«EHRET IN EUCH GEGENSEITIG GOTT, DESSEN TEMPEL IHR GEWORDEN SEID» (Regel 3,3,1)
Vortrag zur Ordensspiritualität bei den Ritaschwestern

von Cornelius Petrus Mayer OSA

8. Januar 2007

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Leitfaden durch den
Vortrag zur Ordensspiritualität bei den Ritaschwestern

von Cornelius Petrus Mayer OSA

8. Januar 2007

Das in der christlichen Caritas gipfelnde gegenseitige Verhalten als Leitgedanke für eine Ordensspiritualität.

Die Mitte des Evangeliums: Gottes Heilshandeln an Christus Jesus, dem Mensch gewordenen Gottessohn, und der daraus abgeleitete Imperativ gegenseitiger Ehrerbietung. – Christi Erlösungswerk als Schlüssel zum Verstehen der biblischen Offenbarung. – Die Rolle des Tempels in den Religionen, im Alten und im Neuen Testament. – Die Tempelkritik Jesu und der neutestamentlichen Schriften. – Zusammenfassende These: Die Loslösung von der Tempelfrömmigkeit des Alten Testamentes vollzog sich prinzipiell christologisch, das heißt, von Christus her und auf Christus hin.

Der Christ als Tempel Gottes nach der Theologie des hl. Augustinus. – Einschlägige Texte aus der Predigt Nr. 217,4: Der Tempel Salomos, der Tempel Jesus Christus und die Tempel der Leiber der Christen. – Das Wirken des Heiligen Geistes im Tempel der Leiber der Glieder Christi. Zusammenfassende These: Wenn ‹die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in unsere Herzen gegossen ist› (Röm 5,5), dann ist eigentlich sie (die christliche Caritas) es, die auch das Wesen einer als Tempel Gottes sich verstehenden christlichen Person bestimmt.

Zur Praxis der Forderung einer gegenseitigen Ehrerbietung bei Christen und christlichen Ordensleuten: Das Christsein, das unser Bewusstsein bestimmt und das Bewusstsein, das unser sittliches Handeln steuert. – Das Beispiel Augustins. – Die Grenzen der Forderung und das Angewiesensein auf die Gnade. – Der gegenseitige Respekt vor der Menschenwürde als Minimum einer sittlichen Forderung für das Zusammenleben in der Gesellschaft. – Die Forderung der gegenseitigen Ehrerbietung im Hinblick auf die Lehre der Bibel von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen. – Die dreifache Struktur der Gottebenbildlichkeit nach der Trinitätslehre des hl. Augustinus. – Die Identität von Wollen und Lieben im Dreieinigen Gott. – Das Urbild der gegenseitigen Liebe im dreieinigen Gott. – Die Fortpflanzung der die Einheit schaffenden christlichen Caritas in der Kirche, den Gliedern Christi: Augustins Kommentar zu 1 Joh 5,1-3. – Die christliche Caritas von oben nach unten und von unten nach oben. – Die Unteilbarkeit der christlichen Caritas.

Zusammenfassung und Ergebnis: Es gibt nach Augustinus nur eine kirchengebundene Spiritualität für Ordenleute. – Die christliche Caritas als Wille zum Guten, Wahren und Schönen ist Bedingung und zugleich auch Voraussetzung bei der Erfüllung des anspruchsvollen Imperativs: «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid!»


Wenn ich mich recht erinnere, spielte der Satz aus der Regel «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid» bei den Vorbereitungen auf Ihr Kapitel im vergangenen Jahr eine wichtige Rolle. In ihm sollte so etwas wie der Leitgedanke bei der Suche nach einem Konzept Ihrer Ordensspiritualität zum Ausdruck kommen.

Als Theologe von Fach, noch dazu als Dogmatiker, kann ich Sie zur Wahl dieses Satzes nur beglückwünschen. Warum? Weil es Augustinus mit diesem Satz gelang, Wesentliches der christlichen Existenz auf den Punkt zu bringen. Zum Wesentlichen der christlichen Existenz gehört aber, so lange das Neue Testament nicht nur gelesen, sondern auch ernst genommen wird, immer noch auch die uns durch Christi Erlösungswerk geschenkte Gotteskindschaft sowie das daraus abzuleitende, in der christlichen Caritas gipfelnde Verhalten der Christen zueinander.

Ich darf Sie zunächst auf folgenden, leider häufig vergessenen Aspekt der neutestamentlichen Verkündigung aufmerksam machen, womit wir freilich sogleich zur Sache kommen: Das Evangelium verkündet primär nicht sittliche Vorschriften, Gebote und Verbote, sondern Christi Erlösungswerk, seine Menschwerdung, seinen Kreuzestod und seine Verherrlichung. In seiner Mitte steht also das Geschehen an Christus und um Christus, dieses aber ist wieder eingebettet in das Heilshandeln des dreieinigen Gottes: des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gott, den wir ‹gegenseitig› in uns ehren sollen, ist der ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, wie es im Großen Glaubensbekenntnis der Kirche heißt; Gott ist der ‹eingeborene Sohn›, der ‹für uns Menschen und zu unserem Heil vom Himmel gekommene› Christus›; Gott ist der ‹lebendig machende› Heilige Geist.

Folgendes ist ferner im Hinblick auf unser Thema zu sehen wichtig: Der Satz «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid» ist ein Imperativ, eine Aufforderung, aber diese ist an einen Indikativ, an eine Aussage geknüpft, die ihr logisch vorausgeht und den Imperativ erst einsichtig macht. Es heißt also: Weil ihr Gottes ‹Tempel› geworden seid, deshalb sollt ihr in euch gegenseitig Gott ehren! Da ist etwas geschehen. Was ist da geschehen? Neues, vorher nicht Gewesenes, Unerhörtes!

Die Apostel und die ersten Christen, welche die Bibel, die Schriften des Alten Testamentes, kannten und eifrig lasen, wussten, dass Gott, der mit seinem Volke Israel einen Bund schloss, immer wieder auch Neues ankündigte. Dieses Neue erblickten sie im Christusgeschehen, mit dem die Offenbarung zugleich zu ihrem Abschluss kam. Sie sprachen jetzt von einem Neuen Bund, und sie nannten ihre Schriften, die davon kündeten, das Neue Testament.

«Viele Male und auf vielerlei Weise», so fasst der Hebräerbrief sämtliche Geschehnisse der Offenbarung zusammen, «hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort; er hat die Reinigung von unseren Sünden bewirkt und sich dann gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe» (1,1-3). Diese drei ersten Verse des Hebräerbriefes geben die auf das Erlösungsgeschehen durch Christi Tod und Auferstehung abzielenden Mitte der biblischen Offenbarung bündig wieder. Nun aber lautete die Mitte der frühkirchlichen Verkündigung und Katechese nicht, der gekreuzigte Jesus lebt, sondern der für uns gekreuzigte Jesus, ‹der Urheber des Lebens›, lebt – so die Pfingstpredigt des Apostels Petrus nach der Apostelgeschichte 3,14. Er schenkt allen, die an ihn glauben, Anteil an seinem Leben.

Der Verstehensschlüssel nicht nur zum Neuen Testament, sondern zur biblischen Offenbarung insgesamt sind die Ereignisse des Karfreitags und der Osternacht. Von ihnen her fällt das Licht auf die Jesusgeschichte unserer Evangelien, von denen ein namhafter Theologe, Martin Kähler, sagte, diese seien nichts anderes als nach rückwärts in das Leben Jesu hinein verlängerte Passions- und Auferstehungsgeschichten. Beides, Kreuz und Verherrlichung durchziehen die Evangelien wie ein roter Faden: Jesus von Nazareth – so lautet deren Quintessenz – ist der Christus, der Messias, und er ist dies deshalb, weil er der ‹Erlöser› ist.

In den alttestamentlichen Schriften war der Titel ‹Erlöser› streng genommen Gott allein vorbehalten. Wenn also Jesus von Nazareth nach biblischem Verständnis ‹Erlöser› ist, dann kommt ihm auch der Titel Christus, der Messias, der Gesalbte, in einem neuen, von Gott her bzw. auf Gott hin zu reflektierenden Sinn zu. Der Glaube an das im Neuen Testament entfaltete Erlösungsgeschehen ist also das Fundament der Lehre von Christus, und diese wieder weist uns den Weg zu Gott dem Einen in drei Personen. Diese gedrängte Darstellung des Kerns der neutestamentlichen Verkündigung ist für unser Verständnis der Weisung aus der Regel des hl. Augustinus, in uns ‹gegenseitig Gott zu ehren›, nicht unerheblich. Denn, wie gesagt, die Weisung ergibt sich aus der Verkündigung der österlichen Ereignisse.

In unserem Satz spielt aber noch ein anderer Begriff, nämlich der des ‹Tempels›, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nun ist auch in bezug auf den Begriff ‹Tempel› ein Blick in das Neue Testament höchst aufschlussreich. Das Wort ‹Tempel› beinhaltet als Begriff nicht mehr wie noch im Alten Testament jenes Gebäude, das Salomon für Gott errichten ließ, sondern primär und vorzüglich die Innerlichkeit der Erlösten. Der Apostel Paulus spricht in bezug auf einen erlösten Christen vom ‹inneren Menschen› (vgl. 2 Kor 4,16). In seinem Ersten Brief an die Korinther schreibt er: «Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn einer den Tempel Gottes verdirbt, wird Gott ihn verderben. Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr» (3,16).

Verständlicher Weise löste die Übertragung des Tempelbegriffes auf die Christen in der frühen Kirche heftige Reaktionen im Zusammenleben mit anderen Religionsgemeinschaften, speziell mit dem Judentum aus. Ich denke, wenn wir uns den Satz «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid» für unsere Spiritualität zu eigen machen wollen, müssen wir auf die Auseinandersetzungen um den Tempel, welche jene Übertragung auslöste, in gebotener Kürze eingehen.

Zur Religion gehört der Kult, und zum Kult der Tempel als das Haus einer oder mehrerer Gottheiten, der bzw. denen der Kult gilt. Schon im alten Orient waren die Tempel in der Regel Paläste, denn die Religionen als Mütter der Kulturen standen mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen in edlem Wettstreit unter- und miteinander, was sich bis heute nicht geändert hat. Man muss die imposanten Anlagen von Theben oder Karnak in Ägypten gesehen haben, um sich ein adäquates Bild von der Bedeutung der Tempel für die Religion eines Volkes machen zu können.

Ähnliches gilt hinsichtlich des Tempels zu Jerusalem. Ausführlich schildert das erste Buch der Könige dessen Bau durch König Salomo. In ihm erhielt auch Israel ein zentrales Heiligtum, dessen Größe und Schönheit in den Schriften des Alten Testamentes, speziell in den Psalmen besungen wird. Solche Äußerungen lassen indes vergessen, dass in Israel das Gottesverhältnis sich ursprünglich anders zu artikulieren hatte. Parallel zur Verherrlichung der Tempelfrömmigkeit durchzieht eine nicht zu überhörende Kritik diesen Tempelkult. Jahwe, der sein Volk aus Ägypten durch die Wüste führte, so lautet die Kritik zusammengefasst, brauchte kein aus Stein gebautes Haus. Die am Hof Salomos und seiner Nachfolger herrschende Gottesvorstellung versuchte zwar die ursprüngliche, von den Patriarchen und Moses vertretene nach und nach zuzudecken, aber die Kritik der Propheten bis zu Jesus verstummte nie ganz. Im Neuen Testament wurde sie lebendiger als je zuvor.

Unseren Evangelien zufolge ließ Jesus die Tempelfrömmigkeit dann gelten, wenn diese den Gott gefälligen, die Barmherzigkeit nicht vernachlässigenden Kult förderte. Das Wort des Zwölfjährigen, den seine Eltern auf der jährlichen Wallfahrt nach einer dreitägigen Suche im Tempel lehrend fanden – «Wusstet ihr nicht, dass ich in dem, was meines Vaters ist, sein muss?» (Lk 2,59) –, unterstreicht die positive Bewertung des Tempels, ebenso die zahlreichen Aufenthalte Jesu während der Festtermine zu Jerusalem, von denen alle vier Evangelien berichten. Indes, die Evangelien berichten auch von Spannungen und Konflikten. So legt das Matthäusevangelium in der Perikope über das Ährenrupfen der Jünger am Sabbat Jesus die Worte in den Mund: «Ich sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: ich will Barmherzigkeit, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt» (12,6-7). Schließlich war es die Kritik Jesu am Tempel, die zu seiner Verurteilung führte. Im Bericht über die Vertreibung der Händler aus dem Tempel nach Joh 2,13-22 forderten die Juden ein Zeichen für seine Vollmacht dies zu tun. Worauf Jesus antwortete: «Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten» (2,19). Der Passionsgeschichte des Markusevangeliums zufolge beriefen sich Zeugen bei der Verhörung Jesu vor dem Hohen Rat gerade darauf: «Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen mit Händen gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen, nicht mit Händen gemachten erbauen» (14,58). Der Evangelist Johannes fügte jedoch vielsagend zu jenem Jesuswort hinzu: «Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er dann von den Toten erweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte» (2,12-22).

Diese, auf den Tempel des Leibes Jesu gedeuteten Worte mögen nicht wenig zur Spiritualisierung und zur Umdeutung des Tempelkultes in der frühen Kirche beigetragen haben, die uns, wie schon erwähnt bei Paulus, aber auch bei andren neutestamentlichen Schriftstellern begegnet. Zweifelsohne besuchten die Christen der Urgemeinde zu Jerusalem weiterhin den Tempel, aber ihren ureigenen Kult, die Eucharistie, die feierten sie in den Häusern. «Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel», lesen wir in der Apostelgeschichte über jene Gemeinde, dann aber fährt der Bericht fort: «sie brachen in ihren Häusern das Brot und aßen miteinander in Freude und Einfalt des Herzens» (2,46f.). Im Laufe der Zeit kam es jedoch zur wachsenden Distanz sowohl zum mosaischen Gesetz wie auch zum Tempelkult und schließlich zu einem Eklat, der zur Verurteilung des Stephanus und zu dessen Steinigung führte.

«Dieser Mann», so hieß es in der Anklage, «hört nicht auf, Reden zu führen gegen die heilige Stätte und gegen das Gesetz» (6,13). Vor der Steinigung wird Stephanus das Wort gewährt, in welcher er auf die erforderliche Scheidung der christlichen von der jüdischen Kultgemeinde eingeht, und in welcher er den Tempel als Bauwerk radikal ablehnt: «Salomon», so der Passus über den Tempel, «baute ihm (Gott) ein Haus. Und doch wohnt der Allerhöchste nicht in dem, was von Händen gemacht ist, wie der Prophet sagt: ‹Der Himmel ist mein Thron, die Erde der Schemel meiner Füße. Welches Haus wollt ihr mir bauen, spricht der Herr, oder welches ist die Stätte meiner Ruhe? Hat nicht meine Hand dies alles gemacht?› (Jes 66,1f.)» (7,47-50).

Fassen wir diesen neutestamentlichen Befund der Kritik an dem Tempel zusammen, so dürfen wir festhalten: Die Loslösung von der jüdischen Tempelfrömmigkeit in der frühen Kirche vollzog sich prinzipiell christologisch, d.h. von Christus her und auf Christus hin. Denn der wahre Tempel ist nach dem Prolog des Johannesevangeliums Jesus, ‹in dem Gottes Wort Fleisch annahm› (eskenosen, Joh 1,14). Bei der Kreuzigung Jesu wurde zwar dieser Tempel, Jesus, der Christus, niedergerissen, er wurde aber bei seiner Auferstehung wieder auferbaut. Als der Verherrlichte «gab (und gibt) er (nunmehr) allen, die ihn aufnahmen, Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind» (ebd. 1,12f.). In der Gotteskindschaft pflanzt sich also die wahre Tempelfrömmigkeit fort. Daraus ist zu folgern, diese hat auch eine ekklesiologische, eine auf die Kirche, auf den Leib Christi hin sich erstreckende Dimension. Davon kündet unser Satz aus der Regel, dem wir uns nunmehr zuzuwenden haben.

Selbstverständlich feierte die Kirche zur Zeit Augustins ihre Liturgie bereits in eigens dafür errichteten Gebäuden. Vor der sogenannten konstantinischen Wende um 313, die der Kirche die Freiheit der Mission brachte, gab es nur sporadisch christliche Kultbauten, aber danach setzte eine rege Kirchenbautätigkeit ein, wofür der Kaiser Konstantin selbst durch die Errichtung der Lateranbasilika zu Rom ein Zeichen setzte. Im Gegensatz zu den Kultgebäuden der Heiden, in denen die verehrte Gottheit anwesend war, dienten die nunmehr errichteten Kirchenräume vorzüglich als Versammlungsstätten, denn es galten nach wie vor die schon erwähnten neutestamentlichen Weisungen, der Tempel Gottes sei die Gemeinde selbst. Gottes Haus könne deshalb kein von Menschenhand errichtetes Bauwerk sein.

Augustinus, der mit seiner Gemeinde täglich die Eucharistie feierte und dabei auch regelmäßig predigte, kam wiederholt auf den Unterschied, durch den die christliche Gemeinde sich vor der Versammlung nicht nur der Heiden, sondern auch des alttestamentlichen Gottesvolkes auszeichnete, zu sprechen. Hören wir uns ein Stück aus einer solchen Predigt, aus dem Sermo 217,4, an:

«Wir (Christen) beten Gott an, dessen Tempel wir selbst sind. ... Wären wir Heiden, so bauten wir Tempel den Göttern. ... Salomon indes baute zwar, weil er ein Prophet Gottes war, einen Tempel aus Holz und Stein, er baute ihn aber Gott: Gott, und nicht einem Götzen; Gott, und nicht einem Engel; Gott, und nicht der Sonne, nicht dem Mond; Gott (vielmehr), der Himmel und Erde erschaffen hat; Gott, ... der im Himmel bleibt, dem baute er (Salomon allerdings) einen irdischen Tempel. Und Gott verschmähte dies nicht, im Gegenteil, er befahl, dies zu tun.

Warum befahl er (Gott) den Bau eines Tempels für sich? Hatte er keine Bleibe? Hört den heiligen Stephanus, der bei seiner Hinrichtung sagte: ‹Salomon errichtete ihm (Gott) ein Haus, der Allerhöchste wohnt jedoch nicht in von Händen erbauten Tempeln› (Apg 7,47sq.). Warum also wollte er den Bau eines Tempels? Damit dieser ein Hinweis (figura) auf den (künftigen) Leib Christi sei. Jener Tempel (Salomos) war (lediglich) eine Abschattung (umbra): es kam das Licht, und es verscheuchte die Abschattung. Suche nunmehr nach dem Tempel, den Salomon errichtete, du findest eine Ruine. Warum ist jener Tempel eine Ruine? Weil es sich bereits erfüllte, worauf er zeichenhaft verwies».

Jetzt erst, nachdem die heilsgeschichtliche Funktion des alttestamentlichen Tempels geklärt ist, kommt der Prediger Augustin auf den neutestamentlichen zu sprechen. «Ja, selbst der Leib des Herrn sank ins Grab, aber er erstand – und zwar erstand er so, dass er nicht mehr dem Tod anheimfallen kann. Und als die Juden ihn fragten, ‹welches Zeichen kannst du uns geben, damit wir dir glauben?› (Ioh 2,18) antwortete er: ‹reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen baue ich ihn wieder auf› (ebd. 2,19). Freilich sprach er zu ihnen in dem von Salomon errichteten Tempel, als er sagte: ‹reißt diesen Tempel nieder›. Sie hörten aber nicht, was er mit dem Wort ‹diesen (Tempel)› meinte. ... sie glaubten, er spreche vom (salomonischen) Tempel. Schließlich antworteten sie ihm: ‹46 Jahre wurde dieser Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufbauen?› (ebd. 220). Deshalb fügte der Evangelist sogleich hinzu: ‹Er sagte dies vom Tempel seines Leibes› (ebd. 2,21). Also ist der Tempel (in einem strikten Sinn) Gottes Christi Leib».

Wir sehen unschwer, wie eng der predigende Augustinus sich an der neutestamentlichen Verkündigung orientiert. Der Tempel schlechthin ist Gottes Fleisch gewordenes Wort, der gekreuzigte und verherrlichte Christus. Dies ist sozusagen die Plattform, das Fundament, von dem aus das Tempelsein der Kirche in den Blick kommt. Ausdrücklich und nachdrücklich betont der Bischof, dass das Wort ‹Kirche - ecclesia› zwar auch die Basilika als Versammlungsort bedeuten könne, dass aber diese Bedeutung dem Wort nur sekundär zukomme (vgl. quaest. hept. 3,57). Primär ist die Kirche als Gemeinde der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden ‹Christi Leib› und als solche ‹Tempel Gottes›.

Wenn der ‹Tempel Gottes› im Sinne des Neuen Testamentes die Kirche als ‹Christi Leib› ist, so nimmt Augustinus den Faden seiner Darlegungen in der zitierten Predigt wieder auf, «was sind (dann) unsere Leiber?» Die Antwort lautet bündig: «Christi Glieder», und er beruft sich abermals auf die neutestamentliche Verkündigung: «Hört den Apostel selbst: ‹Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?› (1 Kor 6,15). Was wollte der zum Ausdruck bringen, der da sagte, ‹eure Leiber sind Christi Glieder›, wenn nicht dies, dass unsere Leiber und unser Haupt, (das doch) der (der eine) Christus ist, zusammen der eine Tempel Gottes ist?»

Weil der auch philosophisch gebildete Augustin wusste, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, appellierte er sogleich an seine Zuhörer, darüber zu reflektieren, dies immer wieder zu bedenken. «Zuversichtlich halten wir daran fest», so fährt er weiter, «dass Christi Leib und unsere Leiber Gottes Tempel sind, und dass wir dies (nach unserem irdischen Leben) sein werden: denn wenn wir daran (jetzt) nicht glauben, werden wir es auch (dann) nicht sein».

Ich sagte bereits eingangs, dass es nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes der Dreieinige Gott ist, der im ‹Tempel-Leib› wohnt. Dies wird darum vom Prediger ebenfalls gebührend zur Sprache gebracht: «Da also unsere Leiber Glieder Christi sind, vernehmt (auch) noch das Andere, das der Apostel gesagt hat: ‹Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt, und den ihr von Gott habt?› (1 Kor 6,19). Er (Gott) hat also einen Tempel (als Wohnung): ist er deshalb nicht Gott?» fragt der Prediger und fährt fort: «Wäre er es (nur dann), wenn er in einem Tempel aus Holz und Stein wohnte, wenn er einen von Händen errichteten Tempel hätte, und ist er (womöglich) deshalb nicht Gott, weil er zu seinem Tempel die Glieder Gottes hat? Fügt also den Heiligen Geist (zum Tempel) hinzu. Der Heilige Geist ist Gott. (Denn) der eine Gott ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist». Augustinus beschließt diesen Abschnitt seiner Predigt – keineswegs überraschend – mit der Mahnung: «Lasst euch (als Tempel) in Einheit aufbauen, damit ihr in der Trennung nicht untergeht».

Die Betonung der Einheit in der Trinität ist für die Theologie und auch die Spiritualität des Kirchenvaters charakteristisch. Er bevorzugte in seiner Sprache über die Trinität den Terminus Dreieinigkeit gegenüber jenem der Dreifaltigkeit deshalb, weil im ersteren die die Einheit betonende Liebe als Gottes Wesen (vgl. 1 Joh 4,8) klarer zur Sprache kommt. Ja, Liebe und Einheit bedingen sich gegenseitig, sie bedingen auch Gottes Identität. Wenn ‹die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in unsere Herzen gegossen ist›, wie der Apostel Paulus in seinem Römerbrief (5,5) schreibt, dann ist eigentlich sie es, die auch das Wesen einer als Tempel Gottes sich verstehenden christlichen Person bestimmt. Darüber lässt Augustinus keinen Zweifel aufkommen.

Wenn wir uns nunmehr der Umsetzung des Imperativs, ‹uns gegenseitig zu ehren› zuwenden, dann ist erneut ins Gedächtnis zu rufen, dass das Sein unser Bewusstsein bestimmt. Dem ist allerdings gleich hinzuzufügen, dass unser Bewusstsein unser Verhalten, auch das sittliche steuert. Lassen Sie mich dies anhand einer anderen Predigt Augustins illustrieren, die Augustinus anlässlich eines der Jahrestage seiner Bischofsweihe hielt. Um sein hohes Amt, das er in seiner Diözese innehatte, wissend, sagte er, er sei für seine Diözesanen zwar Bischof, was ihn erschrecke, er sei aber mit ihnen zusammen Christ, was ihn tröste und erfreue. Denn das Amt sei seine Bürde, was ihn jedoch mit seinen Diözesanen verbinde, nämlich das Christsein, das sei seine Würde. Bei aller Sorge um eine rechte Amtsführung war er sich der Gefahren seiner Stellung bewusst. «Schließlich», so sagt er wörtlich, «werden wir wie in einem großen Meer durch den Sturm unserer Tätigkeiten umhergeworfen. Aber indem wir uns erneut ins Gedächtnis rufen, durch wessen Blut wir erlöst worden sind, treten wir durch die Ruhe dieses Gedankens wie in einen Hafen der Sicherheit ein» (s. 340,1).

Erlöste sind wir also. Dieser Gedanke ist ungemein wichtig, wenn wir darüber nachdenken, wie wir dem Aufruf zur gegenseitigen Ehrerweisung nachkommen sollen. Erlöst sein bedeutet keineswegs schon fehlerlos und vollkommen zu sein. Keiner hat dies besser gewusst als Augustinus, der wieder im Anschluss an den Apostel Paulus auch über die ‹in ihm wohnende Sünde› Bescheid wusste und mit dem Apostel ‹das Gesetz der Sünde, das in seinen Gliedern herrsche›, beklagte (Röm 7,7-25). Dieses Wissen um das Angewiesensein auf die Gnade im Umgang mit dem Nächsten – so lange unser irdisches Leben währt –, macht demütig. Und in diesem Sinne ist die Demut der Lehre des hl. Augustinus zufolge nach der Caritas die zweitwichtigste christliche Tugend. Der Christ ist also dank der ihm zuteilgewordenen Erlösungsgnade ‹Tempel Gottes›, er bleibt aber auch zeit seines Lebens ‹der homo peccator – der Sünder›.

Und dennoch soll gelten: «Ehret in euch gegenseitig Gott!» Wie und wodurch sollen wir in uns gegenseitig Gott ehren? Darauf gibt es bei Augustinus grundsätzlich nur eine Antwort: Durch die christliche Caritas. Sie sehen, ich spreche absichtlich nicht von der Liebe, sondern von der Caritas und füge noch das Beiwort christlich hinzu. Eine Ehrerbietung dem Mitmenschen gegenüber kennt auch die philosophische Ethik. Keine funktionierende Gesellschaft kann darauf verzichten, denn das Zusammenleben verlangt ein Minimum an gegenseitigem Respekt vor der Menschenwürde eines jeden und einer jeden, was auch das Grundgesetz unseres Staates von uns einfordert.

Die von Christen verlangte Ehrerbietung hat mit Gott zu tun, und zwar mit dem Dreieinigen, was Augustinus zu betonen nicht müde wird. In seinem theologisch wohl bedeutendsten Werk, den 15 Büchern Über den Dreieinigen Gott hat er im Zusammenhang seiner Darlegungen wie Vater, Sohn und Hl. Geist sich so zueinander verhalten, dass sie bei aller Gemeinsamkeit der Natur ihre sie kennzeichnende Eigentümlichkeit behalten, zugleich viel zur Klärung des Personbegriffes beigetragen, weshalb man ihn auch für den ersten modernen Menschen hielt. Weil der Mensch nach der Bibel als Gottes Gleichnis und Ebenbild erschaffen wurde, versuchte Augustinus die Gottebenbildlichkeit des Menschen von allen drei göttlichen Personen abzuleiten. Diese spiegelt sich in der Geistseele mit ihrer dreifachen Struktur: sie ist, sie erkennt und sie will. Sein, Erkennen und Wollen sind wie in Gott so auch im Menschen untrennbar ineinander verflochten (vgl. ciu. 11,26; trin. 9,18).

Es ist im Kontext unseres Themas darauf aufmerksam zu machen, dass der Wille und die Caritas nach Augustinus in Gott identisch sind. Der Heilige Geist ist die Liebe das Vaters zum Sohn und die Liebe des Sohnes zum Vater. Gegenstand des Wollens oder des Liebens bei Gott ist das Gute, das Wahre und das Schöne. Mustergültig lebte Jesus als der Mensch gewordene Gottessohn die Identität des Willens mit der Caritas in seiner irdischen Existenz uns vor. Das Reich, das Christus am Ende der Zeiten herbeiführen wird, wird ein Reich der vollendeten Caritas sein. So lange freilich die gegenwärtige, von Gott entfremdete Welt währt, wird die christliche Caritas immer nur in Stücken zu verwirklichen sein, aber als ‹die Erfüllung des Gesetzes› (Röm. 13,10) ist sie der Kirche aufgegeben. Wann und wo immer der Kirche es gelingt, die Caritas zu verwirklichen, weiß sie, dass dies letztlich nicht ihr, sondern eine Werk der Gnade ist.

Diesen Prozess der von Gott ausgehenden und in der Kirche sich fortpflanzenden Caritas beschreibt Augustinus in seinem Kommentar zum Ersten Johannesbrief mit der ihm eigenen Eindringlichkeit. Er zitiert zunächst den zu kommentierenden Text: «‹Jeder der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren. Und jeder, der den liebt (nämlich den Vater), der ihn› (den ewigen Sohn, Gottes Wort) geboren, liebt auch den, der von ihm geboren wurde (unseren Herrn Jesus Christus)›. Dann fährt der Apostel fort: ‹Daran erkennen wir, dass wir die Söhne (und Töchter) Gottes lieben› (5,1f.), gerade als ob er sagen wollte: Daran erkennen wir, dass wir den Sohn Gottes lieben. Die Söhne (und Töchter) Gottes nennt er, während er doch kurz zuvor vom Sohn Gottes gesprochen hatte; denn die Söhne (und die Töchter) Gottes sind der Leib des eingeborenen Sohnes Gottes. Und da er das Haupt, wir die Glieder sind, ist einer der Sohn Gottes. Wer darum die Söhne (und Töchter) Gottes liebt, der liebt den Sohn Gottes; und wer den Sohn Gottes liebt, der liebt den Vater. Und keiner wieder kann den Vater lieben, wenn er nicht den Sohn liebt; und wer den Sohn liebt, der liebt auch die Söhne (und die Töchter) Gottes. Welche Söhne (und welche Töchter) Gottes? Eben die Glieder des Sohnes Gottes. Und indem er liebt, wird er auch selbst Glied, und durch die Liebe wird er dem Leibe Christi eingefügt: und so wird ein einziger Christus sein, der sich selbst liebt. Denn da die Glieder sich gegenseitig lieben, liebt der Leib sich selbst. Wie Paulus sagt: ‹Leidet ein Glied, leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit›. Und wie fährt er fort? ‹Ihr aber seid der Leib Christi und seine Glieder› (1 Kor 12,26f.)».

Der philosophisch gebildete Augustin war ein scharfer Dialektiker. Man spürt in diesen Sätzen einen Zwang der Logik – allerdings nur dann, wenn man an das Erlösungsgeschehen, von dem das Neue Testament kündet, glaubt. Im bisher zitierten Text bewegt sich die Caritas von oben nach unten: Der Vater liebt den Sohn und über den Sohn die Söhne und Töchter. Die Caritas verläuft jedoch unter dem gleichen Zwang der Logik auch von unten nach oben. So fährt Augustinus fort: «Wenn du aber deinen Bruder (und deine Schwester) liebst, liebst du da vielleicht deinen Bruder (und deine Schwester), und Christus liebst du nicht? Wie wäre das möglich, wenn du die Glieder Christi liebst? Wenn du also die Glieder Christi liebst, liebst du Christus. Wenn du Christus liebst, liebst du den Sohn Gottes. Wenn du den Sohn Gottes liebst, liebst du auch den Vater. Unteilbar ist die Liebe».

Ehe ich zum Schluss die gestellte Frage, wie wir als der augustinischen Ordensregel verpflichtete Christen in uns ‹gegenseitig Gott ehren› sollen, zu beantworten versuche, darf ich Sie noch einmal auf den eingangs erwähnten theologischen Rahmen aufmerksam machen, innerhalb dessen unser Ordensvater Augustinus argumentiert. Es gibt für Ordensleute, für Christen in einem Orden, prinzipiell keine andere Theologie und darum auch keine andere Spiritualität als die der Kirche. Allerdings sollen und wollen Ordenschristen diese Theologie und Spiritualität der Kirche zeichenhaft, d.h. in einer intensivierten Weise für die Kirche in der Welt leben. Ausgangs- und Kernpunkt unserer Überlegungen war deshalb die uns durch Christi Heilswerk geschenkte Gotteskindschaft. Sie ist ein Stand, der uns durch die Gnade Christi vermittelt wurde. Augustinus spricht über die christliche Existenz mit Vorliebe vom Gnadenstand, in dem wir Christen trotz des Fortbestandes der Sünde, die uns belastet, leben. Der Begriff Gnadenstand beleuchtet vielleicht aufs Beste, was unter dem Begriff ‹Tempel Gottes› für das Einwohnen Gottes in uns zu verstehen ist. Gott wohnt nicht in seiner Substanz in uns, aber seine Gnade, seine in unsere Herzen ausgegossene Liebe. Sie, die christliche Caritas ist darum die Bedingung und zugleich die Voraussetzung bei der Erfüllung des anspruchsvollen Imperativs: «Ehret in euch gegenseitig Gott!»

Was aber heißt Ehren in unserem Imperativ, wenn nicht gegenseitig auf die Caritas bedacht zu sein? Diese ist jedoch, weil von Gott abzuleiten, primär keineswegs eine Sache des Gefühls, den Launen unterworfenen Emotionen, sondern Wille – Wille zum Guten, Wille zum Wahren und Wille zum Schönen. Inbegriff des Guten, Wahren und Schönen ist nach der Theologie Augustins wieder Gott selbst, in der Trinität die zweite Person, Gottes eingeborener Sohn, Christus. Alles Gute, alles Wahre, alles Schöne in dieser raum-zeitlichen Welt ist lediglich eine ‹Abschattung›, ein ‹Abglanz› davon. Das ‹wichtigste und erste Gebot› (Mt 22,38) hat deshalb die Ehre Gott gegenüber zum Ziel.

Es entging aber Augustinus nicht, dass das zweite, das Gebot der Nächstenliebe an die Selbstliebe gebunden ist: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Mk 12,31; Mt 22,39; Lk 10,27). Was heißt das, wenn nicht, den Nächsten dort haben wollen, wohin man als Christ kommen will: zu Gott? Was heißt das, wenn nicht, ihn daran teilhaben zu lassen, ihn darin zu fördern, was man für sich selbst erstrebt: das Gute, das Wahre und das Schöne? Ich denke, dies ist die ‹gegenseitige Ehre›, die, eingedenk der menschlichen Schwäche und darum mit Hilfe der Gnade grundsätzlich von allen Christen und intensiviert von uns Ordensleuten gefordert wird.

Von Augustinus wird gerne und häufig der Satz zitiert, der sein theologisches Denken und seine Spiritualität bündig zusammenfasst: «dilige, et quod uis fac!» (ep. Io. tr. 7,8). Die gängige Übersetzung: «Liebe, und dann tu, was du willst!» trifft den Sinn des Satzes nicht, denn sie könnte einer sittlichen Libertinage Tür und Tor öffnen. Die korrekte Übersetzung lautet vielmehr: «Liebe, und was du willst (d.h. was du von der christlichen Caritas her motiviert willst), das tu!». Eine solche Weisung liegt auch unserem Satz zugrunde: «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid!»