Merkmal, das uns gegeben ist, wird bei Johannes eindeutig genannt: Zur Kirche Jesu Christi gehören alle, die auf seine Stimme hören. Nicht mehr wird gefordert, aber auch nicht weniger. Wo Menschen auf Jesus Christus hören, sich in seine Nachfolge begeben, ist Kirche, ist die eine christliche Herde des einen guten Hirten.

Amen.