Dieser Artikel erscheint im Augustinus-Lexikon in dessen 5. Band, Faszikel 1/2 (2019) auf den Spalten 38-41.
1. Begriffsgeschichte – 2. S. bei A.
1. Begriffsgeschichte. – Das Adjektiv s. (‹heilig›, ‹fromm›) gehört zu dem Substantiv ‹sanctimonia› (‹Heiligkeit›/‹Ehrwürdigkeit›; ‹gottgefälliger Wandel›, ‹tugendhafte Gesinnung›) [1] und ist über ↗‹sanctus› von ‹sancire› abgeleitet [2]. S. scheint erst ab dem 4. Jh. (vor allem in Nordafrika) aufzutauchen und dann mit A. populärer zu werden. In substantivischer Verwendung wird s. sowohl allgemein zur Bezeichnung heiligmäßig Lebender gebraucht, oft im Plural ‹sanctimoniales› [3], als auch speziell als autonome lateinische Ableitung von ‹sanctimonia› anstelle einer Lehnprägung nach dem griechischen μοναχή [4] (↗Monachus) in der Bedeutung ‹Nonne› [5]; die Kurzform ‹monialis› erscheint dagegen erst ab dem 7. Jh. [6].
Als ältester Beleg für s. findet sich die wohl in Nordafrika Anfang des 4. Jh.s entstandene anonyme Sammlung Prophetiae ex omnibus libris collectae (CPL 84) [7]. Canon 3 von Conc. Carth. a. 345-348 wendet sich an «clerici uel sanctimoniales feminae», die also bereits einen eigenen Stand bilden (CCL 149, p. 5,60) [8]. Inschriftlich ist s. gleichfalls ab dem 4. Jh. zur Bezeichnung eines entsprechenden Standes bezeugt [9]. Auch in den wohl von Gennadius von Marseille Ende des 5. Jh.s zusammengestellten Statuta ecclesiae antiqua werden s. thematisiert [10]. Es fällt auf, daß s. weder von Ambrosius noch von Hieronymus, nicht einmal in ihren Schriften zum asketischen Leben, verwendet wird.
Anmerkungen
[1] Cic. Rab. perd. 30; Tac. ann. 3,69,6 (cf. Bätz 159-161); cf. Gribomont 704. – [2] Cf. Ernout/Meillet 587; Leclercq 747. – [3] Cf. das Referat A.s zu den Jovinianisten in haer. 82. – [4] Dekkers 94: «terme autochtone». – [5] Das Synonym ‹nonna› ist erstmals bei Hier. epist. 22,16 belegt; cf. Sainio 68sq. – [6] Ps.-Ildefons von Toledo, Continuatio chronicorum Isidori Hispalensis, æra 674 (PL 96,319B): «(sc. Isidorus) doctor et sustentator monachorum ac monialium». – Das vermeintliche «monialium» bei A. ep. 23,3 (CSEL 34,1, p. 66,20sq.) basiert auf mißverständlicher Worttrennung von «sancti» beim Zeilenwechsel (cf. CCL 31, p. 63,74). – [7] Über Töchter des Philippus: «‹uirgines prophetantes› (Act 21,9), id est sanctimoniales» (PLS 1,179). – [8] Angesprochen sind Zölibatäre beiderlei Geschlechts: «nullus igitur et nulla sanctimoniae et uirginitati deseruiens» (ib., p. 5,69sq.). Cf. auch Euseb. Verc. epist. 2,8,1: «puellas sanctimoniales». – [9] Z.B. ILCV 1684; cf. (mit weiteren Inschriften) Leclercq 748-750. – [10] Ib. c. 99 (CCL 148, p. 184,265): «sanctimonialis uirgo»; ib. c. 100 (ib., p. 184,268): «uiduae uel sanctimoniales». Dieser Text galt in der Überlieferung als Canones eines angeblichen 4. Konzils von Karthago; cf. Munier.
2. S. bei A. – A. ist der erste Autor, der s. häufiger gebraucht (insgesamt 36mal, davon 12mal in Briefen [11]), sowohl adjektivisch als auch substantivisch, z.B. anstelle des synonymen, aber von ihm sehr selten (nur in haer. 47 und ep. 262,9) verwendeten griechischstämmigen Lehnwortes ‹monacha› [12]. Er leitet s. ausdrücklich von ‹sanctitas› ab: «de sanctitate, qua sanctimoniales proprie dicimini» (De ↗sancta uirginitate 57) [13]. A. verwendet s. mehrfach in Verbindung mit ‹uirgo› [14], häufiger ist aber bei ihm der substantivische Gebrauch.
Die s. erscheinen bei A. in unterschiedlichen Zusammenhängen. Gegen die Manichäer führt er aus, daß, nur weil auch die heidnischen Vestalinnen jungfräulich lebten, die Jungfräulichkeit der s. nicht zu verachten sei (c. Faust. 20,21). In ciu. 1,16 argumentiert A. gegen den heidnischen Vorwurf, die Christen verehrten einen machtlosen Gott, da er sogar die Vergewaltigung von s. zulasse.
Für die auch bei Häretikern anzutreffenden s. verwendet A. häufig Einschränkungen wie ‹quasi› (haer. 46,9) oder Possessivpronomina (‹uestrae›, ‹suae›) [15] bis hin zum Oxymoron «haereticae sanctimoniales» (en. Ps. 44,31), da diesen ihre außerkirchliche Jungfräulichkeit nichts nutze. Bei den Donatisten gebe es z.B. nicht nur wiedergetaufte s. [16], sondern sogar Scharen von betrunkenen s., die sich zusammen mit Scharen gleichfalls betrunkener Circumcellionen Tag und Nacht herumtrieben (c. ep. Parm. 2,19) [17]. Schwanger gewordene donatistische s. hätten sich selbst durch Sturz von Felsen gerichtet (c. Gaud. 1,46). Auch bei den Manichäern finde man angebliche s. (c. litt. Pet. 3,20; haer. 46,9).
Freilich konzediert A., daß es auch schlechte s. in der ‹catholica› gebe: Wie in allen Bereichen der Kirche, finde sich auch unter den s. Teuflisches [18]. Solche ‹s. indisciplinatae› mit ihren Lastern nähmen jedoch dieser Lebensform nicht grundsätzlich die Reputation [19]. Probleme traten auch immer wieder wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Verhältnisse zwischen s. und Klerikern bzw. Mönchen auf (z.B. ep. 13*,2; 20*,5). Daneben berichtet A mehrfach von s., die zwecks Heirat entführt oder schlicht vergewaltigt wurden (ib. 9*,1; 15*,3).
Die Kontroverse um ↗Iouinianus und dessen Argumentation für eine Gleichrangigkeit von Ehe und Jungfrauenstand hatte allerdings wohl etliche s. zur Heirat verleitet [20], wogegen A. ausführt, daß, wer ein Gelübde bricht [21], im Jenseits verurteilt werde: Denn wenn eine s. heirate, begehe sie Ehebruch an Christus (en. Ps. 83,4; s. 148,2). Entsprechend sollten sich s. nicht wie Verheiratete kleiden, weil das zu Unordnung führe (c. Faust. 6,9). Den eigenen Stand der s. innerhalb der Kirche [22] zeigt auch die Erinnerung an verstorbene s. im Hochgebet [23].
Bei A. finden sich rund um s. einige Wunderberichte: So verließ ein Dämon einen Besessenen, als eine Gruppe von s. singend und betend eine ‹memoria› für Protasius und Gervasius in der Nähe Hippos betrat (ciu. 22,8); eine bereits tote s. wurde wieder lebendig, als sie mit ihrem Gewand bedeckt wurde, das zuvor eine Stephanus-Reliquie berührt hatte (ib.); eine von Barbaren entführte s. wurde freigelassen, nachdem sie erfolgreich für deren Heilung von einer schlimmen Krankheit gebetet hatte (ep. 111,7).
Anmerkungen
[11] Cf. Sepulcre 818sq. – [12] Andere Bezeichnungen für Asketinnen bei A. sind ‹uirgines Christi› (s. 355,3), ‹uirgines dei› (uera rel. 78) oder ‹castimoniales› (en. Ps. 75,16); ‹nonna› ist bei A. nicht belegt. Cf. Soennecken 93 und Grote 44sq.; ↗Virginitas, uirgo. – [13] Cf. s. 93,1: «quae propria et excellentiori sanctitate uirgines in ecclesia nominantur, quas etiam usitatiore uocabulo sanctimoniales appellare consueuimus»; cf. Gribomont 704. – [14] Z.B. mor. 2,72: «uirginem sanctimonialem»; cf. s. 148,2; 213,8; ep. 20*,21: «feminarum ... sanctimonialium». – [15] C. Gaud. 1,46; c. ep. Parm. 2,19. – [16] Teilweise wurden sie allerdings zuvor entführt (ep. 35,2-4). – [17] Unklar ist, ob sich «sanctimonialium occursantium atque cantantium greges» (ep. 23,3) auf Donatisten oder Katholiken bezieht. – [18] S. Caillau 2,5,3: «... aut seminauit (sc. inimicus zizania) inter coniugatas, et non seminauit inter sanctimoniales?». – [19] En. Ps. 99,13: «inuenis sanctimoniales indisciplinatas; numquid ideo sanctimonium reprehendendum est? multae non stant in domibus suis, circumeunt domos alienas, curiose agentes, loquentes quae non oportet, superbae, linguatae, ebriosae: etsi uirgines sunt, quid prodest integra caro, mente corrupta? melius est humile coniugium, quam superba uirginitas. ... sed numquid propter uirgines malas, damnaturi sumus sanctas et corpore et spiritu? aut propter istas laudabiles, etiam illas improbandas laudare cogemur?»; cf. ep. 78,6. – [20] Pecc. mer. 3,13; haer. 82; retr. 2,22,1 zu b. coniug. – [21] Es muß jedoch ein ernsthaftes Gelübde sein, wie A. in ep. 254 im Falle der Behauptung einer wohl nur heiratsunwilligen jungen Frau erläutert. – [22] In exc. urb. 2 differenziert A. zwischen s. und ‹serui/ancillae dei›, wohl im Sinne von häuslicher Askese der s. einerseits und Asketengemeinschaften andererseits, was er in seinem sonstigen Œuvre kaum klar terminologisch trennt; cf. Zumkeller, Gebrauch 442sq. – [23] Virg. 46; cf. Klöckener 196-199 zur ‹commemoratio defunctorum›.
Bibliographie
M. Agterberg, L’«Ecclesia-Virgo» et les «Sanctimoniales» d’après saint Augustin: Aug(L) 10 (1960) 5-35. – A. Bätz, Sacrae virgines. Studien zum religiösen und gesellschaftlichen Status der Vestalinnen, Paderborn 2012. – E. Dekkers, ΜΟΝΑΧΟΣ: solitaire, unanime, recueilli: Fructus centesimus. Mélanges offerts à G.J.M. Bartelink à l’occasion de son soixante-cinquième anniversaire, Steenbrugis/Dordrecht 1989, 91-104. – J. Gribomont, Sanctimoniales I. Questioni di vocabolario 2. Il termine s. nel primo millenio: DIP 10 (2003) 704sq. – A.E.J. Grote, Monachus: AL 4 (2012-2018) 43-57. – M. Klöckener, Die recitatio nominum im Hochgebet nach Augustins Schriften: Gratias agamus. Studien zum eucharistischen Hochgebet. Für B. Fischer, Freiburg/Basel/Wien 1992, 183-210. – H. Leclercq, Sanctimonialis: DACL 15,1 (1950) 747-750. – C. Munier, Les Statuta ecclesiae antiqua. Edition – Etudes critiques, Paris 1960. – M.A. Sainio, Semasiologische Untersuchungen über die Entstehung der christlichen Latinität, Helsinki 1940. – J. Sepulcre, Léxico monástico en las cartas de San Agustín: RAg 34 (1993) 799-829. – S. Soennecken, Misogynie oder Philogynie? Philologisch-theologische Untersuchungen zum Wortfeld Frau bei Augustinus, Frankfurt a.M. 1993. – A. Zumkeller, Der Gebrauch der Termini famulus dei, servus dei, famula dei und ancilla dei bei Augustinus: EVLOGIA. Mélanges offerts à A.A.R. Bastiaensen, Steenbrugis/The Hague 1991, 437-445. – Id., Das Mönchtum des heiligen Augustinus. 3., bearbeitete und mit einem Nachwort von A.E.J. Grote versehene Auflage, Würzburg 32018.
ANDREAS E.J. GROTE
Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz
im Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg und
Leiter der Redaktion des Augustinus-Lexikons
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