Augustinus und der Afghanistan-Einsatz

Die christliche Lehre von Frieden und Krieg wurde entscheidend durch den Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430) geprägt. Lassen sich die von ihm entwickelten Kriterien des „bellum iustum“ auf den aktuellen Militäreinsatz in Afghanistan anwenden? Dieser Frage widmete sich der emeritierte Völkerrechtler Professor Dr. Heinhard Steiger in einem am 25. Januar 2010 gehaltenen Vortrag beim Rotary Club Gießen, den wir nachstehend mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlichen.

Augustinus beim Verfassen von De ciuitate dei N. Polano, 1459
Bild im Originalformat anzeigen
Im 19. Buch seines Werkes "Über den Gottesstaat" entwickelt Augustinus seine Friedenslehre. Abb.: N. Polano, 1459.
Es ist der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischöfin Käßmann, sehr zu danken, die öffentliche Grundsatzdiskussion über den Krieg in Afghanistan unter christlicher Perspektive angestoßen zu haben. Kann, so lautet die grundlegende Frage, der militärische Einsatz in Afghanistan mit den ungemessenen menschlichen Opfern auf allen Seiten, weiteren Zerstörungen der gesellschaftlichen Ordnung und des Landes selbst gerechtfertigt werden? Zwar ist das Christentum, ist christlicher Glaube nicht die herrschende, nicht einmal mehr die dominierende geistige Strömung in Deutschland, hat aber doch noch immer eine wichtige, anerkannte richtungweisende Kraft innerhalb unserer Gesellschaft, ist ein gesuchter Partner im Gespräch um ihren richtigen Weg. Ich kann natürlich nur Überlegungen, Anstöße beisteuern, keine Antworten geben.
I. Zur Lage

a. Jede, auch die christlich getragene friedensethische Argumentation, muß von der tatsächlichen Lage in Afghanistan ausgehen. Diese ist höchst komplex. Sie wird daher höchst unterschiedlich dargestellt und interpretiert. Aus diesen Unterschieden ergeben sich dann aber auch unterschiedliche, ja gegensätzliche Schlußfolgerungen in ethischer Hinsicht. Ich kann nur versuchen, die einzelnen auf vielfache Weise sich kreuzenden und miteinander verknüpften Linien nachzuzeichnen. Dabei spielt bei mir als Völkerrechtler die rechtliche Einordnung und Beurteilung natürlich eine zentrale Rolle.

Man spricht häufig vom „Krieg in Afghanistan“. Es handelt sich konkret um drei kriegerische Scenarien.

b. 2001 kam es zu einer militärischen Intervention der USA mit einigen Verbündeten im Rahmen der „Operation Enduring Freedom“. Ausgelöst wurde diese Intervention durch das Attentat gegen die beiden Türme des New Yorker World Trade Center durch die Terrororganisation Al Quida am 11. September 2001. Dieses wurde als bewaffneter Angriff angesehen, der nach geltendem Völkerrecht das Selbstverteidigungsrecht der USA gegen die Organisation auslöste. Al Quida operierte damals unter dem „Schirm“ der Taliban von afghanischem Boden aus. Schon vorher hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mehrfach in Resolutionen an die Taliban appelliert, diesen Schutz aufzugeben und menschenrechtsförmige Verhältnisse herzustellen. Nach „eleven-nine“ stützte er das Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten.

Die USA führten also völkerrechtlich einen eigenen Verteidigungskrieg gegen die tatsächliche Regierungsmacht Afghanistans und die von dort aus gegen sie operierende Al Quida. Deutsche Truppen beteiligen sich an der OEF, aber nicht in Afghanistan. OEF-Truppen stehen dort noch heute und führen einen eigenen operativen und offensiven militärischen Einsatz, der kriegerischen Charakter, hat gegen die dortigen Taliban und Al Quida, zunächst um den Restwiderstand zu beseitigen, inzwischen gegen die wieder erstarkten Gruppierungen, vor allem im Süden des Landes. Ab 2006 (??) wurde der Aktionsraum amerikanischer Truppen von dem Süden zunächst auf Kabul und dann auch auf den Norden ausgedehnt. Das Wiedererstarken der Taliban in diesen Landesteilen machte das erforderlich. Aber ich konnte nicht feststellen, ob das Truppen im Rahmen der OEF sind oder der ISAF.

c. Denn nach dem Sturz der Taliban wurde von den Afghanen mit Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten in mehreren Stufen eine neue verfassungsmäßige Ordnung hergestellt. Grundlage dafür war das Petersberg-Abkommen vom 5. Dezember 2001. Aus Wahlen gingen ein Parlament und ein Präsident als Regierungschef hervor. 2009 wurden zum zweiten Mal Präsideneten-Wahlen abgehalten. Zwar gab es dabei Schwierigkeiten. Aber Afghanistan hat eine verfassungsgemäße, einigermaßen demokratische legitimierte Regierung.

In dem Petersberg-Abkommen zwischen einer provisorischen afghanischen Regierung unter Hamid Karzai und den relevanten Staaten, das der Sicherheitsrat bestätigte, wurde die erwähnte International Security Assistance Force (ISAF) errichtet. Sie steht neben den Truppen der OEF. Eine immer wieder vor allem von den USA vorgeschlagene Verschmelzung beider Operationen wurde von den anderen ISAF-Mächten, vor allem auch von der Bundesrepublik abgelehnt. Denn die ISAF hat ganz andere Aufgaben als die Truppen der OEF. Auch sie werden für ihre Aufgabe alljährlich neu mandatiert, zuletzt im Oktober 2009. Anfang 2006 wurden im Afghanistan-Compact die Ziele und Zwecke der Zusammenarbeit eingehend ausformuliert. Drei Bereiche wurden festgelegt: 1. Sicherheit, 2. Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, sowie 3. wirtschaftliche und soziale Entwicklung.Weitere Absprachen und Erklärungen folgten. Sie bilden die maßgebliche formelle und inhaltliche Grundlage der alljährlich zu erneuernden Beschlüsse des Bundestages über die Beteiligung der Bundesrepublik an der ISAF. Der letzte datiert vom Dezember 2009. Diese hat die Verantwortung für die Nordprovinz übernommen. Sie stellt dort seit Juli 2008 auch schnelle Eingreifkräfte, Quick Reaction Teams, die nun doch offensiven Charakter haben. Nach Meldungen vom 24. Januar 2010 sollen sie aber wieder abgeschafft werden.

d. Diese unterstützende Aufgabenstellung umfaßte zunächst, soweit zu sehen, vor allem die folgenden Einzelaufgaben: Hilfe bei dem inneren Wiederaufbau des Landes; Hilfe für die Regierung bei der Ausbildung von Sicherungstruppen (Polizei und Militär); Hilfe bei der Bekämpfung der Drogenwirtschaft. Es geht nunmehr also grundsätzlich um Hilfe für die und Unterstützung der afghanischen Regierung bei deren Wahrnehmung ihrer staatlichen Aufgaben für das Land und die Bevölkerung. Dabei besteht ohne Zweifel auch ein eigenes politisches Interesse an der Stabilisierung des Landes. Denn man fürchtet die Wiederkehr des Terrorismus. Aber der Satz von Peter Struck, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt, ist inhaltlich wohl eher politisch zu verstehen. Es bestand 2001 die Hoffnung und Erwartung, daß der Prozeß der inneren Friedensbildung und der Stabilisierung, vor allem des Aufbaus, mit der internationalen Hilfe gut vorangehen würde und nicht allzu lange dauern würde. Der Beginn war hoffnungsvoll gewesen.

Der Wiederaufbau umfaßt einerseits konkrete Maßnahmen für die Bevölkerung. Sie wird durch die – militärischen – Provincial Reconstruction Teams (PER) wahrgenommen, Brunnen bohren, Schulen bauen, Infrastruktur aufbauen und ausbauen etc. Gerade diese sollten die deutschen Truppen neben der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, Polizei und Militär, leisten. Dazu gehört aber auch die Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, Demokratie, Menschenrechte, vor allem um die Frauen gleichberechtigt in der Gesellschaft zu verankern. Der Compact betont ausdrücklich die islamischen Grundlagen Afghanistans. Es ist ein islamischer Staat und eine islamische Gesellschaft.

Getragen wird der Wiederaufbau außerdem von einer Vielzahl internationaler Hilfsorganisationen.

e. Die Sicherheit soll laut Compact dadurch gesichert werden, daß die afghanischen Sicherheitskräfte in den Stand gesetzt werden, angepeilt war 2006 Ende 2010, die Sicherheit zu garantieren. Von eigenen Sicherheitsmaßnahmen ist darin eigentlich keine Rede. Aber diese sind wohl von Anfang an mit dabei gewesen, aber nur kontrollierend, u.a durch militärische Patroullien, abwehrend bei konkreten Angriffen, evtl. helfend und unterstüzend. Hier liegt wohl die eigentliche militärische Entwicklung des Einsatzes, da diese Anforderungen durch die sich mehrenden Angriffe der Aufständischen ständig wuchsen.

f. Denn die Hoffnungen auf eine positive Entwicklung zu einem inneren Frieden erfüllten sich trotz nicht unerheblicher Fortschritte nicht. Im Gegenteil, die Entwicklungen der vergangenen Jahre veränderten schleichend und unausgesprochen die Aufgaben, da es nicht nur nicht gelang, die „letzten Reste der Taliban“ zu beseitigen, sondern diese sogar zunächst befriedete Gebiete, wie Kabul oder den Norden, wieder gefährden und in Teilen unter ihre Kontrolle bringen konnten, die Rede ist von 50% des Landes, und die Staatsmacht massiv angreifen. Es wird inzwischen ein echter Kampf um die Staatsmacht und die innere Ordnung Afghanistans zwischen der Regierung und den Aufständischen geführt. Diese führen ihn aber nicht nur gegen die Regierung und deren Sicherheitskräfte, sondern mit brutalen und hinterhältigen Terroranschlägen auch gegen die Zivilbevölkerung. Der überkommene Begriff für diesen Zustand ist Bürgerkrieg, also Krieg, aber nicht nach Völkerrecht zwischen Staaten, sondern Krieg innerhalb eines Staates. Ob der Begriff hier in vollem Sinne zutrifft, ist unerheblich. In der Sache kämpfen zwei Parteien um die Staatsmacht. Es geht dabei aber wesentlich auch um die rechte oder richtige islamische Ordnung Afghanistans. Insofern ist das als eine innere islamische Auseinandersetzung zu verstehen. Aber da am Ursprung, ganz nachdrücklich am 11. September 2001, die westliche Welt involviert wurde und sich nunmehr in Afghanistan weiterhin engagiert, ist es auch ein Konflikt der einen islamischen Richtung, wie sie selbst ja hervorhebt, mit dem Westen. Auch deshalb werden die ausländischen militärischen wie nicht-militärischen Einrichtungen und Menschen seitens der Aufständischen auf sehr unterschiedliche Weise angriffen.

g. Zum dritten führen „War Lords“ mit ihren Milizen ihre eigenen „Kriege“, zum Teil zumindest im Zusammenhang mit der Drogen-Wirtschaft.

h. Kompliziert wird die Lage dadurch, daß der innerafghanische Konflikt doch eine grenzüberschreitende und damit internationale Dimension hat. Einer der Hauptstütz- und auch Rückzugspunkte der Taliban und wohl auch noch immer der Al Quida Kämpfer liegt in Pakistan. Von dort sickern immer neue Nachwuchskämpfer in Afghanistan ein und verstärken die Taliban vor Ort. Zwar bekämpft die pakistanische Regierung diese mit ihrer Armee und Unterstützung der USA. Aber noch ist die Grenze nicht dicht. Auch von Afghanistan aus wird versucht, den Zufluß zu unterbinden. Deutsche Truppen sind daran aber wohl nicht unmittelbar beteiligt. Wohl aber werden sie durch die sich verstärkende Präsenz der Taliban zunehmend in Gefechte verwickelt.

i. Aus den Verschärfungen der Sicherheitslage und der Friedensstörungen ergeben sich nicht nur neue zusätzliche Aufgaben OEF-Truppen, sondern auch für die ISAF-Truppen. Der Einsatz der ISAF hat zwar nach wie vor grundsätzlich unterstützende Funktion für den inneren Aufbau. Aber die militärische Komponente tritt immer stärker in den Vordergrund, gerade auch für die deutschen Truppen, Beistand für die Regierung und ihre Sicherheitskräfte in dem aufflammenden „Bürgerkrieg“; Sicherung der Zivilbevölkerung; Sicherung der eigenen Truppen; Sicherung des zivilen Aufbaus auch der ausländischen zivilen Aufbauhelfer gegen die zunehmenden Angriffe u.a. Diese Erweiterung zu stärkerer militärischer Aufgabenstellung läßt sich bei genauerem Lesen aus den letzten Resolutionen des Sicherheitsrates zur weiteren Mandatierung der ISAF entnehmen. Soweit militärische Maßnahmen durchgeführt werden, sollen sie zwar grundsätzlich reagieren, nicht agieren. Jedoch hat die Entwicklung zum Quasi-Bürgerkrieg, haben die stetig zunehmenden direkten Angriffe auf die ISAF-Truppen, auch die deutschen, zur Folge, daß deren militärische Maßnahmen zunehmen. Für die ISAF-Truppen im Süden gilt das schon länger. Das Vorgehen zur Zerstörung der gekaperten Tanklastwagen bei Kundus hat gezeigt, daß aber auch für die deutschen Truppen zwischen Verteidigung als Abwehr eines konkreten Angriffs und vorbeugender Verteidigung, die auch einen präventiven Angriff mit gezielter Tötung einschließt, kaum noch zu unterscheiden ist. Zudem finden sich in den Zeitungen mehr und mehr Nachrichten, daß von den Sicherheitskräften nicht nur im Süden des Landes, sondern zunehmend auch im Norden aktive militärische Maßnahmen durchgeführt werden, um Aufständische aufzuspüren und festzunehmen, wobei diese u. U. auch getötet werden. Zwar heißt es, daß dieses Vorgehen jeweils unter Führung afghanischer Sicherheitstruppen steht. Aber sie werden nach diesen Meldungen in der Regel von ISAF-Einheiten, auch deutschen, unterstützt. Auch die Ausbildung soll nach dem Interview zu Guttenbergs nunmehr in der Fläche erfolgen, was die deutschen Truppen stärker in Konfrontation bringen kann. Das führt umgekehrt zu Gegenmaßnahmen der Aufständischen gegen die ISAF-Truppen. Niemand bestreitet daher mehr, daß die ISAF-Truppen und auch deren deutsche Teile in einem bewaffneten Konflikt, in kriegerischen Zuständen mit den afghanischen Aufständischen stehen. In der innerdeutschen Debatte gilt aber wohl der Vers des Matthias Claudius „’s ist leider Krieg – und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein“.
II. Christliche Fragestellung

a. Die Frage, ob Krieg und militärische Maßnahmen erlaubt seien, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Zielen und gebunden an welche Bedingungen, ist uns, Christen wie Nichtchristen, heute selbstverständlich. Aber es waren die Christen, die in der Antike zum ersten Mal in der Geschichte aus ihrem Glauben heraus die völlig neue und damals unerhörte Überlegung anstellten, ob der Einsatz militärischer Gewalt aus welchen Gründen auch immer überhaupt zulässig oder nicht grundsätzlich verboten, weil unvereinbar mit diesem Glauben sei. Zwar hatte Cicero darauf abgestellt, daß ein Krieg iustum et pium, gerecht und fromm sein müsse. Aber ihm ging es lediglich darum, daß die religiösen Formen des etruskisch/römischen religiösen Kriegsrechts, des ius fetiale, eingehalten würden. Das Recht zum Kriege stellt er nie in Frage.

b. Ist nicht, so lautet für Christen die Frage bis heute immer wieder neu, das Führen eines Krieges oder die Anwendung militärischer Gewalt in Wahrheit eine grundlegende Sünde, für die Soldaten, aber auch für alle anderen, die sie losschicken? Machen wir uns nicht an unseren Mitmenschen zutiefst schuldig? Denn militärische Gewalt schließt immer und unvermeidbar schon in der Vorbereitung die Bereitschaft zum Töten von Menschen ein, und in ihrer Anwendung eben das Töten selbst. Ist daher Krieg, Einsatz von Militär mit der christlichen Botschaft der Feindesliebe und dem Beispiel Jesu am Ölberg und auf Golgotha nicht schlechthin unvereinbar?

c. In der Tradition hat sich diese Position eines radikalen christlichen Pazifismus nicht durchgesetzt. Wenn ich die öffentliche Diskussion richtig verfolge, wird sie auch gegenwärtig von Christen und ihren Repräsentanten nicht allgemein oder auch nur überwiegend vertreten, auch nicht von Bischöfin Käßmann. Vielmehr hat sich eine am und auf Frieden ausgerichtete und durch ihn bedingte Kriegslehre durchgesetzt, die auch gegenwärtig weithin maßgeblich ist. Aber die Not und Verzweiflung vieler Christen angesichts der gegenwärtigen Kriege und ihrer schrecklichen Massenvernichtungsmittel, Umstände und Folgen ist groß und quälend. Sie, aber nicht nur sie, möchten daher, daß militärische Mittel möglichst überflüssig gemacht und durch friedliche Mittel ersetzt werden. In Deutschland ist diese Diskussion seit dem Beginn der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren bis heute nicht abgerissen. Damals traten u.a. der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider, der evangelische CDU-Innenminister Gustav Heinemann und der seinerzeit der CDU angehörende Münsteraner katholische Bundestagsabgeordnete Peter Nellen öffentlich dagegen auf. „Frieden schaffen ohne Waffen“ lautete später der Slogan der maßgeblich auch von Christen getragenen Friedensbewegung der achtziger Jahre im Westen wie im Osten.
III. Augustinus

a. Die christliche Lehre von Frieden und Krieg hat im Laufe der Jahrhunderte viele Wandlungen durchgemacht, keineswegs immer zum Guten. Sie wurde auch vielfach mißbraucht und als Vehikel für Krieg statt für Frieden eingesetzt. Trotzdem bieten die von ihr entwickelten Kriterien einen argumentativen Leitfaden, eine Orientierungsstruktur. Das wird besonders deutlich, wenn wir auf ihren Ursprung bei dem lateinischen Kirchenvater und Bischof Aurelius Augustinus (geb. 13. November 354 in Tagaste; gest. 28. August 430 in Hippo) zurückgehen, der ihre wesentlichen konkreten Elemente entwickelt hat. Er hat vor allem ganz deutlich macht, daß der Frieden, dessen Sicherung und Wiederherstellung Mittelpunkt und Ziel der Überlegungen über den Krieg sein muß. Für ihn war diese Frage deswegen mehr als nur theoretisch, weil die politische Macht des Römischen Reiches nun christlich, das Christentum Staatsreligion geworden war. Das Römische Reich und sein Frieden, die pax romana war aber zunehmend durch Angriffe von außen gefährdet. Durfte der christliche Kaiser Krieg führen? Augustinus ging es eben um den Frieden.

b. Der Friede ist, so Augustinus, das höchste Gut des Menschen. Zwar bezieht er dieses höchste Gut dem Grunde nach auf den ewigen Frieden in der Vereinigung mit Gott im ewigen Leben. Aber davon ableitend heißt es weiter: „In der Tat, das Gut des Friedens ist so groß, daß es auch im Bereich des Irdischen und Vergänglichen nichts gibt, wovon man lieber vernähme, nichts wonach man sehnsüchtiger verlangte, und auch wirklich nichts Besseres sich finden läßt.“ Das heißt für den Krieg: „Selbst das Wüten des Krieges und überhaupt alle Unruhe, die sich die Menschen machen, zielt auf den Frieden, ja es gibt kein Wesen, das nicht nach ihm strebte.“ Dieser Frieden besteht letztlich in der richtigen Ordnung, „der Friede unter den Menschen in der geordneten Eintracht ... der Friede für alle Dinge in der Ruhe der Ordnung. Unter Ordnung aber versteht man eine Verteilung von gleichen und ungleichen Dingen, die jedem seinen Platz zuweist.“ Friede also ist eine auf Ausgleich, auf Ruhe, und das heißt wohl auch Beruhigung der Verschiedenheiten, Augustin sagt: des Gleichen und des Ungleichen in ihrem Verhältnis zueinander, gebaute Ordnung. Damit hat Friede auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun, die nach abendländischem Verständnis seit Aristoteles darauf gerichtet ist, jedem das Seine, nicht das Gleiche, sondern das ihm in seiner Eigenart und damit Verschiedenheit Zukommende zuzuordnen. Die gute Ordnung der Ruhe und des Friedens setzt diese Gerechtigkeit voraus.

c. Mag der Frieden auf Erden, in der civitas terrena auch unvollkommen, mit allen Mängeln und Störungen behaftet, die den irdischen Dingen wegen ihrer unaufhebbaren Unvollkommenheit und Gestörtheit eignen, so ist er ein hohes Gut, das es zu bewahren gilt. Da ein bestehender Frieden in sich bereits ein hohes Gut ist, mag er auch Defizite vor allem in der Gerechtigkeit aufweisen, ist ein Krieg unzulässig, durch den lediglich ein bestehender Frieden durch einen besseren Frieden ersetzt werden soll. Zwar ist, wer einen bestehenden Frieden durch Krieg bricht, „nicht ein Gegner des Friedens, sondern möchte nur einen anderen, seinem Wunsch entsprechenden Frieden“. Aber jeder Krieg ist schrecklich und in jedem Fall und stets ein Grundübel, malum, und eine Folge der Sünde. Auch ein ungerechter Frieden ist daher dem Krieg vorzuziehen.

d. Daher kann nur der Friedensbruch gegebenenfalls einen „gerechten Krieg“ oder „gerechtfertigten Krieg“ (bellum iustum) begründen. Zwar nimmt diese Rechtfertigung dem Kriege nichts von seinen Schrecken, wie der Kirchenvater ausdrücklich hervorhebt. Auch wer einen gerechten oder gerechtfertigten Kriege führen dürfte, sollte die daraus entstehenden „großen, ungeheuerlichen grausamen Übel mit dem Gefühl des Bedauerns“ erwägen und wohl gegebenenfalls darauf verzichten.

e. Aber unter gewissen Voraussetzungen ist nur durch einen Krieg die Ungerechtigkeit des Friedensbruchs abzuwehren. Es kann nach seiner Auffassung Umstände geben, in denen eine Ungerechtigkeit, eine grobe Verletzung des Rechts nicht auf eine andere Weise zurückgewiesen und die Gerechtigkeit und damit der Friede wiederhergestellt werden kann. Aber hinzu tritt auch die für uns nicht mehr nachvollziehbare Überlegung, daß eine gewaltsame Korrektur für den anderen, d. h. den ungerechten Friedensbrecher selbst notwendig sein kann, um ihn auf den richtigen Weg zurückzubringen.

Aber zunächst ist die patientia, die Geduld mit dem Rechtsbrecher eine notwendige Tugend, um Übel abzuwehren. Hinzutritt die benevolentia, das Wohlwollen, oder moderner ausgedrückt die Achtung vor dem anderen. Daher ist Krieg in jedem Fall an die necessitas, die Notwendigkeit gebunden. Es darf kein friedlicher Weg bereit stehen, um das Unrecht abzuwehren und Frieden wiederzugewinnen. Formal muß über einen Krieg von dem zuständigen Träger der öffentlichen Gewalt entschieden und er unter seiner Autorität geführt werden.

f. Da Ziel des Krieges stets die Wiederherstellung des gebrochenen Friedens sein muß, muß er auch friedensgerichtet geführt werden, so daß die Besiegten von der Nützlichkeit des Friedens überzeugt werden. Auch in der Kriegführung gelten patientia und benevolentia, Geduld und Achtung gegenüber dem Feind. Er ist so zu führen, ut ad pietatis iustitiaeque pacatam societatem uictis facilius consulatur. Daher sind Grausamkeiten der Rache, ulciscendi crudelitas, Lust oder Begierde an sinnloser Schädigung, nocendi cupiditas, und selbst bloße Herrschsucht, libido dominandi, nicht mit einem gerechten Krieg vereinbar. Zwar unterscheidet Augustinus noch nicht Kombattanten und Nicht-Kombattanten, Soldaten und Zivilisten. Aber diese Trennung, die heute im Hinblick auf die Kriegshandlungen von grundlegender Bedeutung ist, hat ihren Grund auch in diesem Ausschluß von sinnloser Schädigung, Grausamkeit, Rache. Denn die Tötung Unschuldiger ist sinnlos und grausam.

g. Das alles scheinen uns Selbstverständlichkeiten, hundertmal und immer wieder wiederholte Formeln zu sein, die doch nichts bewirkt, Kriege nicht eingedämmt haben, geschweige denn beseitigen und die Grausamkeit der Kriegführung bis hin zur Atombombe nicht verhindern konnten. Zudem haben sie nichts spezifisch Christliches an sich, sondern sie entsprechen ebenso den Grundsätzen einer aus der säkularen praktischen Vernunft entwickelten Friedens- und Kriegsethik, z.B. Immanuel Kants. Sie werden heute von Christen wie von aufgeklärten Nichtchristen gleichermaßen vertreten. Dieser Befund bedeutet jedoch nur, daß christliche Friedens- und Kriegs-Ethik und praktische Vernunft in diesen Fragen inhaltlich keinem radikalen Bruch unterliegen, sondern beide gegenseitig anknüpfungsfähig sind. Das zeigen auch die vielfachen Bündnisse zwischen Christen und Nichtchristen in Friedensbewegungen und -aktivitäten. Christliche Ethik ist am Glauben orientierte praktische Vernunft. Die säkulare praktische Vernunft steht wohl inhaltlich mehr als sie selbst oft meint in der vom Christentum angestoßenen ethischen Wende und Tradition. Wieweit diese Anküpfungsfähigkeit in der Sache wie im gemeinsamen Handeln i. e. reicht, und wo vielleicht doch Unterschiede auftreten, muß jeweils im konkreten Fall ausgetestet werden.
IV. Der Afghanistan-Einsatz

Aber die Bewährung der einen wie der anderen Ethik liegt im konkreten Fall. Versuchen wir, die von Augustinus vorgelegten Kriterien auf den konkreten Fall anzuwenden.
a. Dient der Einsatz dem Frieden?

Der bewaffnete Kampf der Regierung Afghanistans gegen die Taliban soll die bewaffneten Auseinandersetzungen und damit die Gewalt beenden, die Sicherheit im Lande und der Menschen gegen die Angriffe der Aufständischen, vor allem gegen ihre verheerenden Terrorakte herstellen und gewährleisten. So soll Gewaltfreiheit als erste Stufe des Friedens hergestellt werden. Darauf können dann die weiteren inhaltlichen Stufen des Wiederaufbaus des Landes und seine Entwicklung zum Wohle der Menschen aufbauen. Inhaltlich wird der Frieden durch bestimmte Vorstellungen über die gesellschaftliche Ordnung konkretisiert, die unter anderem in dem genannten Afghanistan-Compact mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Pluralismus, Wohlstand auf der Grundlage islamischer Grundsätze beschrieben werden.

Die Unterstützung der ausländischen Hilfstruppen hat auch dieses Ziel. Das gilt gerade für die deutschen Truppen, die die Herstellung dieses Friedens durch zivilen Aufbau von Brunnen, Schulen, Infrastruktur etc. zum eigentlichen Ziel ihrer Teilnahme an dem Afghanistaneinsatz gemacht haben. Aber dagegen wird vorgebracht, der Einsatz der westlichen Truppen diene gar nicht dem inneren Frieden Afghanistans, sondern der Sicherung einer eigenen Machtbasis in der zentralen Weltregion. Die „Unterstützung“ der afghanischen Regierung sei lediglich die „Hülle“ für diesen Machtkrieg. Aber Skepsis ist berechtigt. Friedensethisch wäre eine solche Position für die Kampfeinsätze höchst kritisch zu beurteilen. Denn dann ginge es in Wahrheit gar nicht um Frieden.
b. Besteht eine necessitas, Notwendigkeit?

Als geeignetere Alternative zu militärischen Maßnahmen, zumindest gegen eine Truppenverstärkung, wird die stärkere Förderung des, wenn nicht gar die ausschließliche Konzentration auf den zivilen Aufbau zur Herstellung des Friedens eingebracht. Ziviler Aufbau ist in der Tat nicht nur das Ziel nach der Besiegung der Aufständischen, sondern der zentrale Inhalt gegenwärtigen Handelns sowohl der afghanischen Regierung als auch ihrer Unterstützer bereits seit 2001. Nur durch ihn lassen sich die genannten inhaltlichen Elemente des Friedens herstellen. Das kann man mit Waffen in der Tat nicht erreichen. Zu denken gibt aber, daß die anfangs durchaus erfolgreiche Wirksamkeit der deutschen Truppen im zivilen Aufbau in der Region Kundus nicht verhindert zu haben scheint, daß sich die Aufständischen auch dort wieder Stützpunkte verschaffen konnten und sich dadurch die Sicherheitslage für alle katastrophal verschlechtert hat. Eine zunächst befriedete Region ist heute wieder Kriegsschauplatz.

Der zivile Aufbau in der Region bedürfe daher nach allgemeiner politischer Meinung zunehmend des massiven militärischen Schutzes, für den nach Presseberichten inzwischen auch amerikanische Truppen dorthin verlegt wurden. Damit rechtfertigt auch die deutsche Regierung den militärischen Einsatz. Die Abwehr der konkreten Störer oder Angreifer im jeweiligen Angriffsfall scheint danach nicht mehr zu genügen. Passive Patroullienfahrten geraten in Hinterhalte; bloßes Präsenzzeigen genügt also anscheinend nicht mehr. Vielmehr müssen offenbar weitergehend allgemein und grundlegend friedliche Strukturen hergestellt oder wiederhergestellt und dann dauerhaft gesichert werden. Dazu braucht es nun einmal Sicherheitskräfte, d.h. auch Truppen. Frieden hat viele Stufen. Grundvoraussetzung aller anderen ist auf der ersten notwendigen Stufe Abwesenheit von Krieg und militärischer oder dauerhafter terroristischer Gewalt.

Auch hier gibt es jedoch einen praktischen, an der Wirklichkeit gewonnenen Einwand. Rupert Neudeck, Gründer von Cap Anamur und später der „Grünhelme“, betreibt mit diesen mehrere Schulprojekte im Süden Afghanistans, also in einer besonders unsicheren Gegend. Neulich las ich, daß ein Gießener Unternehmer, der Skatebord-Anlagen herstellt, mit Neudeck zusammen in Afghanistan eine solche Anlage aufgebaut hat. Er sagt ganz eindeutig, daß die ISAF Truppen nicht schützen können, daß im Gegenteil durch ihr Auftauchen derartige Projekte gefährdet wurden und würden. Wenn das so ist, und ich kenne Neudeck und seine oft sehr unbequeme, aber äußerst kenntnisreichen Aussagen seit Jahren recht gut, dann ist das friedensethisch zu bedenken, weil insoweit die Gefahr droht, daß gut gemeint nicht gut für den Frieden in Afghanistan ist. Vielleicht genügen afghanische Polizeikräfte, die dafür gut genug ausgebildet sind und bezahlt werden, um den Schutz sicherzustellen, soweit er wirklich notwendig ist.

Aber ob ziviler Aufbau allein hinreicht, um Frieden zu schaffen, erscheint jedoch zweifelhaft, wenn wir davon ausgehen, daß es sich in Afghanistan um einen Machtkampf und einen Kampf um das bessere islamische Konzept handelt. Es gilt also, sinnvolle Parallelaktionen oder Doppelstrategien von zivilem Aufbau und dessen polizeilicher und nur im Notfall militärischer Absicherung voranzutreiben.
c. Werden patientia, Geduld, und benevolentia, Achtung, geübt?

Ist mit anderen Worten Frieden ohne Krieg oder kriegerische Maßnahmen zum Frieden zu erreichen? Das heißt konkret, fanden oder finden Verhandlungen zwischen den Parteien statt, sind solche überhaupt gewollt und ins Auge gefaßt? Gerade sie werden von Kritikern des kriegerischen Vorgehens immer wieder als friedliche Mittel der Konfliktbewältigung eingefordert. Ob und inwieweit gegenwärtig versucht wird, durch Verhandlungen mit den Aufständischen den Bürgerkrieg zu beenden und Frieden herzustellen, läßt sich von außen nicht feststellen. Denn von Friedensgesprächen oder auch nur Verhandlungen wird in der Öffentlichkeit nicht berichtet. Das schließt aber nicht aus, daß sie auf irgendwelchen verborgenen Wegen versucht werden oder sogar laufen. Es werden jedoch offenbar Überlegungen in diese Richtung angestellt, da auch von offizieller Seite Kontaktaufnahmen mit „gemäßigten Taliban“ ins Spiel gebracht werden. D.h. es scheint Überlegungen zu geben, auch auf friedlichem Wege durch Verhandlungen zu einem neuen Friedenszustand zu kommen. Dabei werden gewiß sehr viel patientia, Geduld, und benevolentia, Achtung der anderen, investiert werden müssen.

Aber Gespräche als solche bringen nicht sofort ein Ende der Gewalt. Um das Ende der Angriffe und Terrorakte der Aufständischen und damit das Ende der militärischen Gegenmaßnahmen der Regierung zu erreichen, bedarf es eines gegenseitigen Waffenstillstandes oder einer Waffenruhe, die aber auch Gespräche voraussetzen. Es reicht nicht, daß die militärischen Maßnahmen seitens der Regierung und der mit ihr verbündeten ISAF-Truppen einseitig in der Hoffnung eingestellt werden, daß die andere Seite sich entsprechend verhalten werde. Damit scheint derzeit nicht zu rechnen zu sein.

Ohne Zweifel aber besteht die Notwendigkeit und das friedensethische Gebot, alle Wege, Verbindungen, Beziehungen, offizielle wie inoffizielle, zu nutzen, um Gespräche, Verhandlungen in Gang zu setzen, alle friedlichen Mittel zu suchen und zu nutzen, im Lande wie außerhalb des Landes, und dazu auch die notwendige Geduld und Achtung gegenüber den Partnern einzusetzen. Eine Ablehnung oder auch nur Verschiebung solcher Versuche oder Ansätze widerspricht dem christlichen friedensethischen Ansatz, aber auch der praktischen Vernunft. Es bedarf also auch hier der Parallelaktion oder Doppelstrategie.
d. Eignung der militärischen Mittel?

Sind die militärischen Mittel überhaupt geeignet, um wirklich Frieden herzustellen? Das wird für Afghanistan vielfach bestritten. Man könne mit Waffen keinen Frieden schaffen, hat u.a. Bischöfin Käßmann gesagt. So allgemein stimmt dieser Satz wohl nicht. Mit militärischem Einsatz läßt sich Gewalt sehr wohl beenden und die erste grundlegende Stufe des Friedens herstellen. Aber selbst das ist nicht überall der Fall. Für Afghanistan wird zum einen geltend gemacht, daß die Folgen militärischer Schläge gegen die Aufständischen vor allem wegen ihrer Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung eher dazu geeignet seien, die ausländischen Mächte derart in Mißkredit zu bringen, daß diese nicht als Hilfe, sondern als Besatzer angesehen würden, gegen die der Krieg durch die Aufständischen verstärkt werden müsse. Das stärke also nur das Potential der Aufständischen. Das scheint aber weniger ein Problem militärischer Mittel in Afghanistan überhaupt zu sein, als vielmehr eine Frage der konkreten Anwendung solcher Mittel, also ihrer jeweiligen Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit.

Viel grundsätzlicher ist der zweite Einwand, daß die ausländischen, insbesondere die westlichen Truppen, ganz abgesehen von den genannten „Kollateralschäden“ wie in Kundus, prinzipiell in der islamischen Gesellschaft und ihren internen Auseinandersetzungen kein Ende der Gewalt herstellen können. Dagegen spricht nicht, daß einige Afghanen den Angriff in Kundus begrüßt haben – andere werden das ganz anders gesehen haben. Vielmehr spricht einiges dafür und es muß daher sorgfältig bedacht werden. Sollte es stimmen, dann ist das weitere Truppenengagement friedensethisch grundsätzlich zu überdenken, da durch die Unterstützung für die afghanische Regierung aus dem Westen das gesteckte Ziel Frieden nicht zu erreichen ist, ja ihn geradezu behindert.
e. Sind die „grausamen Übel“ zu groß – Verhältnismäßigkeit – ?

Es ist nicht zu leugnen, daß es bei den Aktionen der Regierungstruppen und der ISAF-Truppen immer wieder zu erheblichen Schädigungen und auch Tötungen und Verletzungen der Zivilbevölkerung kommt. Es war gerade der, bis dahin allerdings einmalige deutsche Fall in Kundus, der in Deutschland die grundsätzlichen Diskussionen um den Einsatz ausgelöst hat, weil er uns zeigte, daß dort kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden und nicht nur deutsche Soldaten fallen, sondern auch Zivilisten durch unsere militärischen Einsätze zu Tode kommen können. Andererseits überwiegen die Folgen der Angriffe und Terrorakte der Aufständischen auch hinsichtlich der Toten und Verletzten unschuldiger Zivilisten bei weitem. Sie scheinen angesichts der Art und Weise ihrer Ausführung auch mit dem Wunsch nach Grausamkeit geplant, um eben durch diese die Ziele zu erreichen. Gerade dies soll durch das Vorgehen gegen die Aufständischen zum Schutz der Bevölkerung abgestellt werden.

So kommt es darauf an, ob und inwieweit bestimmte Kriegshandlungen oder militärische Einsätze seitens der afghanischen Regierung und ihrer Verbündeten angemessen oder verhältnismäßig sind. Gültige ethische Antworten setzen eine genaue Kenntnis der Verhältnisse voraus. Dazu gehören vor allem auch die Kenntnis der Mittel, die beide Seiten in ihrem Kampf einsetzen oder einsetzen können. Gibt es ausschließende Antworten? Sind nur akute Verteidigungsmaßnahmen gegen konkrete Angriffe erlaubt, aber keine vorbeugenden, gar strukturellen militärischen Sicherungs- und Befriedungsmaßnahmen? Gibt es da Unterschiede zwischen der afghanischen Regierung und ihren Verbündeten? Muß vor allem die Tötung von Zivilisten völlig ausgeschlossen sein? Seitens der Regierung und ihrer Verbündeten aber auch seitens der Aufständischen? Gilt ein einseitiger Ausschluß nur für die erstgenannten, jedenfalls aber für die ausländischen Verbündeten? Dafür könnte sprechen, daß es nur um Hilfe für die Regierung, nicht um einen eigenen Krieg oder bewaffneten Konflikt geht. Andererseits sollen die verbündeten Truppen Sicherheit herstellen und gewährleisten. Da kommt die Partisanen-Taktik der Aufständischen ins Spiel, Zivilisten als Schutzschilde, als Deckungsmilieus zu benutzen, hinter oder in denen sie sich verbergen, von denen aus sie ihre Angriffe starten und in die sie sich dann wieder zurückziehen. Zivile Opfer werden daher nicht zu vermeiden sein, es sei denn, man verzichtet auf strategische oder strukturelle militärische Maßnahmen und reduziert sie auf reine Abwehrmaßnahmen in konkreten Fällen.
V. Was folgt?

a. Grundsätzlich ist die Beteiligung Deutschlands an der ISAF friedensethisch zu vertreten. Der Einsatz am zivilen Aufbau im weiten Sinne steht außer Zweifel. Die materielle Hilfe für andere Völker ist nicht nur ein Gebot moderner Solidarität unter den Völkern, sondern auch christlicher Ethik, die spätestens seit der Spätscholastik von der Einheit der einen Menschheit ausgeht. Sie ist völkerrechtlich anerkannt und, wenn auch bezüglich der Ausführung unter gewissen Bedingungen, sogar gefordert. Grundsätzlich sind die Staaten, die die Hilfe empfangen, dafür verantwortlich, daß die notwendige Sicherheit und Ruhe für die Helfer und den Erfolg der Hilfe gewährleistet ist. Ist die Lage in einem Staat nicht hinreichend sicher, unterbleibt die Hilfe oder wird auf die sicheren Regionen beschränkt. Eine militärische Unterstützung der legalen, verfassungsmäßigen Staatsmacht in den internen kriegerischen Auseinandersetzungen geht zwar über die normale Solidarität hinaus. Aber sie ist zulässig. Da sie jedoch bedeutet, daß die ISAF-Mächte Partei ergreifen in einem Konflikt, der sie eigentlich nicht, allenfalls mittelbar betrifft, könnte das friedensethisch zweifelhaft sein. Denn das bedeutet, daß die ISAF-Truppen unter Umständen töten müssen. Daher muß auch diese Form der Unterstützung als solche der necessitas entsprechen, also notwendig sein, um den Frieden in Afghanistan wiederherzustellen und zu sichern. Das ist generell der Fall. Denn ganz ohne Truppen geht es derzeit in Afghanistan nicht, um Frieden zu sichern, und die afghanischen Sicherheitskräfte reichen dafür nicht. Daher verstößt der ISAF-Einsatz und mit ihm der der deutschen Truppen m. E. nicht generell gegen die friedensethischen Kriterien, wie sie Augustinus vor 1600 Jahren entwickelt hat.

b. Aber es gibt doch konkrete friedensethische Forderungen und Anforderungen. Vor allem ist einiges genauer zu prüfen und in den Folgen zu bedenken. Erschwert der Westen durch seine militärische Unterstützung für die afghanische Regierung eher den innerislamischen Friedensprozeß, als daß er ihn voranbringt? Wie steht es mit den eigenen Motiven? Man wird nicht verlangen können, daß völlig uneigennützig Unterstützung gewährt wird. Aber es ist doch eine zentrale Frage, was hier im Vordergrund steht, die Solidarität mit Afghanistan und seinen Menschen bei der Wiedergewinnung einer friedlichen Lebensordnung für alle, oder die eigenen Interessen. Wird genug getan, um friedliche Parallelaktionen zu fördern? Sind die militärischen Notwendigkeiten wirklich immer hinreichend friedensethisch und nicht nur militärisch belegt? Werden den Gegnern Geduld und Achtung im hinreichenden Maße entgegengebracht? Vor allem an letzterem könnte es gegenüber den „fundamentalistischen Taliban“ u. U. mangeln. Hier scheint sich ein Wandel anzudeuten. Schließlich ist immer wieder sehr genau zu prüfen, welche Maßnahmen wirklich jeweils geeignet, notwendig und angemessen sind, um Frieden konkret in Afghanistan allgemein, aber auch in lokaler, regionaler Abgrenzung herzustellen.

c. Friedensethisch nicht zu vertreten sind jedoch zwei über die Sicherheit in Afghanistan hinausgehende Überlegungen. Seit mehreren Jahren wird von verschiedenen Seiten eine internationale „Responsibility to protect“ eingefordert. Damit soll die internationale Intervention im Falle von Menschenrechtsverletzungen einer Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung und zur „Wiederherstellung der Demokratie“ begründet werden. In äußersten Fällen wie Völkermord oder intensiven fortdauernden Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll sogar eine militärische humanitäre Intervention gerechtfertigt sein. Darauf berief man sich letzten Endes im Kosovo für den Einsatz der NATO und der EU-Truppen. In Ruanda und im Südsudan unterblieben derartige Eingriffe. Das zeigt bereits die Gefahren des Ansatzes, der sehr schnell ins politische Beliebige und Opportune abrutschen kann. Friedensethisch ist er abzulehnen. Denn zwar kann man Gewalt mit Waffen stoppen, nicht aber eine friedliche innere Ordnung der Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie durch Waffen errichten. Das zeigt sich in einem gewissen Grade gerade auch in Afghanistan. Auch bei Wiederkehr der Taliban ist zwar ein Regime zu erwarten, das nicht unseren Menschenrechtsstandards und unseren Demokratiepostulaten entspricht; aber derart massive tiefgreifende Vorgänge wie Völkermord oder ethnische Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nicht zu befürchten.

d. Zum anderen werden Präventivgründe geltend gemacht. Wenn die Taliban zurückkehren würden, würde Al Quida dort wieder einen „sicheren Hafen“ finden und eine Basis für erneute internationale Terrorakte gewinnen. Das müsse vorbeugend verhindert werden. Erstens ist Al Quida inzwischen in anderen Ländern untergekommen. Zweitens ist fraglich, ob die Neotaliban diesen „Fehler“ der ersten Taliban nach den Erfahrungen wieder begehen würden. Zum dritten sind militärisch-kriegerische Präventivmaßnahmen schon nach geltendem Völkerrecht nicht zulässig, zumindest sehr kritisch zu betrachten. Schon deswegen sind sie auch friedensethisch nicht akzeptabel. Zudem aber darf „auf Verdacht“ hin kein Krieg geführt werden. Denn dieser erfüllt schon per se nicht die Bedingung der necessitas.

Es genügt nicht, daß nach Auffassung des Weltsicherheitsrates durch die Situation in Afghanistan der Weltfrieden ganz allgemein bedroht ist oder bedroht sein könnte, weil es dort diesen noch fortdauernden Bürgerkrieg gibt. Denn der Sicherheitsrat nennt keine konkreten Gefährdungen, geschweige denn friedensbrechende Gewaltakte aus Afghanistan gegen die Staaten oder die Staatengemeinschaft. Die formelhafte Berufung ist das tragende Argument für sein Einschreiten und vor allem, wie die beschlossenen Maßnahmen zeigen, für die Legalisierung der Unterstützung Afghanistans durch die ISAF-Mächte. Daraus folgt für diese oder die Weltgemeinschaft insgesamt auch nach Auffassung des Sicherheitsrates kein eigenes Kriegsrecht gegen die Taliban. Vielmehr weist der Sicherheitsrat die Verantwortung für Sicherheit und Frieden im Lande allein der afghanischen Regierung zu. Die ISAF-Mächte haben dabei Unterstützung zu leisten. Nur im Hinblick auf diese unterstützende, helfende Funktion ist die Teilnahme der ISAF-Mächte einschließlich Deutschlands friedensethisch zu prüfen.
VI. Abzug

Da der Einsatz in einer bestimmten Weise friedensethisch vertretbar ist, ist ein sofortiger Truppenanbzug friedensethisch nicht geboten. Aber auch wenn man in der friedensethischen Bewertung des Afghanistan-Einsatzes zu einem anderen Schluß kommt, müssen bezüglich des Truppenabzuges wiederum ethische Momente bedacht werden.

Ein Abzug ohne Waffenstillstand würde zunächst bedeuten, die noch schwache afghanische Regierung im Kampf mit den Aufständischen sich selbst zu überlassen. Es steht zu vermuten, daß dann der Frieden weder in Bezug auf Sicherheit noch in Bezug auf seine inhaltlichen Ziele erreicht werden könnte, bereits gewonnene Befriedungen und Aufbauleistungen etc. wieder verloren gingen. Ist das mit den Verabredungen und Verpflichtungen gegenüber Afghanistan vereinbar? Die ISAF-Mächte sind spätestens seit der Petersberg-Konferenz in der vereinbarten Pflicht, dem Land und den Menschen beizustehen und den inneren Wiederaufbau mit den genannten Zielen zu fördern. Da die Umstände, wie dargelegt, die militärische Hilfe als Sicherung dieser Grundaufgabe in einem gewissen Maße erfordern können, ist ein Abzug vor dem Ziel friedensethisch nicht verantwortbar.

Für Deutschland allein gilt zudem, daß wir gegenüber der Weltgemeinschaft und insbesondere den anderen ISAF-Mächten Mitverantwortung übernommen und uns zu entsprechender Mitwirkung verpflichtet haben. Darauf verlassen sich die anderen Mächte. Ihr eigenes Engagement nimmt diese deutsche Mitwirkung als konstitutive Voraussetzung für sich auf. Für uns gilt in bezug auf sie das Gleiche. Diese wechselseitige Verläßlichkeit und Angewiesenheit bedeuten Bündnis und „Freundschaft“. Würden wir abziehen, fiele ihnen eine größere Last zu. Immerhin stellen wir das drittgrößte Kontingent und tragen Verantwortung für den ganzen Norden. Wir würden unsere Haut und unsere Gesinnung auf Kosten anderer retten.
VII. Die Tugend der Handelnden

Diese friedensethischen Überlegungen zum Afghanistan-Konflikt wurden aus der von Augustinus begründeten christliche Perspektive entwickelt. Aber es wurde auch immer wieder darauf hingewiesen, daß eine säkulare Friedensethik der praktischen Vernunft nicht zu anderen Schlüssen kommen würde. Jedoch unterscheiden sich beide in ihren Ansätzen. Geduld mit und Achtung gegenüber dem Gegner sind personale Tugenden des Handelns, nicht Prinzipien oder Leitsätze. Auch Gerechtigkeit ist als personale Tugend begriffen und nicht als objektives Ordnungsprinzip. Sie nehmen den Handelnden als Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen in den Blick. So wird deutlich, daß es auf beiden Seiten um die Menschen geht, ihr Leiden, ihr Wohlergehen, ihren Tod, ihren Frieden untereinander. Deswegen ist die letzte Antwort, ob ein Krieg oder eine kriegerische Maßnahme notwendig ist, eine höchst personale Gewissensfrage, die den Handelnden, zwar in ihrem jeweiligen Amt, aber nicht nur als Politiker, als Militärbefehlshaber etc., sondern letztlich als Menschen in die Verantwortung nimmt. In einer Welt ausdifferenzierter Systeme und Rollen mag das nicht mehr funktionsadäquat erscheinen. Aber mir scheint, daß die Debatte um den Afghanistan-Konflikt genau diese personale Dimension der Verantwortlichen zum Kern hat. Aber da wir uns davor fürchten, flüchten wir in politische Scheingefechte über „Krieg“ oder „Stabilisierungseinsatz“, „wer wußte was wann“, welche Befehlsstränge wurden eingehalten oder welche nicht, etc. Krieg oder kriegerische Konflikte sind mehr als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie sind existentielle Herausforderungen. Die Besinnung auf menschliche Tugend könnte hilfreicher sein, sie zu bestehen, als allein der Verweis auf ethische Prinzipien.

Heinhard Steiger