ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Augustinus - Vater der abendländischen Theologie (4 = Schluss)
Der Fall von Rom und der Gottesstaat

Von Rüdiger Achenbach

"Meine Stimme stockt und mein Schluchzen unterbricht die Worte, die ich schreibe: Die Stadt ist bezwungen, die den Erdkreis bezwang."

Als Kirchenvater Hieronymus als Einsiedler in der Nähe von Bethlehem diese Zeilen schrieb, war das gesamte römische Reich in Panik geraten.

Etwas Unglaubliches war geschehen, die Barbaren hatten Rom erobert.

Auch nach der Gründung Konstantinopels war Rom immer noch das Sinnbild des Imperiums.

Und nun hatte der Gotenführer Alarich mit seinen Truppen die Stadtmauer gestürmt und war in die ewige Stadt eingefallen. Es war zu Plünderungen, Brandschatzungen, Mord und Totschlag gekommen. Dazu der Kirchenhistoriker Carlo Cremona:

"Der 24. August 410 hatte für die damalige Zeit eine ähnliche Bedeutung wie für unsere Zeit der Tag, an dem die erste Atombombe über Hiroshima explodierte. Denn an jenem historischen Tag fiel Rom."

Allerdings war Alarich mit seinem Heer bereits am 27. August, also schon nach drei Tagen, wieder in Richtung Süditalien abgezogen, um von dort aus die reiche Provinz Nordafrika zu besetzen. Unterwegs wurde er dann plötzlich krank und starb. Seine Männer begruben ihn in der Nähe der Stadt Cosenza an einem geheimen Ort im Fluss Busento.

Auch wenn die Gefahr durch Alarich gebannt war, hatte der Gotenführen dennoch einen Mythos zerstört. Denn seit der Zeit des Kaisers Augustus war Rom die ewige Stadt. Und als religiöses und politisches Zentrum des Reiches galt Rom als unbesiegbar. Inzwischen war die offizielle Politik im Römischen Reich zwar zum Christentum übergegangen, aber die Christen hatten die alte Rom-Idee auch für sich übernommen. Schließlich war für sie Rom die Stadt mit den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus. Rom war also auch das religiöses Zentrum der Christenheit und damit auch des Römischen Reiches. Deshalb stellten Kirchenvater Hieronymus und viele seiner Zeitgenossen nun die Frage:

"Wenn Rom untergehen kann, was mag dann überhaupt noch in dieser Welt Bestand haben?"

Christen wie Hieronymus gerieten jetzt tatsächlich in Erklärungszwang, denn er gehörte wie viele andere Theologen seiner Zeit zu den Verfechtern einer christlichen Reichstheologie. Rom wurde dabei als ein Werkzeug im göttlichen Heilsplan verstanden. Denn in Rom hatte das Friedensreich des Augustus, die vielgerühmte Pax Romana, ihren Anfang genommen und schließlich die Voraussetzung für das Kommen Christi geschaffen. Die Reichtheologen waren felsenfest davon überzeugt, dass nach dem Plan des christlichen Gottes mit dem heidnischen Kaiser Augustus bereits begonnen hatte, was dann mit Kaiser Theodosius Realität geworden war: eine christliche Staatskirche für das Römische Reich.

Und wie eng inzwischen das Römische Reich und das Christentum zusammengehörten, zeigte auch die Tatsache, dass die Organisation der Kirche den staatlichen Verwaltungsstrukturen angepasst worden war. Die staatlichen Diözesen, also die Verwaltungssprengel, wurden auch zu Verwaltungseinheiten der Kirche.

Für die christlichen Reichstheologen waren das Römische Reich und das Christentum also sozusagen zwei Seiten einer Medaille. Von hier aus wird auch die Beunruhigung verständlich, die nach dem Fall von Rom auf christlicher Seite aufkam. Denn konsequent gedacht, musste der Sturz Roms auch den Untergang des Römischen Reiches und zwangsläufig auch das Ende der Reichskirche mit sich bringen.

Viele Römer befürchteten aber nach dem Überfall auf ihre Stadt weiteres Unheil.

Zahlreiche Flüchtlinge suchten deshalb vor allem Zuflucht in der römischen Provinz Nordafrika. Und zahlreiche Römer kamen in die damals bedeutende nordafrikanische Hafenstadt Hippo Regius, in der Augustinus zu diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Jahren als Bischof tätig war. Überrascht über die panische Stimmung, die sich breit machte, schrieb er damals an eine Römerin mit dem Namen Italica einen Brief, in dem er sich nach Einzelheiten über den Überfall auf Rom erkundigte.

"Bisher habe ich noch keine genauen Informationen über die Zerstörung Roms erhalten, mir wurden zwar bedauerliche Dinge berichtet, die aber doch weniger beunruhigend sind."

Und in der Tat: Das, was Augustinus in Erfahrung bringen konnte, löste bei ihm nur Unverständnis aus. Denn für Christen, die aus geschichtlichtlichen Ereignissen erkennen wollten, wo und wann die göttliche Vorsehung am Werk war, hatte er kein Verständnis. Für Augustinus war es immer ein fundamentaler Fehler gewesen, dass die christlichen Reichstheologen das Christentum und das Römische Reich wie zwei siamesische Zwillinge auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden hatten.

Und als Hieronymus und andere jetzt klagten, dass die Welt ihrem Ende zugehe, ergriff Augustinus öffentlich das Wort:

"Schaut her, sagen sie, Rom fällt, und es fällt auch das Christentum.
Aber bei der christlichen Religion geht es doch nicht um den Zustand einer Stadt.
Es geht dabei doch nicht um Steine und Holz oder schöne Gebäude und Mauern.
Das, was der Mensch baut, zerstört er auch. Das ist nichts Neues."

Für Augustinus ist die sichtbare Welt selbstverständlich einem ständigem Wandel unterworfen. Und als ihm ein Bischof entgegen hielt, dass schließlich auch Priester von den Barbaren getötet worden seien, wies Augustinus ihn in einem Brief zurecht:

"Du sagst, dass gute und treue Gottesdiener durch das Schwert der Barbaren umgekommen sind. Was aber, frage ich dich, macht das für ein Unterschied, ob ein Fieber oder ein Schwert sie vom Leben geschieden hat? Gott sieht nicht darauf, bei welcher Gelegenheit, sondern in welchem Zustand seine Diener aus dem Leben scheiden."

Dass Augustinus mit solchen Bemerkungen auf schroffe Ablehnung bei den meisten Theologen seiner Zeit stieß, war kaum verwunderlich. Denn er kratzte offensichtlich an der christlichen Glorifizierung Roms. Kirchenvater Hieronymus war aufgebracht:

"Das hellste Licht unter den Ländern ist ausgelöscht. Ja das Haupt des Römischen Reiches ist abgeschlagen. In dieser Stadt ging der ganze Erdkreis unter."

Augustinus fühlte sich deshalb herausgefordert und startete nun zu einem Großangriff gegen die Reichstheologen.

"Was Gott verheißt, liegt jenseits von allem irdischen Erfolg oder Misserfolg."

Für Augustinus ist es unmöglich, in irgendwelchen weltgeschichtlichen Ereignissen dem Heilsplan Gottes nachzuspüren. Er kennt nur ein Ziel, die von Gott verheißene Erlösung am Ende der Zeit. Bis dahin aber wird die innere Dynamik seines theologischen Geschichtsbildes durch zwei staatsähnliche Gebilde bestimmt.

Das eine Reich, die civitas caelestis, ist Gott und dem Himmel zugeordnet, es steht, vereinfacht ausgedrückt, für das Prinzip des Guten, nach dem der Mensch streben soll. Das andere Reich, die civitas terrena, ist dem irdischen Staat zugehörig, in dem das Prinzip des Bösen anzutreffen ist, das den Menschen von Gott entfremdet.

Diese beiden Reiche sind für ihn allerdings nicht durch eine Demarkationslinie getrennt, sondern wenn Augustinus von den beiden Reichen spricht, dann geht es ihm um zwei Idealbilder. Die beiden Reiche sind in ihrer wirklichen Form, als wahre Kirche und wahres irdisches Reich, mit keiner geschichtlichen und soziologischen Gemeinschaft identisch, sondern sie bleiben bis zum Ende der Geschichte unsichtbar. Die Grenze der beiden Reiche geht vielmehr quer durch alle weltlichen Gemeinschaften. Diese undurchschaubare Vielschichtigkeit bestimmt für Augustinus auch die Realität im Verhältnis von Kirche und Staat. Der Historiker Klaus Rosen:

"Mit der entscheidenden Abwendung von der ganzen römischen Geschichte tritt Augustinus aus der Antike heraus und hilft nun, das Staatsdenken des Mittelalters vorzubereiten."

Wobei allerdings im Mittelalter nicht beachtet wurde, dass Augustinus von zwei Idealbildern gesprochen hatte, die bis zum Ende der Zeit unsichtbar bleiben.

Man übertrug die beiden Reiche in die Realität und sah das himmlische Reich durch die Papstkirche und das irdische Reich durch das Kaisertum repräsentiert.

Dieser sogenannte politische Augustinismus tat dann genau das, was Augustinus strikt abgelehnt hatte, nämlich die beiden Idealbilder gegeneinander abzugrenzen. Augustinus hatte die Wirklichkeit viel nüchterner gesehen. Für ihn konnte die sichtbare Kirche keineswegs nur für das Gute stehen und der irdische Staat nicht nur für das Böse, denn in beiden gibt es sowohl Ungerechtigkeit wie Gerechtigkeit. In der sichtbaren Welt ist keine Unterscheidung möglich.

"Der Geschichtsablauf ist wie das Meer – ruhelos, gepeitscht, haltlos zerfließend und bitter."

Augustinus sieht die endgültige Scheidung der zwei Reiche erst in der Endzeit beim Weltgericht. Doch theologische Spekulationen über irgendwelche Zeichen des Weltendes hat er stets abgelehnt.

"Großmächte steigen auf und gehen unter in der Weltgeschichte und keiner kann behaupten, einen klar erkennbaren Grund dafür angeben zu können. Wir durchschauen die Gesamtordnung nicht."

Eine Christianisierung des römischen Reiches und überhaupt eine christliche Politik liegt nicht in der Absicht des Augustinus. Christoph Horn, Professor für Klassische Philosophie:

"Mehr noch, überhaupt keine sichtbare Institution, nicht einmal die Kirche, ist nach Augustinus einfach als Verkörperung einer moralischen Ausrichtung und der religiösen Integrität zu verstehen."

Augustinus’ Schrift „De civitate Dei“ – oft als „Der Gottesstaat“ übersetzt – ist zu einem Schlüsselwerk der abendländischen Staats- und Geschichtsphilosophie geworden. Auch wenn die Intention des Bischofs von Hippo eine andere war.

Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch: "Augustinus hat nicht einmal den Versuch gemacht, sein Geschichtskonzept immanent philosophisch durchzuführen. Augustinus' Gottesstaat ist keine Geschichtsphilosophie, sondern eine dogmatische Auslegung des christlichen Glaubens im Bereich der Weltgeschichte."

Am 28. August 430 ist Augustinus dann im Alter von 76 Jahren in Hippo Regius gestorben. Während dieser Zeit wurde die Stadt bereits durch die Vandalen belagert. Er hat nicht mehr erlebt, dass die gesamte Provinz von den fremden Eindringlingen der Völkerwanderung verwüstet wurde und die katholische Kirche in Nordafrika unterging.

Auch wenn von der nordafrikanischen Kirche nur Ruinen übriggeblieben sind, ist der Ruhm des Bischofs von Hippo Regius in zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte niemals verblasst. Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Augustinus ist der einzige Kirchenvater, der bis auf diesen Tag eine geistige Macht geblieben ist. Er lockt Ungläubige und Christen, Philosophen und Theologen ohne Unterschied der Richtung und der Konfession zur Beschäftigung mit seinen Schriften."

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© DLF - Gesendet: 04.01.2008

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