Von Cornelius Petrus Mayer OSA

Die in Würzburg erscheinende Zeitung Die Tagespost veröffentlichte in ihrer Nr. 105 vom 2. 9. 2006, S. 23, anlässlich des Papstbesuchs vom 9.-14. 9. 2006 unter der Überschrift «Ein roter Faden durch die Schriften. Die Themen des Kirchenvaters Augustinus prägen seit mehr als fünfzig Jahren die Publikationen des Theologen Josef Ratzinger» folgenden Beitrag:

Die Laufbahn eines Wissenschaftlers beginnt in der Regel mit der Dissertation. Sie gleicht der ersten Liebe und prägt das Leben eines Gelehrten aufs Nachhaltigste. In den lesenswerten «Erinnerungen (1927-1977). Aus meinem Leben» erzählt Josef Ratzinger schon als Kardinal, wie es zur Themenwahl seiner Doktorarbeit kam. Unter seinen akademischen Lehrern rühmt er den von ihm mit Vorliebe ‹Meister› genannten Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen. Kennzeichnend sei für diesen gewesen, dass er von den großen philosophischen und theologischen Quellen her dachte. Besonders beeindruckt habe ihn dessen Leidenschaft für die Wahrheit und die Entschiedenheit des Fragens nach dem Grund und dem Ziel des Wirklichen.

Im Sommer 1950 sei in der theologischen Fakultät in München Söhngen an der Reihe gewesen, die alljährliche Preisaufgabe zu stellen, die dem Gewinner zugleich das Prädikat summa cum laude für eine Promotionsarbeit sicherte. Söhngen überredete Ratzinger, der sich in die Pflicht genommen fühlte, denn um diese Zeit las er eifrig die Schriften der Kirchenväter und er hatte gerade auch ein Augustinus-Seminar seines Meisters besucht. Das gestellte Thema lautete: «Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche». Das Ja zu dieser Themenwahl zählt zweifelsohne mit zu den Sternstunden im Leben Benedikts XVI., dessen Bearbeitung stellte nämlich die Laufbahn seines Lebens auf ein Gleis, das vom Denken des Kirchenvaters Augustinus geprägt, mit der Lehre über die Kirche zugleich auch die Liebe zur Kirche zum Ziel hatte.

Freilich gibt es schon in den geistigen Anlagen überraschend viel Gemeinsames zwischen Benedikt XVI. und Augustinus. Jener weiß zu berichten, dass ihm das Lernen leicht fiel (Erinnerungen, 28), dieser dass ihm rasche Auffassungsgabe und scharfer Verstand zu eigen war (Bekenntnisse 4,30). Jener erhoffte sich bereits vom Universitätsstudium, aufgrund des erworbenen Wissens möglichst intensiv und extensiv «in die geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart eindringen» zu können (Erinnerungen 52), dieser gilt als größter Apologet der Kirche, weil er seit seiner Bekehrung zum Christentum die Lehre der Kirche mit der ihm eigenen Leidenschaft verteidigte. Der christliche Glaube schließt nach jenem Rationalität und Intelligibilität nicht aus, dieser erteilte einem über das Mysterium der Trinität nachdenkenden Zeitgenossen den Rat, er möge dabei den Intellekt nicht gering schätzen: «intellectum vero valde ama» (Briefe 120,13).

Die Liste solcher strukturellen Parallelen ließe sich leicht erweitern. Es sei lediglich noch auf die außergewöhnliche Sprachkompetenz sowie auf das reiche literarische Œuvre beider hingewiesen. Augustinus war von Beruf Professor der Grammatik und der Rhetorik. In seinem Werk «Über die christliche Wissenschaft» 4,27 verlangt er vom vollendeten Redner, dieser möge bei seinen Reden allem voran auf das Lehren der Wahrheit bedacht sein (docere), sodann auf das Bewegen zum Tun des Guten (movere) und schließlich (wem dies gegeben ist) auf das Ergötzen durch wohlformulierte Sätze (delectare). Josef Ratzinger beherrscht diese Bedingungen guter Rhetorik meisterhaft. Die Liste seiner Publikationen umfasst über 600 Titel, wobei die zahlreichen Texte von Gremien, Kommissionen und Dokumenten, an denen er maßgebend und wahrscheinlich auch federführend mitgewirkt hat, in diese Liste nicht aufgenommen sind. Von Augustinus sind uns rund 100 Werke (manche voluminöse) überliefert – von den Predigten (immerhin 500 überlieferte) fehlt das Neunfache von den Briefen (immerhin 246 überlieferte) fehlt das Achtfache.

Augustinische Themen durchziehen das Schrifttum Ratzingers wie ein roter Faden. Zu seiner Enzyklika «Gott ist die Liebe» bemerkt Karl Kardinal Lehmann, sie schöpfe aus der Fülle des christlichen Glaubens. «In den 36 Anmerkungen werden die Kirchenväter aus Ost und West, die Päpste des letzten Jahrhunderts, das Zweite Vatikanische Konzil und vor allem die Bibel in beiden Testamenten gehörig zu Wort gebracht. ... Natürlich hat der hl. Augustinus bei dem Papst, der schon vor fast 55 Jahren seine Doktorarbeit über ihn gemacht hat, und den er seither ständig begleitet, einen hohen Rang» (Herder-Ausgabe 2006, 137).

Gewiss nimmt die Gnadenlehre in Augustins Schrifttum einen breiten Raum ein, dennoch kulminiert dessen Theologie in der Lehre von der Kirche. Die Kirche ist sozusagen die Plattform, von der aus Augustinus die Themen des christlichen Glaubens in den Blick nimmt. Aus diesem Grunde wurden schon dem Theologiestudenten Ratzinger die Bücher des Franzosen Henry de Lubac «Der Katholizismus» und die «Betrachtungen über die Kirche» zur Schlüssellektüre, weil sie es ihm ermöglichten, aus ihrem Horizont heraus in das Gespräch mit Augustinus einzutreten. Zum Bund der favorisierten Theologen zählten weiter Hans Urs von Balthasar und Yves Congar – alle ausgewiesene Kenner der Werke des Kirchenvaters.

Obgleich es bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfangreiche Monographien zum vielerörterten Thema über den Kirchenbegriff bei Augustinus gab, so gelang es doch dem jungen Theologen Ratzinger, mit seiner Dissertation neue Gesichtspunkte und Ergebnisse vorzulegen. Haus Gottes ist nicht der Tempel, sondern die Gemeinde, Gottes Volk, die Kirche. Und diese heißt bei Augustinus im Anschluss an den Apostel Paulus mit Vorliebe «Leib Christi», der sich vorzüglich in der kultischen Feier der Eucharistie als gelebte «caritas» und verwirklichte «unitas» darstellt. Der Kirchenvater sprach gerne im Hinblick auf die Kirche als Leib des Hauptes Christus vom «ganzen Christus- totus Christus». Haupt und Leib bilden den einen Christus, der sich selbst liebt: «unus Christus amans seipsum» (Kommentar zum Ersten Johannesbrief 10,3). Mit dieser von Rezensenten durchwegs als hervorragende Leistung bewerteten Dissertation hat Josef Ratzinger die Grundlagen für seine Kompetenz als Peritus, als Konzilstheologe und Berater von Kardinal Frings, während des Zweiten Vatikanums, dessen Hauptthema die Kirche sein sollte, gelegt.

Nachdem ihm dann 1977 die Leitung der Erzdiözese München-Freising anvertraut wurde, begründete er die Wahl seines Leitspruches «Mitarbeit der Wahrheit» erneut und sicher auch bewusst mit diesem augustinischen Programm: Der Glaube müsse allzeit der Frage nach dessen Wahrheitsgehalt standhalten. Mit Verve verteidigte er als Präfekt der Glaubenskongregation die 1998 veröffentlichte Enzyklika «Fides et ratio». Das Kernproblem, um das es dieser Enzyklika gehe – so der Kardinal –, sei die Frage nach der Wahrheit. Trotz des gegenwärtig vorherrschenden Zweifels an der Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Wahrheit erkennen zu können, dürfe der offenbarte Glaube vor dem Anspruch auf Rationalität und Intelligibilität nicht kapitulieren. Der Wahrheitsanspruch des Glaubens besitzt natürlich wie die zu verkündigende und verkündigte Liebe eine metaphysische, eine auf Dauer angelegte Dimension. In seinen Bekenntnissen hat Augustinus diesen Dreiklang von Wahrheit, Liebe und Ewigkeit mit den ihm eigenen Glanz und Prägnanz so zum Ausdruck gebracht: «O aeterna veritas et vera caritas et cara aeternitas! – O ewige Wahrheit und wahre Liebe und geliebte Ewigkeit!» (7,16). Mit diesen drei begrifflichen Größen hat es das Christentum zu tun.

Das bischöfliche Wappen Benedikts XVI. schmücken eine Muschel und ein Bär. Die Wahl dieser Symbole hat abermals viel mit dem Kirchenvater Augustinus zu tun. Die Muschel erinnere ihn an die Legende vom spielenden Knaben, der das Meer in eine Grube zu schöpfen versuchte. Es sei ein Hinweis auf seinen «großen Meister Augustinus» und zugleich Hinweis auf seine eigene theologische Arbeit, «Hinweis auf die Größe des Geheimnisses, das weiter reicht als all unsere Wissenschaft». Ebenso erinnere ihn das Symbol des Bären an eine Meditation Augustins zum Psalm 72 (73), 23. Der Vers lautet: «Wie ein Lasttier bin ich vor dir. Dennoch bin ich stets bei dir». Darin erblicke Augustinus ein Bild seiner selbst unter der Last des bischöflichen Amtes. Dazu der schon in Rom in der Glaubenskongregation waltende Kardinal: «Er (Augustinus) hatte das Leben eines Gelehrten gewählt und war von Gott zum Zugtier bestimmt worden – zum braven Ochsen, der den Karren Gottes in dieser Welt zieht. Wie oft hat er aufbegehrt gegen all den Kleinkram, der ihm auf diese Weise auferlegt war und ihn an der großen geistigen Arbeit hinderte, die er als seine tiefste Berufung wusste. Aber da hilft ihm der Psalm aus aller Bitterkeit heraus: Ja, freilich, ein Zugtier bin ich geworden, ein Packesel, ein Ochs – aber gerade so bin ich bei dir, diene dir, hast du mich in der Hand. Wie eben das Zugtier dem Bauern am nächsten ist und ihm seine Arbeit tut, so ist er gerade in solchem demütigen Dienst ganz nahe bei Gott, ganz in seiner Hand, ganz Werkzeug – nicht näher könnte er bei seinem Herrn sein, nicht wichtiger für ihn. ... Inzwischen habe ich», so fährt der Kardinal weiter, «mein Gepäck nach Rom getragen und wandere seit langem damit in den Straßen der Ewigen Stadt. Wann ich entlassen werde, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass auch mir gilt: Dein Packesel bin ich geworden, und so, gerade so bin ich bei dir» (Erinnerungen 179f.).

Welch ein Bekenntnis zur Kirche und welch ein Bekenntnis zum Dienst in und an der Kirche! Unbestreitbar ist Papst Benedikt XVI. ganz und gar der Theologe Josef Ratzinger. Ist er gerade als solcher nicht auch ein Augustinus redivivus – ein zweiter Augustinus?